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Donnerstag, 4. Juli 2019

Anubhav Sinhas ARTICLE 15 – Der Sumpf der Ausbeutung

Der Regisseur von ARTICLE 15 (2019) ist Anubhav Sinha, aber viele schreiben den Film gerne dem Hauptdarsteller zu, sodass von „Ayushmann Khurranas ARTICLE 15“ die Rede. Und natürlich ist er, wie ja eigentlich immer, perfekt, diesmal als sehr ruhiger, zwischendurch zweifelnder, aber im Endeffekt unerschütterlicher Polizeioffizier, der in die tiefste Provinz von Uttar Pradesh abkommandiert wird und gleich auf einen Mordfall stößt, den man schnellstens vertuschen will und daher gleich für zwei unschuldige Täter sorgt. Dabei ist es natürlich nicht irgendeine schauspielerische Leistung alleine, denn so was reicht nicht aus für einen Film. Es liegt daran, dass alles sehr schön aufeinander abgestimmt ist. Es gibt eine Einheit aus Hauptfigur, Handlung und Atmosphäre.

ARTICLE 15 ist ein ruhiger Film, der, und das ist das Interessanteste, ganz und gar auf die üblichen Spannungsmomente verzichtet, sodass die Erwartungen, die man als Zuschauer so standardmäßig hat, direkt unterlaufen werden, ohne dass es frustriert. Es ist mir auch erst hinterher aufgefallen. So wird beispielsweise immer wieder betont, wie gefährlich die Ermittlungen wären, aber der Held ist nicht ein einziges Mal wirklich in Lebensgefahr. Es gibt zwar einen Brandanschlag auf einen Polizeiwagen, aber der war nur eine kalkulierte Warnung, bei der niemand zu Schaden kommen sollte. Es fehlt sogar der charismatische Bösewicht. Das Böse ist hier ganz alltäglich. Dadurch kann man es als Zuschauer schwerer von sich selbst wegschieben.

Das Böse scheint eher in der ganzen Umgebung zu herrschen. Und da macht der Film Anleihen beim amerikanischen Thriller des US-Südens, Southern Gothic genannt. Die erste Staffel von TRUE DETECTIVE (2014) dürfte das bekannteste Beispiel der letzten Jahre sein. Man könnte auch an die ländlichen Thriller aus Korea, wie Bon Joon-hos MEMORIES OF MURDER (2003), denken, wo nichts furchteinflößender wirkt als die weiten, im Sonnenlicht strahlenden Getreidefelder. Das alles ist immer auch ein bisschen metaphorisch. Das Grauen unter der schönen Oberfläche. Oder der Sumpf des Verbrechens, der menschlichen Abgründe, als hätte Gott dies alles bedeutungsvoll in die Landschaft hinein skulptiert. 

Da ist die düster-schöne Atmosphäre aus gelb-blau-grünlichem Halbdunkel, wo alles zur Silhouette wird und darüber hängt im Gegenlicht der Nebel. Im Gegenlicht hängen auch die beiden Kinder, die irgend jemand nach mehrmaliger Vergewaltigung öffentlich zur Schau gestellt hat. Da ist der große, weite Sumpf, durch den die Suchtrupps auf der Suche nach einem dritten Kind waten müssen, um auf eine Insel zu gelangen. Überall scheint eine geheimnisvolle Bedrohung zu lauern. Und vor allem ist da der einsame Ermittler mit dem besonderen Einfühlungsvermögen, der telepathisch zu sehen, zu spüren scheint, was an einem Tatort, oder einem vermeintlichen Tatort, geschehen ist.

Aber in dieser sehr internationalen Ästhetik und Dramaturgie existieren sehr indische Probleme. Das allererste Bild zeigt zwei schreiende, verängstigte Mädchen in einem Bus. Die Opfer sind zwei Dalit-Mädchen und bei der Tätersuche kommt man immer näher an einen einflussreichen Mann, einen ausbeuterischen Unternehmer, denn in ARTICLE 15 wirkt es, als seien die religiösen Vorurteile, die man gegenüber Unberührbaren hat, heutzutage nur noch ein Vorwand sind, um eine ökonomische Ausbeutung fortzusetzen, um eine Klasse an Menschen zu haben, die sehr billig sehr dreckige und sehr gesundheitsschädliche Arbeit ausführen. In einer Szene sieht man einen Arbeiter einen Straßenabfluss reinigen. Ohne jeden Körperschutz taucht er hinab in die kackbraune Brühe. 

Aber durch einen Streik sind sie andererseits in der Lage, das gesamte zivile Leben lahmzulegen. Vereinigt sind sie stark. Das ist eine theoretische Macht, die für die Herrschenden unangenehm werden kann. Also kommen Brahmanen-Politiker und verbrüdern sich, essen gemeinsam, um die Wählerstimmen abzugraben und die Situation zu befrieden. Und natürlich tut der Film nicht so, als hätte sich gar nichts geändert in den letzten Jahrzehnten. Und es gibt ja auch Artikel 15 in der indischen Verfassung, der das „Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Religion, der Rasse, der Kaste, des Geschlechts oder des Geburtsorts“ festlegt. Aber es ist eben nicht so, als gäbe es das Problem nicht mehr, wie manche gerne glauben machen wollen.

Ganz nebenbei hat der Film einige wirklich komische Szenen, ohne dass es angesichts des Themas unpassend wirkt. Der beste Moment ist aus dem Leben gegriffen: Ganz gegen das Gesetz befragt einmal der Befehlshabende seine Untergebenen nach ihrer Kaste und wer dann über oder wer unter wem steht. Das ist eine absurd-komisch Rangordnungs-Gleichung, die da aufkommt. So tritt das ganze Gewirr eines komplizierten, kaum durchschaubaren Hierarchiegeflechts zutage, dass durch diese alltägliche Diskussion seine Absurdität offenbart. Ein System, was ursprünglich jedem einen zu ihm passenden Platz in der Gesellschaft gab, und nicht auf Geburt beruhte. Um Paramahansa Yogananda zu zitieren: „Das Kastensystem bedeutete ursprünglich keinen erblichen Stand, sondern eine Einstufung gemäß den natürlichen Fähigkeiten des Menschen.“ Irgendwann wurde es zu einem starren, vererblichen Herrschaftssystem. Aber diese erwähnte Szene ist ein gutes Beispiel dafür, wie die Kasten-Thematik in den Film integriert wird, ohne dass es öde didaktisch wird.

Da mir übrigens nicht viele populäre Filme über dieses Thema einfallen, und anderen vielleicht auch nicht, will ich mal zwei Klassiker empfehlen, interessanterweise beide von Bengalen mit zwei allerdings grundverschiedenen Ansätzen. Der eine ist der bengalische Film ERLÖSUNG (SADGATI) von Satyajit Ray, den er 1981 für den staatlichen Sender Doordarshan drehte. Om Puri und Smita Patil spielen ein Dalit-Ehepaar, das die Hochzeit der Tochter organisieren und daher einen günstigen Termin genannt haben will. Doch der zuständige Brahmanen-Priester lässt den Mann erst einmal eine unmögliche, physisch viel zu anstrengende Arbeit ausführen, bei der er stirbt. 

Wesentlich poetischer, wenn auch zwischendurch voller psychischer Grausamkeit, ist Bimal Roys SUJATA (1959) mit Sunil Dutt und Nutan. Hier wird von einem Ehepaar ein Dalit-Baby adoptiert, was allerdings schwierig wird, als diese älter wird und in das heiratsfähige Alter kommt. Eine vorurteilsvolle Tante – Lalita Pawar in einer ihrer bewundernswert grässlichen Rollen – macht das Ganze noch schlimmer. Bimal Roy mischt dieses gesellschaftliche Drama mit Märchenhaftem, da er die besondere Nähe des Dalit-Mädchens zur Natur betont, wodurch er aus ihr eine Art Prinzessin macht. Sunil Dutt als junger Mann, der sich in sie verliebt, ist der Einzige, der das erkennt.

Übrigens wirkt ARTICLE 15 auch ein bisschen wie ein autobiografischer Film über die Karriere des Regisseurs, der ja nicht gerade mit kontroversen Stoffen begonnen hat. Denn der Polizeioffizier des Films hat eine Freundin, zu der er ein etwas gespanntes Verhältnis hat, denn sie ist politische Aktivistin, während er sie zwar theoretisch unterstützt, aber selbst nicht sicher ist, ob er diese Absolutheit in seinem Leben will. Doch schließlich entscheidet er sich fürs Engagement und verbeißt sich in den Fall, kämpft unter Inkaufnahme persönlicher Schwierigkeiten auch gegen höchste bürokratische Widerstände an. Irgendwie spiegelt sich dieses Zögern in der Karriere des Regisseurs und Produzenten Anubav Sinha wieder. 

Sein bekanntester Film ist RA.ONE (2011), ganz amüsant, aber beileibe nicht der beste SRK-Film. Kein Wunder, dass ich den Regisseur damals gar nicht wahrgenommen habe. Oder er hat mit TATHASTU (2006) das eher fade Remake des Nick-Cassavetes-Films JOHN Q (2002) gedreht. Einen echt politischen Filme hat er dann 2014 zunächst nur produziert: GULAAB GANG, einen Feminismus-Film mit Madhuri Dixit und Juhi Chawla. Erst sein letzter Film war echt engagiert. MULK (2018) mit Rishi Kapoor und Taapsee Pannu über die Verfolgung einer unschuldigen moslemischen Familie, von denen ein Mitglied einen Terroranschlag verübt hat. Und jetzt eben ARTICLE 15. MULK habe ich leider nicht gesehen, aber bei ARTICLE 15 hat man das Gefühl, dass die kontroversen Themen kreative Energie freigesetzt haben. Ich bin gespannt auf die nächsten Filme.