(Quelle: Indisches Filmfestival Stuttgart)
Anandana Kapurs AAYI
GAYI (2019) ist ein einstündiger Dokumentarfilm, den man in der
coronabedingten Online-Version des Indischen Filmfestivals Stuttgart
2020 sehen konnte. Er handelt von Elektrizität und Elektrifizierung
im östlichen indischen Bundesstaat Bihar, besonders in den
vernachlässigten ländlichen Gegenden. Interessant wird das Ganze
dadurch, dass es hier nicht so sehr um logistische Probleme geht wie
die Verlegung der Leitungen oder der Stromproduktion selbst, sondern
um eine Mentalitätsfrage. Denn viele Bürger betrachten Vater Staat
tatsächlich als Vater, was vielleicht auch ein bisschen Schuld der
Politiker ist, die sich gerne im Wahlkampf so verkaufen. Aber wenn
der Staat der Vater ist, muss er sich um einen kümmern, und warum
soll man dann die Stromrechnung bezahlen oder ein schlechtes Gewissen
haben, wenn man sich illegal in die oberirdischen Leitungen einhakt.
Damit erhält Elektrizität den Status eines kostenlosen Grundrechts,
was aber wiederum die Versorgung gefährdet.
Denn die zu niedrigen
Einnahmen führen wiederum zu Stromunterbrechungen. Die liegen nicht
an technischem Unvermögen, auch nicht an Versorgungsproblemen,
sondern rein ökonomisch an der Zahlungsmoral der Kunden und am hohen
Stromdiebstahl. Ich glaube, es war das Jahr 2015, in dem man eine
Strom-Schwundquote von 42% hatte. Um das alles herauszufinden, mussten
erst einmal wissenschaftliche Untersuchungen her, darunter von der
Uni Chicago. Dann begann man, ein neues komplexes System zu
implementieren, was im Prinzip ein Belohnungs- und Strafsystem ist.
Einheiten mit guter Zahlungsmoral müssen weniger oder unter
Umständen keine Stromunterbrechungen ertragen. Das sorgt auch für sozialen Druck für korrektes Verhaltens innerhalb des Nachbarschafts- oder
Dorfkollektivs.
Was AAYI GAYI spannend
macht, ist eine Präzision ohne unnötige Ausschmückungen, die in
der relativ kurzen Zeit die Darstellung einer Fülle von Aspekten
möglich macht. So entsteht ein großer Überblick über das Thema,
eine Darstellung von Fakten und Zusammenhängen ohne einfache
Wahrheiten. Und das alles ohne Kommentar aus dem Off. AAYI GAYI ist
fast ausschließlich eine relativ schnell geschnittene Collage aus
Aussagen der verschiedensten Personen. So entsteht ein großes
mosaikartiges Bild. Es gibt nur kleine Ausnahmen, etwa wenn ein
Landarbeiter, der die Hoffnung auf versprochene Elektrifizierung
schon aufgegeben hat, einem Ingenieur der Stromgesellschaft sein Leid
klagen darf.
AAYI GAYI ist ganz
nebenbei ein Film für den Fortschritt und erzählt von den ganz
einfachen sozialen Auswirkungen von Elektrifizierung, was ja zunächst
einmal Licht bedeutet. Licht, wenn es normalerweise dunkel wäre. Es
wird erzählt, wie Frauen sich im Dunkeln nicht nach draußen trauen,
um ihr Geschäft zu erledigen, wie Frauen überhaupt bei Dunkelheit
lieber drinnen bleiben, wie man ohne Licht keine Hausaufgaben machen
kann und wie Dunkelheit die Arbeit der Polizei auf dem Land
erschwert. Ein vom Land stammender Arzt erzählt, dass er auf der Uni
zum ersten Mal Elektrizität gesehen hat und überwältigt war.
Das erinnert einen daran,
warum es überhaupt Fortschritt gibt, wozu er gut ist, dass es kein
Selbstzweck war von geldgierigen bösen Kapitalisten ist, die schon
vor hundert, hundertfünfzig Jahren nichts anderes im Sinn hatten,
als anderen Menschen ihre Kindheit zu stehlen. Wobei AAYI GAYI auch
besonders schön wirkte, weil ich gerade den neuen EDISON-Film in der
Preview gesehen habe.
Es ist ein insgesamt
positiver Film, der das Gefühl vermittelt, dass man auch bei
seltsamen Problemen rationale Lösungen finden kann, auch wenn
natürlich der Erfolg in Bihar auf lange Sicht untersucht werden
muss. Aber man arbeitet daran, dass die Menschen die Zusammenhänge
begreifen. Die vom Staat ausgerufene Elektrifizierung wird begleitet
von echter, teilweise unterhaltsamer Propaganda zu einer anderen
Einstellung, ganz praktisch einer anderen Zahlungsmoral und der
Ächtung von Stromdiebstahl. Es gibt sogar eine Bihar-Stromhymne.
Denn ökonomischer Sozialismus führt nun mal auf Dauer
in die reine Dysfunktionalität, von der auch die Armen und Ärmsten
absolut nichts haben.
(Quelle: Indisches Filmfestival Stuttgart)