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Freitag, 30. April 2021

Die Filme von Adoor Gopalakrishnan – Spiritueller Realismus aus Kerala

Der 1941 geborene Filmregisseur Adoor Gopalakrishnan aus dem indischen Bundesstaat Kerala hat, rein quantitativ betrachtet, eine bescheidene Filmografie vorzuweisen. Einer der besten und bedeutendsten Filmemacher des Weltkinos hat in den 44 Jahren 1972-2016 nur elf Spielfilme, fast ausschließlich auf Malayalam, gedreht. Er selbst bezeichnet sich da schon mal entschuldigend als einen faulen Menschen, den seine inzwischen verstorbene Ehefrau zum nächsten Film oft anschieben musste. Aber seine Filme sind auch keine Filme, die man einfach mal macht. Dafür sind sie zu persönlich und genauestens kontrolliert. Mit scheinbar einfachen Mitteln tauchen sie ein in die gezeigte Welt und in die Seelen der handelnden Figuren. Sie sind voller Leerstellen, Andeutungen, mitunter wie nicht Ausformuliertes, als hörte jemand mitten im Satz auf zu reden, und doch wirkt alles ganz glasklar in diesem reinen Realismus, der sich durch Gopalakrishnans Stil hin zu einem faszinierenden spirituellen Realismus erweitert. Auf eine subtile Art hat hier alles Bedeutung, ohne dass extra darauf hingewiesen wird. Die Tonspur wird ebenso sorgfältig geschnitten wie der Film selbst. Dafür zieht der Regisseur nach den Dreharbeiten persönlich erneut hinaus und macht selbst die benötigten Aufnahmen. Kleine Laute können in diesen Filmen, die oft ohne oder mit nur sehr eingeschränktem Musiksoundtrack arbeiten, eine große Wirkung haben. Auf den Zuschauer hat das Zusammenspiel all dieser Elemente eine sogartige Wirkung, derer man sich gar nicht richtig bewusst ist.

Die geistigen und technischen Grundlagen des Filmemachens erlernte Gopalakrishnan am Filminstitut von Pune. Er wollte eigentlich Stücke schreiben, am Theater arbeiten, ging dann mit falschen Vorstellungen zur Filmschule und wurde plötzlich gepackt von den Möglichkeiten der Filmkunst, für die er sich vorher nur als passiver Zuschauer interessiert hatte. Er ist zwar ein Filmkenner, ein Cinephiler mit Filmbüchern im Büro, aber er ist kein demonstrativ cinephiler Regisseur. In seinen Filmen gibt es Intellektuelle, Schriftsteller, aber keinerlei Zitate aus anderen Filmen oder gar Anspielungen auf die Filmindustrie. Was ihn nicht davon abhält, mit echten Filmstars wie Mammootty zu arbeiten, wenn sie ihm als perfekte Besetzung erscheinen. Ein Schauspieler sei ein Schauspieler, egal, wie populär er sei. Dass er dafür von ideologisch korrekter Seite getadelt wurde, kümmerte ihn nicht. Nach seinem Abschluss in Pune war er aktiv als Gründer einer Kerala Film Society, was auch die Herausgabe einer Zeitschrift, das Halten von Vorträgen und die Veranstaltung eines Filmfestivals mit einschloss. Seine aktive Filmkarriere begann in den 1960ern als Dokumentarfilmregisseur. Seit 1995 hat er auch eine Reihe von Dokus über klassische Theater-, Musik- und Tanzformen aus Kerala gedreht. Mit diesen Künsten ist er groß geworden als Sohn einer Großgrundbesitzerfamilie, die traditionell auch Künstler finanziell unterstützte. In seinen Filmen, die oft in der Vergangenheit spielen, beschränkt er sich auf die Zeit, die er selbst erlebt hat und die mit dem späten Feudalismus beginnt, worauf der Zerfall durch die Unabhängigkeit folgte. Und er betrachtet die weitere Entwicklung der Gesellschaft mit ihren verschiedenen Umbrüchen. Alle seine Filme spielen in und um Kerala.

Gopalakrishnans Regiedebüt SWAYAMVARAM / ONE'S OWN CHOICE (1972) ist der erste Malayalam-Film mit Originalton, was großen Einfluss auf das Kino in Kerala hatte. Auch erste Experimente mit dem Ton gibt es hier, wenn auch noch sehr auffällig und expressiv, wenn etwa beim Tod eines Menschen laute Geräusche aus einem Sägewerk zu hören sind. Es beginnt ganz alltäglich. Ein vor der Familie geflüchtetes junges Pärchen sitzt in einem Bus. Sie sind, aus welchem Grund auch immer, nicht verheiratet. Mehr erfährt man als Zuschauer nicht. Allein die erste Sequenz, die lange Busfahrt mit dem echten Ton des Motors, dem Reden der anderen Passagiere muss in Kerala filmrevolutionär gewirkt haben. Es folgt das Ankommen im Hotel, dann glückliches Beisammensein wie in einem populären Film. Gopalakrishnan filmt es ein bisschen wie ein glückliches Songvideo am Wasser. Als spielte das Pärchen Kino und sie glaubten an eine strahlende Zukunft. Der wahre Weg aber führt kontinuierlich nach unten. Gopalakrishnan Absicht, gegen die Storys und die Wirklichkeit des Mainstreamfilms anzuschreiben, wird ein bisschen musterhaft überdeutlich. Der junge Mann ist Autor, sein abgelehnter Roman heißt „Ekstase“, und so spielen die beiden zu Beginn auch Ekstase, ohne die materielle Grundlage für eine Existenz zu haben. Sie enden in einer schmierigen, halbseidenen Umgebung. Ehe und Arbeit sind ein ewiger Kampf in einer rechtlosen Welt. Der Arbeitgeber des Mannes, ein Schuldirektor, steht aber selber kurz vor Pleite, sein Wagen ist kaputt, da bleibt nur Saufen. Statt in Ekstase endet alles in Agonie. Zwischendurch marschieren protestierende Arbeiter durchs Bild, aber zu denen gehört der Bürgerliche nicht. Er muss sich ganz individuell durch sein eigenes Elend quälen, allein und weder mit Familien- noch mit Klassenrückhalt.

KODIYETTAM / THE ASCENT (1977), ebenfalls noch in Schwarzweiß, war das Debüt des später so berühmten Schauspielers Bharat Gopy. Es ist eine Erwachsenwerden-Geschichte mit Verspätung, denn die Hauptfigur ist der schon 32-jährige Sankarankutty mit kindlichen Vorlieben. Er spielt mit den Kindern, holt ihnen ihre Drachen von den Bäumen und treibt sich mit Vorliebe auf den Jahrmärkten der Umgebung herum, immer hoffend, dass ihm jemand etwas bezahlt. Verwöhnt von der Schwester ist er in einem kindartigen Zustand geblieben. Er heiratet, ändert aber sein Verhalten nicht, sodass die Ehefrau mitsamt Kind zur Mutter zurückzieht. Realismus des Provinzlebens zeichnet KODIYETTAM aus, aber ohne aufgesetzte Düsternis. Die Düsternis des wahren Lebens schimmert immer nur vage durch, und Sankarankutty beobachtet sie mit einer gewissen Naivität, doch irgendwann fällt sie ihm durch den Selbstmord einer Frau, die ihm immer geholfen hat, zum ersten Mal deutlich auf. Dann kümmert er sich doch um einen Job, sieht das Doppelleben seines Trucker-Chefs mit Familie und Geliebter. KODIYETTAM ist einer der wenigen Filme Gopalakrishnans mit schönem Ende. Es gibt eine Wiederannäherung mit der Ehefrau und vor allem dem Kind, das jetzt vielleicht doch noch einen Vater bekommt.

Gopalakrishnans erster Farbfilm, und gleichzeitig sein erstes großes Meisterwerk, ELIPPATHAYAM / THE RAT TRAP (1981) spielt im stattlichen Anwesen eines Landbesitzers, der dort mit zwei Schwestern wohnt. Alles dreht sich um den Mann, der im Privaten noch Feudalismus spielt, obwohl dessen Zeit längst vorbei ist. Die ältere Schwester Rajammi macht die ganze Arbeit und wird dabei immer kränker. Die Jüngere denkt an die Moderne da draußen außerhalb des Dschungels und vor allem in der Luft, in Form von Flugzeugen. Eines Tage ist sie einfach fort mit einem jungen Mann. Der Film handelt aber nicht, wie das klassische Melodrama-Kino es machen würde, vom deprimierenden Leiden einer ausgebeuteten Frau, die der Bruder nicht heiraten lässt. Denn die verheiratete dritte und älteste Schwester bringt Widerstand herein, will den ihr zustehenden Anteil am Erbe. Vor allem ist ELIPPATHAYAM ein Männerporträt, aber nicht das klischeehaft autoritäre, wie man es eher gewohnt ist, sondern das eines Mannes, der lethargisch, wie geistig tot ist, gar nicht existiert, weich, passiv, nicht überlebensfähig. So wie eine gejagte Ratte sich in einer Ecke oder einem Loch versteckt, so verkriecht er sich am Ende vor der Wirklichkeit und ihren Anforderungen in seinem Haus. Das Rattenmotiv zieht sich durch den Film. Am Anfang werden bildliche Ausschnitte aus Haus und Gegend gezeigt, durchbrochen von panischem Geschrei wegen einer angeblichen Ratte. Der im Bett liegende Mann fühlt sich gebissen. Er muss bemuttert werden.Von da an werden drei Mal, wie in einem Ritual, Ratten im Käfig zum Ghat gebracht und dort ersäuft. Es gibt viele Szenen im Dunkel. Gopalakrishnan filmt ganz abstrakt Licht und Schatten, die Natur, die Elemente, vor allem den Regen, den man nicht nur fallen sieht, sondern auch durch das Geräusch zu spüren meint. Gopalakrishnan trifft bei allem Visuellem eine präzise Auswahl, ohne gewollt bedeutsam zu wirken. Da gibt es Einstellungen wie die des verlassenen Bruder im Regen, der wie ein Schleier zwischen ihm und der Kamera steht, als wäre er jetzt eine ertrinkende Ratte. Eine Vorahnung auf das Bad, das ihn am Ende erwartet.

In MUKHAMUKHAM / FACE TO FACE (1984), den ich nicht gesehen habe, kommt ein alter Kommunist nach vielen Jahren zurück in seine Heimat, die er wegen staatlicher Verfolgung verlassen hatte. Doch aus dem einstigen Arbeiterhelden ist ein heruntergekommener Trinker geworden. Um die Legende aufrecht zu halten, töten ihn seine ehemaligen Genossen. Der Film erregte bei der schon immer bös empfindlichen Linken viel Aufregung.

ANANTARAM / MONOLOGUE (1987) ist ein Film über eine psychische Grenzerfahrung, irgendwo zwischen Krankheit und Fantasiewelt. Erzählt wird die Geschichte eines Waisenjungen. Es beginnt mit einem weinenden Baby, das adoptiert wird von einem Arzt, der alleinstehend ist mit einem von Mammootty verkörperten, Medizin studierenden Sohn. Dann wird die Geschichte in zwei Versionen erzählt, und es scheint zunächst so, als sei die erste Version reine Fiktion, ein reiner Wunschtraum, sodass es mit den tatsächlichen Begebenheiten von vorne beginnt. Aber auch das ist nicht wirklich sicher. Nichts ist sicher in diesem Film außer einer rein subjektiven Sichtweise, die nicht objektiviert wird, um einen distanzierten, den Zuschauer beruhigenden Überblick zu verschaffen. In der ersten Version ist der Junge ein fantastischer Schüler, ein Einzelgänger, weil er so ein ausgestoßener Überflieger ist. Eine Schwägerin kommt ins Haus und sie erwidert seine Liebe. Dann sieht man Leute vor dem Collegezimmer des Jungen, was auf einen Selbstmord hindeuten könnte. Nun geht es von vorne los mit ihm als kleinem Kind, mit dessen Fantasie drei Hausangestellte ein paar fantastische Scherze zu viel treiben, denn er ist sehr empfänglich für deren Gruselmärchen und den Verdrehungen der Wirklichkeit, sodass er hinterher nichts mehr auseinanderhalten kann. Und wieder taucht die unerreichbare Schwägerin auf in Form einer Liebesgeschichte zur Collegezeit, als er immer auf sie im Bus gewartet hat. Das ist sehr poetisch, aber vielleicht ist hier in Wirklichkeit überhaupt nichts wirklich.

MATHILUKAL / WALLS (1989) beruht auf einem Roman von Vaikom Muhammad Basheer. Mammootty spielt einen bekannten Schriftsteller, der wegen Verrats zu 2,5 Jahren in britisch-indischen Gefängnissen verurteilt wurde. Er ist immer freundlich, lächelnd und versucht, es alles auf duldsame Art zu nehmen, hat guten Kontakt zu Wärtern, Mitgefangenen. Viele kennen und mögen seine Bücher. Aber er trifft auch auf weniger Privilegierte, auf Unschuldige, die im Gegensatz zu ihm gar nicht wissen, warum sie da sind und nun im Gram über Ungerechtigkeit geistig und körperlich verfallen. Da sind die langen Gänge an scheinbar endlosen Mauern, begleitet von seitlichen Kamerafahrten. Auf der anderen Seite spielt sich in seiner Zelle und im Garten vor der Zelle ein einsames Kammerspiel ab. Er hat Sehnsucht nach Schönheit. Seine Hand geht zu einem gelben Schmetterling. Und er pflanzt Rosen, spricht sogar mit der einen Rose, die nicht blüht. Und die Zeit vergeht. Die ewige Gefängnis-Routine wechselt mit einigen außergewöhnlichen Augenblicken wie dem nächtlichen Zubereiten des letzten Tees für einen zum Tode Verurteilten. Darauf folgt eine durchwachte Nacht für diesen Todgeweihten. Er wandert den Gang an den Zellen auf und nieder, und sein Lächeln ist nicht mehr so natürlich. Eine Amnestie für Politische betrifft ihn nicht. Allein bleibt er zurück und verfällt in eine Depression. Er freundet sich an mit einer weiblichen Stimme hinter der hohen Mauer, wo das Frauengefängnis liegt. Sie verabreden ein Treffen. Gerade jetzt wird er jedoch entlassen und ist plötzlich unendlich traurig. Tränen stehen in seinen Augen.

In VIDHEYAN / THE SERVILE (1993) verkörpert Mammootty das genaue Gegenteil seiner sanften Rolle aus MATHILUKAL. Wie in ELIPPATHAYAM geht es um einen heruntergekommenen Landbesitzer, der die Zeichen der Zeit nicht erkennt. Aber diesmal ist es kein Weichling, sondern ein sehr aktiver, mörderischer Dämon, der seine Umgebung mit Unheil und Tod überzieht. Mammootty ist beängstigend überzeugend in der Rolle dieser durch und durch abstoßenden Figur. VIDHEYAN ist allerdings weit mehr als ein Film über die Untaten eines brutal-sadistischen Landbesitzers, der sich so benimmt, als sei es seine Pflicht. Erzählt wird vor allem ein Herr-Knecht-Verhältnis aus der Sicht des Letzteren. Wie Hass auf den Mann, der seine Frau vergewaltigt und sie sich als Geliebte nimmt, umschlägt in Servilität und Abhängigkeit. Erst will der Diener den Herrn nach der Vergewaltigung in Stücke schneiden, doch dann gibt es Gunstbeweise und er wird in das Leben des Herrn hineingezogen. Die Folge ist die totale Identifizierung. VIDHEYAN ist ein Film mit viel tiefem Schwarz, finsteren Nachtszenen, in denen sich auch die Rituale des Bedienens, des ewigen Arrakh-Einschenkens, wiederholen. Der Landbesitzer mag nichts Gutes, Unschuldiges, Heiliges um sich. Allein deshalb bringt er seine sanfte Ehefrau um, was seinen Untergang herbeiführt. Aber vielleicht war es das, was er immer gesucht hat. Düsteres göttliches Vorzeichen ist der missglückte Dynamitanschlag auf die heiligen Fische im Dorfteich. Nach dem gewaltsamen Tod des Herrn steht der Diener allein da. Eine der letzten Einstellungen zeigt ihn als schwarzen Schatten gegen den blauen Himmel, als wäre er einen Moment lang gar nichts ohne seinen Herrn. Dann läuft er nach Hause, für den Moment zumindest freudig, zu seiner Frau.

In KATHAPURUSHAM / THE MAN OF THE STORY (1995) erzählt Gopalakrishnan zum ersten Mal auf epische Weise über einen längeren Zeitraum hinweg. Die Jahre 1937-1977 umfassen den Feudalismus, die Unabhängigkeit, kommunistische Agitation und den nationalen Ausnahmezustand Indira Gandhis. Man verfolgt den Weg eines Jungen zum Mann. Er ist, das muss man so sagen, als Kind ein fürchterliches Weichei und eine echte Heulsuse. Der strenge Lehrer macht sein Stottern beim Alphabet-Aufsagen aber auch nicht besser. Das Mädchen Meenakshi, Tochter der Köchin, ärgert ihn, bemuttert ihn aber auch. Er wächst auf in einem geborgenen Feudalismus, gemeinsam mit den Bediensteten herrscht eine familiäre Atmosphäre. Der Schulweg in Begleitung des Hausdieners durch die monsungrünen Felder und Wälder Keralas in großen Totalen, das gehört zu den Bildern, die man sofort mit dem Film verbindet. Verdunkelt wird sein Leben durch die Abwesenheit des Vaters und die bettlägerige Kränklichkeit der Mutter. Es gibt in KATHAPURUSHAN eine Reihe von Männern, die ihre Familie im Stich lassen oder vernachlässigen. Er selbst kommt zum Tod der Mutter, der Großmutter und auch des abwesenden Vaters zu spät. Seine dumm-idealistische Unterstützung der Naxaliten hat fast böse Folgen, aber er wird vor Gericht freigesprochen. Von Politik hat er nun genug. Die klassenlose Gesellschaft setzt er jetzt lieber im Privaten um. Und dies führt zu einer der unvergesslichen Szenen des Films, wo er endlich Meenakshi aufsucht, die sich allen Versuchen, sie zu verheiraten, widersetzt hat. Sie sieht müde aus, hat dunkle Ringe unter den Augen. Ihre Mutter und Schwester gehen still ins Haus. Meenakshi bricht in Tränen aus, in Tränen der Erleichterung, der Freude: „Du hast uns doch nicht vergessen!“ Nur der saufende Vater will eine Mitgift, denn Alkohol gibt es nirgendwo auf der Welt kostenlos. Sie verkaufen das große Anwesen und ziehen in ein kleines Haus mit Garten, wo er schreibt. Gerade im Moment des Erfolges greift der Staat wieder ein und verbietet das Buch. Da muss er lachen, das Stottern ist weg, und gemeinsam mit Frau und Kind singt er das Alphabet, was er in der Schule nie geschafft hat. KATHAPURUSHAM ist Gopalakrishnans berührendster, emotionalster und intimster Film. Es ist kein autobiografischer Film, aber in der Atmosphäre und sicher in vielen Details voll von Autobiografischem. So kann man hier beispielsweise das Geburtshaus des Regisseurs sehen.

NIZHALKUTHU / SHADOW KILL (2002) ist kein Film, der grundsätzlich gegen die Todesstrafe ist. Es geht vielmehr darum, dass die ethischen und religiösen Diskussionen über die Todesstrafe in einer korrupten Welt überflüssig sind. Wer in dieser Welt für die Todesstrafe ist, der ist so dumm, dem Staat und der Justiz zu trauen. Der Breitwandfilm spielt auf dem Land, zum größten Teil auf dem abgelegenen Anwesen eines Henkers im Jahre 1941 in einem Fürstentum im heutigen Kerala. Zwischen den Momenten, wo er gerufen wird, um sein Amt auszuüben, trinkt er viel und betätigt sich als Heiler mit der Asche des Stricks, der im Gebetsraum für die Göttin Kaali hängt. Und das funktioniert, er kann sogar böse Geister austreiben. Er rätselt selbst darüber, warum es funktioniert, vollzieht viele Reinigungen. Gerade ist seine Tochter Frau geworden, und die Feierlichkeiten werden begangen. Bis dahin wirkt es wie ein fatalistischer Film über den Kreislauf von Tod und Leben. Doch zwischendurch gibt es Gespräche über die vielen Fehlurteile, dass sowieso nur unschuldige arme Leute hingerichtet werden, dass alles eine korrupte Scheinjustiz ist. Gopalakrishnan benutzt kontrapunktische Musik mit harten, metallischen Rhythmen, wenn drei mittelalte Damen sich beim Baden über die Wirkung der Strickasche unterhalten. Der Henker geht derweil immer mehr zugrunde, verbrennt regelrecht von innen, als spürte er den Alkohol und das Feuer des Stricks. All die vielen Rituale können nicht die Tatsache verhindern, dass Unschuldige hingerichtet werden. Die Geschichte eines solchen unschuldig Hingerichteten vermischt sich in seiner Phantasie mit der eigenen Familie. Gopalakrishnan arbeitet mit den Geräuschen der Natur bei der Geschichte um einen Flötenspieler, einer unschuldigen Liebe, ruiniert durch einen Vergewaltiger und Mörder. Der alte Henker stirbt mit diesen Gedanken. Und die grausame Ironie ist, dass dessen Sohn als Anhänger von Gandhi und Gewaltlosigkeit die Arbeit des Vaters zu Ende bringen muss.

Es folgen zwei Episodenfilme, direkt hintereinander gedreht, nach den Erzählungen von Thakazi Sivasankara Pillai. Gesehen habe ich allerdings nur NAALU PENNUNGAL / FOUR WOMEN (2007). Es ist ein schöner Film, aber nicht ganz so großartig wie gewöhnlich, denn Gopalakrishnan-Filme brauchen eine gewisse Zeit, um sich zu entwickeln, sich beim Zuschauer einzuschleichen. Und bei einer Länge von 20-30 Minuten pro Episode geht diese Wirkung natürlich teilweise verloren. Hier geht es vor allem um Beobachtung, Präzision und Pointe. 2008 folgte sofort ORU PENNUM RANDAANUM / A CLIMATE FOR CRIME (2008), den ich aber nicht kenne.

Sein bisher letzter Film PINNEYUM / ONCE AGAIN (2016) zeichnet ein düsteres Bild von der Geldgier, die das Schlimmste aus ganz normalen, gut bürgerlichen Menschen herausholen kann. Es ist eine Familiengeschichte. Ein Familienvater kann nach Jahren des Versagens einen guten Job in Dubai ergattern. Das bringt Geld, Anerkennung, eine höhere soziale Rolle innerhalb seiner Kaste. Und jetzt hat er Blut gerochen und leider in seinem Leben zu viele klassische Kriminalromane gelesen. Also hat er sich das perfekte und komplett idiotische Verbrechen, einen Versicherungsbetrug, ausgedacht. Am Ende sind Onkel und Schwiegervater im Gefängnis. Und der nette Schwager bleibt bis zum Tod verkrüppelt von der Polizeifolter. Dabei war er absolut unschuldig. Zwei Szenen bleiben besonders in Erinnerung. Vor allem natürlich das brutale Erdrosseln eines Mannes, der dringend zu seiner Frau ins Krankenhaus muss. Und dann nach vielen Jahren die nächtliche Rückkehr des Familienvaters zur Frau, die er mitnehmen möchte. Sie weigert sich. Mehrmals schleicht er nachts durch den dicht zugewachsenen Garten an ihr Fenster. Als sie es sich, für die als Kind eines Mörders gesellschaftlich ausgestoßene Tochter, anders überlegt, ist es zu spät. Mit einem Toten in einem Motelzimmer hatte der Film begonnen. Damit endet er. Und jetzt weiß man, um wen es sich bei diesem Selbstmörder handelt. Sein Pseudonym war das des Mordopfers.

Donnerstag, 29. April 2021

Jabbar Patels DR. BABASAHEB AMBEDKAR – Für die Entrechteten

 

Weggejagt zu werden, kein Wasser zu trinken zu bekommen trotz fürchterlichen Durstes, das gehört zum üblichen Alltag des kleinen Bhimrao aus der Kaste der Unberührbaren. Doch eine der schlimmsten Demütigungen für dieses hochintelligente und an Bildung interessierte Kind ist es, die heiligen Schriften nicht auf Sanskrit lesen zu dürfen. Das ist dem Brahmanen-Monopol vorbehalten. Es gibt viele solcher kurzer Einblicke in Kindheit und Jugend von Bhimrao Ramji Ambedkar (1891-1956), dem unermüdlichen Menschenrechtsaktivisten nicht nur für seine eigene Kaste der Unberührbaren, auch beispielsweise für Frauen. Als kleine Rückblenden werden solche Schlüsselerlebnisse im Laufe des biografischen Spielfilms DR. BABASAHEB AMBEDKAR (2000) nach und nach eingefügt.

Ambedkar wächst hinein in ein erstarrtes System, das ihm als Schudra oder Unberührbaren – ich verwende die Begriffe, die im Film benutzt werden – jedes Bürgerrecht verwehren darf. Und diese filmischen Erinnerungsfetzen zeigen auch, dass die erlitttenen Ungerechtigkeiten immer in seinem Innersten präsent sind, dass sie sein ganzes Handeln bestimmen. Und nicht einmal ein zweifacher Doktorgrad aus den USA und Großbritannien an den angesehensten Unis bei weltweit anerkannten Professoren in Wirtschaft und Jura reichen dann in Indien aus, ihm ein auch nur annähernd normales Leben zu garantieren. Nach der Rückkehr aus dem Ausland erlebt er Entsprechendes im sehr hindu-orthodoxen Bundesstaat Gujarat. Dort hat er einen guten Posten bei einem Maharadscha, der ihm das Studium bezahlt hat, bekommt aber keine Wohnung. Der Film zeigt die Haltung gegenüber den Unberührbaren als tief in der Gesellschaft sitzendes geistiges Krebsgeschwür, das bekanntlich auch heutzutage noch kräftig wuchert.

Regie bei DR. BABASAHEB AMBEDKAR führte der Marathi-Regisseur Jabbar Patel, der für Film und Theater tätig ist. Es ist sogar sein zweiter Film über Ambedkar. 1991 drehte er unter demselben Filmtitel eine Ambedkar-Dokumentation für die Films Division, das staatliche Dokumentarfilminstitut. Es ist interessant, sich die beiden Filme hintereinander anzugucken und festzustellen, dass vieles direkt übernommen wurde und der Spielfilm sicher auch dadurch echte Substanz ohne Leerstellen hat, in den drei Stunden Laufzeit ungeheuer viel unterbringt, ohne dabei Klarheit und den Überblick zu verlieren. Wie bei solchen Filmen üblich, die einen weiten Zeitraum umfassen, gibt es eine Art Best-of der entscheidenden privaten und öffentlichen Stationen.

Gleichzeitig ist es auch ein visuell sehr sorgfältig gemachter Film. Es gibt ein authentisches, ganz natürliches Gefühl für die Vergangenheit, was mir besonders auch deshalb aufgefallen ist, da ich gerade zum ersten Mal die erste Staffel der überschätzten deutschen Serie BABYLON BERLIN (2017) geguckt habe, wo ich irgendwie bloß Schauspieler in Kostümen inmitten von geleckten Dekors gesehen habe. Die Innenräume in DR. BABASAHEB AMBEDKAR hingegen haben auf ganze natürliche Art dieses typisch warme gelbbraune Licht, diese Mischung aus braunen Möbeln, der Sonneneinstrahlung und der künstlichen Beleuchtung.

Die Hauptrolle als Ambedkar hat der südindische Star Mammootty. Er ist die Seele des Films. Er macht gar nicht viel. Aber Mammootty schafft es, die arbeitsame Besessenheit, die ständige Konzentration dieses pausenlos aktiven Mannes hinter der mitunter undurchdringlich scheinenden Fassade durchscheinen zu lassen. Umso bewegender sind dann die persönlichen Krisen, wenn der Tod – seines Kindes, seiner Frau – Ambedkar aus der Routine reißt, kleine emotionale Risse sichtbar werden und er fast nicht weiterarbeiten kann. Seine Familie hat er immer sträflich vernachlässigt. Nur im zweiten Teil des Films wirkt die hohe Stirn, die die zurückgehenden Haare hervortreten lassen, etwas zu hoch. Da könnte man den Verdacht bekommen, dass der Star seine eigene Haarpracht nicht zu sehr anrühren wollte für den Film.

Ambedkar beginnt mit der politischen Aktivierung der Kaste der Unberührbaren aus ihrem passivem Leidenszustand, schafft eine eigene Organisation. Und der Film hat keine Angst davor, theoretisch zu sein. Die Herkunft und Entwicklung des Schudra-Begriffes aus den heiligen Schriften wird ausführlich erläutert. Ist die indische Kastenunterteilung im Ursprung eine korrekte Beschreibung der menschlichen Gesellschaft, wo Schudra einfach Arbeiter bedeutet, verwandelte sie sich in eine Rechtfertigung für ein erstarrtes und mitleidloses System ökonomischer Ausbeutung und sadistischer Unterdrückung, wozu eine totale Undurchlässigkeit des Systems kam. Eine der besten und treffendsten Filme zu dem Thema ist Satyajit Rays im Netz zu findender Film SADGATI (1981) mit Smita Patil und Om Puri. Hier wird detailliert gezeigt, mit welcher Gleichgültigkeit ein Unberührbarer als reines Instrument missbraucht wird. In DR. BABASAHEB AMBEDKAR gibt es Vergleiche zu den Juden der Nazizeit und den Schwarzen in den USA vor den Bürgerrechtsgesetzen. Da die heiligen Schriften eine große Rolle bei der Rechtfertigung dieser Zustände spielen, veranstalten Ambedkar und seine Gefolgsleute eine provokative öffentliche Verbrennung von entsprechenden Zitaten.

Zunächst versucht Ambedkar im Kleinen, Rechte durchzusetzen, sei es an einem Unberührbaren verbotenen Teich, sei es beim Betreten eines Tempels. Aber irgendwann sieht er, dass mit diesem Kleinkrieg nichts gewonnen wird. Es kann nur um einen Anteil an der Macht im Staat gehen. Was ihn dann auszeichnet, ist zwar Gewaltlosigkeit, aber gleichzeitig eine intellektuelle Radikalität, die selbst der Kongresspartei Angst macht. Ohne falsche Rücksicht auf die Interessen der führenden Politiker fährt er nach London auf eine britische Regierungskonferenz, die vom Kongress boykottiert wird, und erobert dann alle Schlagzeilen und den Respekt der Briten. Schluss damit, die eigene Sache der paternalistischen Fürsorge oberer Kasten und ihrer sich nie erfüllenden Versprechen anzuvertrauen. Aus seinen Erfahrungen zieht er den berechtigten Schluss, dass die Unberührbaren sich auf niemand anderen, auf keine leeren Worte mehr verlassen dürfen.

Er provoziert bewusst mit seiner einfachen und korrekten Logik, sagt beispielsweise, er hätte kein Heimatland. Er will die Unberührbaren aus dem Hinduismus ausklammern und als eigene Wählerschaft anerkannt wissen. Gandhi hingegen will die Einheit des Hinduismus bewahren und greift zu seiner strategisch mitleiderregenden Lieblingswaffe, dem Hungerstreik. Hier wird der Film spannend wie ein Thriller, auch wenn man dessen Ausgang kennt: der Streit mit Gandhi um diese Machtverteilung. Ambedkars Logik ist, dass der Hinduismus Unberührbare nicht wie Menschen behandelt, sie also eine eigenständige Gruppe seien. Er scheut keine offenen Worte gegenüber dem Mahatma: „Mahatmas kommen und gehen, und sie hinterlassen meist nur Staub.“

Dennoch wird er später beauftragt, den Verfassungsentwurf für ein unabhängiges Indien auszuarbeiten. So gilt er heute vor allem als „Architekt der indischen Verfassung“. Und er ist derjenige, der mit seinem Satz „Ich werde nicht als Hindu sterben“ und seinem Übertritt zum Buddhismus den Unberührbaren den Religionswechsel als Lösung nahegelegt hat. Dass das die Probleme nicht löst, hat er vermutlich selbst geahnt. Die Unterdrückung endet dann ja nicht, wie das Beispiel Christentum zeigt: "Den historischen Auftrag des indischen Christentums, nämlich durch westlich geprägte Aufklärung und demokratische Grundhaltung gegen das Kastenwesen im Hinduismus, die Benachteiligung von Frauen und den Feudalismus vorzugehen, hat es weitgehend nicht erfüllen können. Stattdessen ist das Kastenwesen in die Mentalität auch der christlichen Bevölkerung eingedrungen. Über Generationen hinweg erinnern sich Christen ihrer Kaste vor der Bekehrung, so dass es also „christliche Brahmanen“ und „christliche Kastenlose“ gibt, die oft nicht untereinander heiraten und gesellschaftlich verkehren. Damit entfällt einer der ursprünglichen Gründe, weshalb Kastenlose und Stammesangehörige – die sogenannten „Dalits“ – zum Christentum konvertiert sind, nämlich um den Demütigungen des Kastenwesens zu entkommen." (aus: Martin Kämpchen,  "Die Kirchen gleichen sich den Kasten an", FAZ online 12.3.2019). Wie bei anderen Themen, muss man im Allgemeinen auch den westlichen Narrativen zu Indien und den Dalits misstrauen. Wenn sich also hinter einer deutschen Dalit-Unterstützungs-Organisation ein christliches Missionswerk mit seinen eigenen finsteren Interessen verbirgt, dann kann man indische Gesetze etwa zum Missionsverbot nicht bloß verstehen, sondern nur unterstützen.

Um aber zum Film zurückzukehren: Das einzig wirklich Störende an DR. BABASAHEB AMBEDKAR sind Teile des Soundtracks, wenn zwischendurch ein ungenießbarer Klangbrei aus Saxophon und Klaviermusik erklingt, was sich anhört, als habe man zufällig gerade eine CD mit irgendwelcher Fahrstuhlmusik herumliegen gehabt. Oder man hat dabei auf das internationale Publikum geschielt, wollte die Musik nicht zu indisch machen, doch das Kalkül ging nicht auf. Der auf Englisch gedrehte Film hatte außerhalb Indiens keine Kinopremiere. Was schade ist. Im heutigen Indien jedenfalls ist Ambedkar ziemlich populär. Gleich zwei TV-Serien handeln von ihm. Einmal EK MAHANYAK – DR. B R AMBEDKAR (seit 2019) und dann DR. BABASAHEB AMBEDKAR – MAHAMANVANCHI GAURAVGATHA (seit 2019). Die Serie hat mit 343 Episoden bemerkenswerte Seifenoperndimensionen.

Dienstag, 27. April 2021

V. Shantarams SINHAGAD – Der Heldentod des Tanaji

SINHAGAD (1933) erzählt die Geschichte der Schlacht von Sinhagad im Jahre 1670. Im Film ist allerdings noch die Rede von Kondhana, wie das an einem steilen Felsen südwestlich von Pune liegende Fort vorher hieß. Eine kleine Armee des Maratha-Herrschers Shivaji unter Führung von Tanaji Malusare eroberte das Fort von Mogul-Kaiser Aurangzeb zurück. V. Shantaram führte Regie bei diesem sehr patriotischen und heroischen Marathi-Film der Prabhat Film Company in Pune, die Anfang der 1930er noch ganz auf historische und mythologische Filme konzentriert war. In Regisseur Baburao Painters Stummfilm-Version des Stoffes von 1923 hatte Shantaram sogar noch als junger Schauspieler mitgewirkt. Die Story von SINHAGAD beruht auf einem Roman von Hari Narayan Apte, der bei beiden Versionen selbst für das Drehbuch verantwortlich war. Meines Wissens nach ist der Ajay-Devgn-Film TANHAJI (2020) der einzige weitere Film, der diese Schlacht in den Mittelpunkt stellt.

Zügig werden in zwei längeren Szenen die Hauptfiguren eingeführt. Es beginnt mit zwei Frauen und dem Bösewicht des Films, Uday Bhanu, der in Diensten von Aurangzeb steht. Die Kriegerwitwe Kamla Kumari will ihrem Ehemann an dessen Todesstätte durch Sati, also Selbstverbrennung, folgen. Da kommt ein Reitertrupp, aber die vermeintliche Rettung ist keine Rettung, sondern die Störung eines freiwilligen heiligen Rituals und eine lüsterne Entführung Kamlas und ihrer Freundin. Es kommt zu einem Kampf mit vielen Toten. Kamla wird schon länger von Uday Bhanu begehrt, wobei die Vorgeschichte nicht weiter ausgeführt wird. Ich könnte mir vorstellen, dass sie im Roman enthalten ist. Hier muss ich auch anmerken, dass es aufgrund verschiedener Tatsachen sehr gut möglich ist, dass die englisch untertitelte Version, die ich auf ZEE5 gesehen habe, im Vergleich zum Original erheblich gekürzt ist, was ich aber, aufgrund einer fehlenden Vergleichsversion nicht endgültig überprüfen kann. Und Längenangaben im Netz sind bei alten indischen Filmen oft sehr willkürlich. Da mir im weiteren Verlauf nichts aufgefallen ist, könnten Kürzungen vor allem diese fehlende Vorgeschichte betreffen.

Auf die Entführung folgen die Hochzeitsvorbereitungen des kleinen und einzigen Sohnes von Maratha-Offizier Tanaji Malusare in dessen Dorf. Dafür reiten sie zu König Shivaji, um ihn feierlich einzuladen. Tanaji wird von Master Vinayak gespielt, einem großen Star jener Zeit. Der Darsteller des Uday Bhanu ist sein Halbbruder Baburao Pendharkar. Bei König Shivaji gerät die Privatangelegenheit der Hochzeit allerdings schnell in den Hintergrund, denn aus taktischen Gründen will und muss der Herrscher möglichst schnell das Fort Kondhana einnehmen. Und Tanaji will diese Unternehmung anführen.

SINHAGAD ist ein früher indischer Tonfilm. Der leider nicht erhaltene ALAM ARA (1931) gilt als erstes Produkt dieser neuen Technik. Man sieht bei SINHAGAD noch eine gewisse technisch bedingte Statik, die einhergeht mit dem lauten und deutlichen Sprechen der Darsteller, damit man sie gut versteht. Dazu kommt so manche, noch an den Stummfilm erinnernde ausladende Geste. Alles ist direkt aufgenommen und ohne Nachsynchronisierung, auch die Lieder, die mit dem Tonfilm ja schnell unverzichtbarer Teil des indischen Kinos wurden. Diese Songs mit der schönen Musik von Govindrao Tembe wurden geschickt und sinnvoll in die Story integriert. Sie sind teilweise sogar handlungstragend, wenn etwa Soldaten sich ausgerechnet von einem Spion ein Schlaflied wünschen. Und vor allem in einer Szene mit Tanaji, der ein satirisches Volkslied singt, das so gewagt ist, dass es Männer aus dem Fort erstarren lässt. Aber es verschafft ihm einen wichtigen Verbündeten.

Dazu kommt eine äußerst flüssige Erzählung, gekennzeichnet durch den fließenden Wechsel zwischen den verschiedenen Handlungsteilen. Die Rettung der Frauen durch den Ehemann der Freundin, Tanajis Auskundschaften des Forts von innen, eine Hochzeit vor den Toren des Forts, das Warten auf militärische Verstärkung. All das ist geschickt ineinander verwoben. Auch wenn am Ende eine Schlacht steht, geht es in SINHAGAD vor allem um planende Intelligenz gegen Dummheit. Denn das zeichnet Dämonen erfreulicherweise meistens aus: Sie halten sich fälschlicherweise für schlau und gehen so an ihrer Unvorsichtigkeit und sich selbst zugrunde.

Einige Sequenzen stechen durch ihre visuelle Stärke heraus, wobei es sich vor allem um Außenaufnahmen handelt, vermutlich zu einem großen Teil an Originalschauplätzen gedreht. Beeindruckend sind die großen Totalen der Steilwand, an der tatsächlich Menschen hinauf- und hinunterklettern. Höhepunkt ist das stumme Erklimmen des Felsens durch Tanajis kleine militärische Vorhut mit Hilfe einer Warane, eines großen echsenähnlichen Reptils, das sich ganz oben an der Wand in einen Felsvorsprung kauert und so festklammert, dass es das Gewicht mehrer Männer tragen kann. Am Ende findet in dunkler Nacht, nur erleuchtet durch unzählige Fackeln, die kurze, aber sehr wirkungsvolle Schlacht statt. Nur Schwertkämpfer und ihre Schatten füllen das Bild. Dabei stirbt Tanaji. Die Schlacht aber kann, trotz kurzfristiger Entmutigung der Soldaten, siegreich und mit dem Tod auch von Uday Bhanu beendet werden. Die feierlichen und vor allem ikonischen Schlussbilder gehören dem aufgebahrten Tanaji und Shivaji, der um seinen größten Krieger trauert.

Sonntag, 25. April 2021

Robert Dinesens DIE LIEBLINGSFRAU DES MAHARADSCHA – Exotische Liebe

 

Ein groß gewachsener, stattlicher indischer Maharadscha mit Turban am sommerlichen Urlaubsstrand. Das erregt Aufsehen in dem dänischen Stummfilm DIE LIEBLINGSFRAU DES MAHARADSCHA / MAHARAJAHENS YNDLINGSHUSTRU (1917). Besonders bei zwei jungen Frauen einer großbürgerlichen Familie. Sie sind ganz aufgeregt und klettern auf ihren Stühlen herum und wollen das Fernglas gar nicht mehr von ihm wegschwenken. Und das trotz der Ermahnungen der peinlich berührten Eltern, denen diese Erscheinung und ihre Auswirkung auf die sonst so brave Sittlichkeit offensichtlich höchst unangenehm ist. Besonders die Ältere, Elly, ist angetan. Der Maharadscha sucht auch kurz den Kontakt und lässt abends heimlich ihr Schlafzimmer mit Rosen bestreuen, dazu ein Exemplar von „1001 Nacht“. Hier werden exotisch-erotische Träume wahr. Allenfalls voll Mitleid, ohne Spur von Liebe, betrachtet Elly kurz die einzelne Rose, die ihr ihr Verlobter kurz zuvor geschenkt hat und lässt sie fallen. Sie hüpft dann im Zimmer herum. Wie ein kleines Mädchen. Weil sie ausgewählt wurde. Von ihm! Dem Maharadscha.

DIE LIEBLINGSFRAU DES MAHARADSCHA ist eine dänische Nordisk Film Produktion. Regie führte Robert Dinesen und die Hauptrolle als Maharadscha hat der Norweger Gunnar Tolnæs. Das Entzücken der beiden jungen Damen im Film, natürlich vor allem Ellys, beim Anblick von Tolnæs stand durchaus stellvertretend für das junge weibliche Kinopublikum, das sich den Film immer wieder ansah und zu einem großen Teil vom Fleck weg mit Elly getauscht hätte. Formal handelt es sich hier um keine filmische Offenbarung. Man sieht einfache, statische Bilder, in denen sich, ohne besondere Ausnutzung des Raums, die Menschen bewegen. Die vermeintlich indischen Innendekors wirken wie eine mit orientalischem Dachbodenmüll voll gerumpelte Shisha-Bar, aus der man rückwärts wieder rausgeht, weil man gleichzeitig die Augen von so viel Scheußlichkeit nicht abwenden kann.

Aber dafür hat der Film auf der inhaltlichen Ebene eine überraschende Klischeefreiheit zu bieten, die man von ähnlichen Filmen sonst nicht gewohnt ist. Man denkt ja bei dem Thema zuerst an gewaltsam entführte weiße Frauen, an das damals viel diskutierte und verfilmte Thema des weißen Sklavenhandels und an lebensgefährliche Fluchten aus dem Harem. DIE LIEBLINGSFRAU DES MAHARADSCHA ist aber ein Film ohne Bösewicht. Was hier stattfindet ist eine Art Culture-clash der Liebes- und Ehevorstellungen. Elly flieht aus reinem freiem Willen, riskiert bei einer einsamen, kraftraubenden Ruderpartie auf dem Meer sogar ihr Leben. Nur dass sie in Indien eine böse Überraschung erlebt: Dort wird sie schön gemacht. Sie kommt voll Vorfreude in sein Gemach. Und landet dann im Harem. So hatte sich die monogame Dänin das natürlich nicht gedacht. Doch für ihn ist es völlig normal. Als er sie das nächste Mal rufen lässt, ist sie aus ihren leichtfertigen Träumen erwacht, schlurft ziemlich lustlos und unerotisch in sein Zimmer und steht bloß da. Sie schmeißt ihm seine teuren Juwelen vor die Füße und vegetiert von nun an im Harem vor sich hin. Aber er ist kein Tyrann. Er versteht wirklich nicht ihr Problem. Sie ist doch seine Lieblingsfrau. Ihre westlichen Kleider sind für ihn sogar ein echtes Heiligtum. Man ist einander eben ein Rätsel. Und kann, wie das Ende zeigt, dann doch nicht ohne einander leben.

Angeblich sollte der Maharadscha eigentlich sterben, aber der Schluss wurde geändert. Und so konnte der Stoff weitergesponnen werden. Erst einmal in einer direkten Fortsetzung mit DIE LIEBLINGSFRAU DES MAHARADSCHA II (1919), diesmal von August Blom inszeniert. Als dritter Teil bezeichnen sich dann gleich zwei Filme, wobei es keine Fortsetzungen, sondern Variationen derselben Story sind. Und man sah Gunnar Tolnæs eben so gerne als Maharadscha. Von 1921 ist eine deutsche Produktion unter der Regie von Max Mack mit Tolnæs und deutschen Schauspielern wie Fritz Kortner. Von 1926 ist der andere dritte Teil als deutsch-dänische Produktion unter der Regie des Dänen A.W. Sandberg. Angesichts einer verwirrenden, Misstrauen erweckenden Quellenlage, will ich hier lieber auf Inhaltsangaben aus zweiter Hand verzichten, denn mit eigenen Augen gesehen habe ich ja bisher nur DIE LIEBLINGSFRAU DES MAHARADSCHA von 1917. Vielleicht kann ich auf das Thema ja später einmal zurückkommen.

Samstag, 24. April 2021

Subodh Mukherjees APRIL FOOL – Eine patriotische, tragisch-romantische Spionagekomödie

Es ist faszinierend, was für hübsche Seltsamkeiten man hin und wieder in den indischen Filmen der 1960er, als die bunte Mittelstands-Konsum-Gesellschaft die Leinwände des Subkontinents eroberte, entdecken kann. Auch solche deutscher Art: In Shakti Samantas AN EVENING IN PARIS (1967) gibt es beispielsweise die Titelsequenz, zu der Shammi Kapoor das Titellied singt, während er, zwischen nächtlichen Bildern von Eiffelturm und Seine, auf der Hamburger Reeperbahn seinen Spaß hat und mit 60er-Jahre-deutschen Damen flirtet: frühes Bollywood-Feeling trifft auf Wienerwald-Werbung, Holstenbier-Reklame oder Herrenhäuser-Pils-Leuchtschrift. Und besonders das Café Keese ist ganz groß im Bild.

Eine unterhaltsame Sequenz mit mehrfacher weiblicher deutscher Beteiligung gibt es auch in Subodh Mukherjees APRIL FOOL (1964) mit Biswajeet und Saira Banu in den Hauptrollen. Da wird Saira Banu vom Bösewicht gefragt, ob sie vom Hotelzimmer nach unten gehen sollen, denn da wären Tanz und Musik. Und wupps, auf einmal sieht man einen Conférencier, der eine deutsche Badenixengruppe ansagt und man befindet sich in einem großen Schwimmbad, so eines von Sporthallengröße, wie es jedes gut geführte indische Hotel der 60er, das was auf sich hielt, unten im Keller direkt bei der Tanzbar hatte. Dann treten die deutschen Synchronschwimmerinnen auf, die jetzt zu verschiedenster Musik ein professionelles Wasserballett aufführen. Auch Saira Banu kommt noch dazu, hat ganz offensichtlich viel Spaß, die riesige Wasserrutsche herunterzuflutschen und versucht, mit ein bisschen Herumschwimmen, Esther Williams zu ähneln, was natürlich nicht funktioniert, aber ziemlich niedlich ist. Das ist ganz offensichtlich alles improvisiert. Und wenn man schon keine wirklich dolle Story hat, muss man das ja auch beherrschen. Macht das heute einer in Bollywood, wird es bloß ein schlechter Film. Doch was man damals machte, ist nicht immer großartig, nicht einmal immer gut, aber meistens irgendwie sehenswert charmant. Dafür hatte man ein Händchen – vielleicht auch manchmal zwei.

APRIL FOOL ist beileibe nicht der wichtigste Film von Regisseur Subodh Mukherjee, der in den Jahren 1955-1985 bei nur neun Filmen Regie geführt hat. Aber mit den zwei wichtigen Dev-Anand-Filmen MUNIMJI (1955) und PAYING GUEST (1957) und ganz besonders dem Shammi-Kapoor-Klassiker JUNGLEE – der mit dem befreienden Yahoo-Schrei im Schnee – hat er sich in die indische Filmgeschichte eingeschrieben. Mit einer modernen Kriminal-Romanze wie APRIL FOOL gehört er auch, wie Shakti Samanta, zu den Bindegliedern zwischen dem dunklen 40er- und 50er-Kriminalfilm von Stilisten wie Gyan Mukherjee und dem brutaleren, wirkungsvollen, aber oft völlig stillosen Masala-Thrillern der 70er, worauf es in APRIL FOOL mit brutaler Folter durch Elektroschock auch schon mal einen Vorgeschmack gibt.

Die erste Hälfte von APRIL FOOL (1964) ist eine romantische Komödie voller Missverständnisse und Lügen. Sie hält ihn für einen anderen. Er spielt mit, weil er sich auf den ersten Blick verliebt hat. Den Rest kann man sich denken. Da gibt es einige ganz amüsante Szenen, allerdings gehört die witzigste Szene einem ständig wütenden Ehemann, den seine Frau immer beruhigen muss und der sich als sein eigener Hausdiener verkleiden soll. Das ist wirklich komisch. Dazu hübsche Musik von Shankar-Jaikishan in Standardsituationen wie einer Bootsfahrt, dem Laufen um Bäume und durch bunte Blumengärten. Biswajeet hat hier eine Rolle im Stil von Dev Anand und vor allem Shammi Kapoor, und dieses Paar Schuhe ist nicht seine Größe. Biswajeet hat etwas Weiches, und der freche Kerl liegt ihm nicht wirklich. Aber irgendwie geht es halt. Wenn allerdings Biswajeet zu sehr Shammi Kapoors Tanzstil kopiert, möchte ich am liebsten weggucken. Das ist grässlich anzusehen, als wüsste er nicht, wohin mit Armen, Beinen, Körper. Unbeweglichere, ernstere, innerlichere Rollen hingegen passen ihm wie angegossen. In BEES SAAL BAAD (1962), nach Conan Doyles „Der Hund von Baskerville“ (1902), ist er perfekt besetzt. Daher ist es sicher kein Zufall, dass man ihm auch bei einem anderen schönen Mystery-Film, YEH RAAT PHIR NA AAYGI (1966), die Hauptrolle gab.

Dass Biswajeet etwas Altmodisches verkörperte und nicht der geeignetste Vertreter einer modern-poppigen Jugend war, hat natürlich auch der erfahrene Subodh Mukherjee erkannt, also gab er den zweiten Teil des Films an den wahren zeitgemäßen Hero des Films: an Saira Banu. Und das war eine großartige Idee, denn sie ist einfach die wandlungsfähigere Schauspielerin. Daher bekommt sie hier die Doppelrolle, wie sie sonst meistens die Männer spielen. Einmal die brave Beamtentochter und dann die lockerlebige Rita, natürlich eine Christin. Aber das ist Standard im alten Hindifilm, denn Hindumädchen sind immer brav und moralisch. Wusste früher jeder. Banu darf in dem Zusammenhang sogar eine üblicherweise für Tänzerinnen wie Helen reservierte erotische Nachtclub-Nummer tanzen, die ganz großartig ausgeleuchtet ist. Und Banu ist ausgezeichnet, wenn sie erst mal losgelassen.

Zu allem Überfluss will man hier dann auch noch kräftig patriotisch sein. Denn das ist das eigentliche Thema des zweiten Teils. Banus von Jayant gespielter Vater ist ein hoher Mann vom Geheimdienst und es geht um geheime Akten, die ständig gestohlen werden. 1964 befindet man sich schließlich mitten in einer Zeit der Kriege gegen aggressive Staaten wie Pakistan und China. Und so beschließt der Vater, notfalls nicht nur sein eigenes, sondern auch das Leben seiner Tochter zu opfern. Doch Biswajeet findet Auswege. Dies alles jedenfalls führt zu dem seltsamen Filmende, dass es erst einmal irgendwelche, nicht zu identifizierende Doku-Kriegsbilder, inklusive feierlichem Off-Sprecher, von der vermeintlichen Vernichtung des Feindes gibt, ohne im Übrigen diesen wirklich beim Namen zu nennen. Aber das richtige Ende sind dann noch ein paar Bilder und Takte aus einem Liebesduett des Films. Man kann die armen Zuschauer doch schließlich nicht mit Bildern der Zerstörung so einfach nach Hause gehen lassen.