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Sonntag, 19. Juli 2020

AAYI GAYI – Strom für alle

(Quelle: Indisches Filmfestival Stuttgart)

Anandana Kapurs AAYI GAYI (2019) ist ein einstündiger Dokumentarfilm, den man in der coronabedingten Online-Version des Indischen Filmfestivals Stuttgart 2020 sehen konnte. Er handelt von Elektrizität und Elektrifizierung im östlichen indischen Bundesstaat Bihar, besonders in den vernachlässigten ländlichen Gegenden. Interessant wird das Ganze dadurch, dass es hier nicht so sehr um logistische Probleme geht wie die Verlegung der Leitungen oder der Stromproduktion selbst, sondern um eine Mentalitätsfrage. Denn viele Bürger betrachten Vater Staat tatsächlich als Vater, was vielleicht auch ein bisschen Schuld der Politiker ist, die sich gerne im Wahlkampf so verkaufen. Aber wenn der Staat der Vater ist, muss er sich um einen kümmern, und warum soll man dann die Stromrechnung bezahlen oder ein schlechtes Gewissen haben, wenn man sich illegal in die oberirdischen Leitungen einhakt. Damit erhält Elektrizität den Status eines kostenlosen Grundrechts, was aber wiederum die Versorgung gefährdet.

Denn die zu niedrigen Einnahmen führen wiederum zu Stromunterbrechungen. Die liegen nicht an technischem Unvermögen, auch nicht an Versorgungsproblemen, sondern rein ökonomisch an der Zahlungsmoral der Kunden und am hohen Stromdiebstahl. Ich glaube, es war das Jahr 2015, in dem man eine Strom-Schwundquote von 42% hatte. Um das alles herauszufinden, mussten erst einmal wissenschaftliche Untersuchungen her, darunter von der Uni Chicago. Dann begann man, ein neues komplexes System zu implementieren, was im Prinzip ein Belohnungs- und Strafsystem ist. Einheiten mit guter Zahlungsmoral müssen weniger oder unter Umständen keine Stromunterbrechungen ertragen. Das sorgt auch für sozialen Druck für korrektes Verhaltens innerhalb des Nachbarschafts- oder Dorfkollektivs.

Was AAYI GAYI spannend macht, ist eine Präzision ohne unnötige Ausschmückungen, die in der relativ kurzen Zeit die Darstellung einer Fülle von Aspekten möglich macht. So entsteht ein großer Überblick über das Thema, eine Darstellung von Fakten und Zusammenhängen ohne einfache Wahrheiten. Und das alles ohne Kommentar aus dem Off. AAYI GAYI ist fast ausschließlich eine relativ schnell geschnittene Collage aus Aussagen der verschiedensten Personen. So entsteht ein großes mosaikartiges Bild. Es gibt nur kleine Ausnahmen, etwa wenn ein Landarbeiter, der die Hoffnung auf versprochene Elektrifizierung schon aufgegeben hat, einem Ingenieur der Stromgesellschaft sein Leid klagen darf.

AAYI GAYI ist ganz nebenbei ein Film für den Fortschritt und erzählt von den ganz einfachen sozialen Auswirkungen von Elektrifizierung, was ja zunächst einmal Licht bedeutet. Licht, wenn es normalerweise dunkel wäre. Es wird erzählt, wie Frauen sich im Dunkeln nicht nach draußen trauen, um ihr Geschäft zu erledigen, wie Frauen überhaupt bei Dunkelheit lieber drinnen bleiben, wie man ohne Licht keine Hausaufgaben machen kann und wie Dunkelheit die Arbeit der Polizei auf dem Land erschwert. Ein vom Land stammender Arzt erzählt, dass er auf der Uni zum ersten Mal Elektrizität gesehen hat und überwältigt war.

Das erinnert einen daran, warum es überhaupt Fortschritt gibt, wozu er gut ist, dass es kein Selbstzweck war von geldgierigen bösen Kapitalisten ist, die schon vor hundert, hundertfünfzig Jahren nichts anderes im Sinn hatten, als anderen Menschen ihre Kindheit zu stehlen. Wobei AAYI GAYI auch besonders schön wirkte, weil ich gerade den neuen EDISON-Film in der Preview gesehen habe.

Es ist ein insgesamt positiver Film, der das Gefühl vermittelt, dass man auch bei seltsamen Problemen rationale Lösungen finden kann, auch wenn natürlich der Erfolg in Bihar auf lange Sicht untersucht werden muss. Aber man arbeitet daran, dass die Menschen die Zusammenhänge begreifen. Die vom Staat ausgerufene Elektrifizierung wird begleitet von echter, teilweise unterhaltsamer Propaganda zu einer anderen Einstellung, ganz praktisch einer anderen Zahlungsmoral und der Ächtung von Stromdiebstahl. Es gibt sogar eine Bihar-Stromhymne. Denn ökonomischer Sozialismus führt nun mal auf Dauer in die reine Dysfunktionalität, von der auch die Armen und Ärmsten absolut nichts haben.

(Quelle: Indisches Filmfestival Stuttgart)