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Donnerstag, 29. April 2021

Jabbar Patels DR. BABASAHEB AMBEDKAR – Für die Entrechteten

 

Weggejagt zu werden, kein Wasser zu trinken zu bekommen trotz fürchterlichen Durstes, das gehört zum üblichen Alltag des kleinen Bhimrao aus der Kaste der Unberührbaren. Doch eine der schlimmsten Demütigungen für dieses hochintelligente und an Bildung interessierte Kind ist es, die heiligen Schriften nicht auf Sanskrit lesen zu dürfen. Das ist dem Brahmanen-Monopol vorbehalten. Es gibt viele solcher kurzer Einblicke in Kindheit und Jugend von Bhimrao Ramji Ambedkar (1891-1956), dem unermüdlichen Menschenrechtsaktivisten nicht nur für seine eigene Kaste der Unberührbaren, auch beispielsweise für Frauen. Als kleine Rückblenden werden solche Schlüsselerlebnisse im Laufe des biografischen Spielfilms DR. BABASAHEB AMBEDKAR (2000) nach und nach eingefügt.

Ambedkar wächst hinein in ein erstarrtes System, das ihm als Schudra oder Unberührbaren – ich verwende die Begriffe, die im Film benutzt werden – jedes Bürgerrecht verwehren darf. Und diese filmischen Erinnerungsfetzen zeigen auch, dass die erlitttenen Ungerechtigkeiten immer in seinem Innersten präsent sind, dass sie sein ganzes Handeln bestimmen. Und nicht einmal ein zweifacher Doktorgrad aus den USA und Großbritannien an den angesehensten Unis bei weltweit anerkannten Professoren in Wirtschaft und Jura reichen dann in Indien aus, ihm ein auch nur annähernd normales Leben zu garantieren. Nach der Rückkehr aus dem Ausland erlebt er Entsprechendes im sehr hindu-orthodoxen Bundesstaat Gujarat. Dort hat er einen guten Posten bei einem Maharadscha, der ihm das Studium bezahlt hat, bekommt aber keine Wohnung. Der Film zeigt die Haltung gegenüber den Unberührbaren als tief in der Gesellschaft sitzendes geistiges Krebsgeschwür, das bekanntlich auch heutzutage noch kräftig wuchert.

Regie bei DR. BABASAHEB AMBEDKAR führte der Marathi-Regisseur Jabbar Patel, der für Film und Theater tätig ist. Es ist sogar sein zweiter Film über Ambedkar. 1991 drehte er unter demselben Filmtitel eine Ambedkar-Dokumentation für die Films Division, das staatliche Dokumentarfilminstitut. Es ist interessant, sich die beiden Filme hintereinander anzugucken und festzustellen, dass vieles direkt übernommen wurde und der Spielfilm sicher auch dadurch echte Substanz ohne Leerstellen hat, in den drei Stunden Laufzeit ungeheuer viel unterbringt, ohne dabei Klarheit und den Überblick zu verlieren. Wie bei solchen Filmen üblich, die einen weiten Zeitraum umfassen, gibt es eine Art Best-of der entscheidenden privaten und öffentlichen Stationen.

Gleichzeitig ist es auch ein visuell sehr sorgfältig gemachter Film. Es gibt ein authentisches, ganz natürliches Gefühl für die Vergangenheit, was mir besonders auch deshalb aufgefallen ist, da ich gerade zum ersten Mal die erste Staffel der überschätzten deutschen Serie BABYLON BERLIN (2017) geguckt habe, wo ich irgendwie bloß Schauspieler in Kostümen inmitten von geleckten Dekors gesehen habe. Die Innenräume in DR. BABASAHEB AMBEDKAR hingegen haben auf ganze natürliche Art dieses typisch warme gelbbraune Licht, diese Mischung aus braunen Möbeln, der Sonneneinstrahlung und der künstlichen Beleuchtung.

Die Hauptrolle als Ambedkar hat der südindische Star Mammootty. Er ist die Seele des Films. Er macht gar nicht viel. Aber Mammootty schafft es, die arbeitsame Besessenheit, die ständige Konzentration dieses pausenlos aktiven Mannes hinter der mitunter undurchdringlich scheinenden Fassade durchscheinen zu lassen. Umso bewegender sind dann die persönlichen Krisen, wenn der Tod – seines Kindes, seiner Frau – Ambedkar aus der Routine reißt, kleine emotionale Risse sichtbar werden und er fast nicht weiterarbeiten kann. Seine Familie hat er immer sträflich vernachlässigt. Nur im zweiten Teil des Films wirkt die hohe Stirn, die die zurückgehenden Haare hervortreten lassen, etwas zu hoch. Da könnte man den Verdacht bekommen, dass der Star seine eigene Haarpracht nicht zu sehr anrühren wollte für den Film.

Ambedkar beginnt mit der politischen Aktivierung der Kaste der Unberührbaren aus ihrem passivem Leidenszustand, schafft eine eigene Organisation. Und der Film hat keine Angst davor, theoretisch zu sein. Die Herkunft und Entwicklung des Schudra-Begriffes aus den heiligen Schriften wird ausführlich erläutert. Ist die indische Kastenunterteilung im Ursprung eine korrekte Beschreibung der menschlichen Gesellschaft, wo Schudra einfach Arbeiter bedeutet, verwandelte sie sich in eine Rechtfertigung für ein erstarrtes und mitleidloses System ökonomischer Ausbeutung und sadistischer Unterdrückung, wozu eine totale Undurchlässigkeit des Systems kam. Eine der besten und treffendsten Filme zu dem Thema ist Satyajit Rays im Netz zu findender Film SADGATI (1981) mit Smita Patil und Om Puri. Hier wird detailliert gezeigt, mit welcher Gleichgültigkeit ein Unberührbarer als reines Instrument missbraucht wird. In DR. BABASAHEB AMBEDKAR gibt es Vergleiche zu den Juden der Nazizeit und den Schwarzen in den USA vor den Bürgerrechtsgesetzen. Da die heiligen Schriften eine große Rolle bei der Rechtfertigung dieser Zustände spielen, veranstalten Ambedkar und seine Gefolgsleute eine provokative öffentliche Verbrennung von entsprechenden Zitaten.

Zunächst versucht Ambedkar im Kleinen, Rechte durchzusetzen, sei es an einem Unberührbaren verbotenen Teich, sei es beim Betreten eines Tempels. Aber irgendwann sieht er, dass mit diesem Kleinkrieg nichts gewonnen wird. Es kann nur um einen Anteil an der Macht im Staat gehen. Was ihn dann auszeichnet, ist zwar Gewaltlosigkeit, aber gleichzeitig eine intellektuelle Radikalität, die selbst der Kongresspartei Angst macht. Ohne falsche Rücksicht auf die Interessen der führenden Politiker fährt er nach London auf eine britische Regierungskonferenz, die vom Kongress boykottiert wird, und erobert dann alle Schlagzeilen und den Respekt der Briten. Schluss damit, die eigene Sache der paternalistischen Fürsorge oberer Kasten und ihrer sich nie erfüllenden Versprechen anzuvertrauen. Aus seinen Erfahrungen zieht er den berechtigten Schluss, dass die Unberührbaren sich auf niemand anderen, auf keine leeren Worte mehr verlassen dürfen.

Er provoziert bewusst mit seiner einfachen und korrekten Logik, sagt beispielsweise, er hätte kein Heimatland. Er will die Unberührbaren aus dem Hinduismus ausklammern und als eigene Wählerschaft anerkannt wissen. Gandhi hingegen will die Einheit des Hinduismus bewahren und greift zu seiner strategisch mitleiderregenden Lieblingswaffe, dem Hungerstreik. Hier wird der Film spannend wie ein Thriller, auch wenn man dessen Ausgang kennt: der Streit mit Gandhi um diese Machtverteilung. Ambedkars Logik ist, dass der Hinduismus Unberührbare nicht wie Menschen behandelt, sie also eine eigenständige Gruppe seien. Er scheut keine offenen Worte gegenüber dem Mahatma: „Mahatmas kommen und gehen, und sie hinterlassen meist nur Staub.“

Dennoch wird er später beauftragt, den Verfassungsentwurf für ein unabhängiges Indien auszuarbeiten. So gilt er heute vor allem als „Architekt der indischen Verfassung“. Und er ist derjenige, der mit seinem Satz „Ich werde nicht als Hindu sterben“ und seinem Übertritt zum Buddhismus den Unberührbaren den Religionswechsel als Lösung nahegelegt hat. Dass das die Probleme nicht löst, hat er vermutlich selbst geahnt. Die Unterdrückung endet dann ja nicht, wie das Beispiel Christentum zeigt: "Den historischen Auftrag des indischen Christentums, nämlich durch westlich geprägte Aufklärung und demokratische Grundhaltung gegen das Kastenwesen im Hinduismus, die Benachteiligung von Frauen und den Feudalismus vorzugehen, hat es weitgehend nicht erfüllen können. Stattdessen ist das Kastenwesen in die Mentalität auch der christlichen Bevölkerung eingedrungen. Über Generationen hinweg erinnern sich Christen ihrer Kaste vor der Bekehrung, so dass es also „christliche Brahmanen“ und „christliche Kastenlose“ gibt, die oft nicht untereinander heiraten und gesellschaftlich verkehren. Damit entfällt einer der ursprünglichen Gründe, weshalb Kastenlose und Stammesangehörige – die sogenannten „Dalits“ – zum Christentum konvertiert sind, nämlich um den Demütigungen des Kastenwesens zu entkommen." (aus: Martin Kämpchen,  "Die Kirchen gleichen sich den Kasten an", FAZ online 12.3.2019). Wie bei anderen Themen, muss man im Allgemeinen auch den westlichen Narrativen zu Indien und den Dalits misstrauen. Wenn sich also hinter einer deutschen Dalit-Unterstützungs-Organisation ein christliches Missionswerk mit seinen eigenen finsteren Interessen verbirgt, dann kann man indische Gesetze etwa zum Missionsverbot nicht bloß verstehen, sondern nur unterstützen.

Um aber zum Film zurückzukehren: Das einzig wirklich Störende an DR. BABASAHEB AMBEDKAR sind Teile des Soundtracks, wenn zwischendurch ein ungenießbarer Klangbrei aus Saxophon und Klaviermusik erklingt, was sich anhört, als habe man zufällig gerade eine CD mit irgendwelcher Fahrstuhlmusik herumliegen gehabt. Oder man hat dabei auf das internationale Publikum geschielt, wollte die Musik nicht zu indisch machen, doch das Kalkül ging nicht auf. Der auf Englisch gedrehte Film hatte außerhalb Indiens keine Kinopremiere. Was schade ist. Im heutigen Indien jedenfalls ist Ambedkar ziemlich populär. Gleich zwei TV-Serien handeln von ihm. Einmal EK MAHANYAK – DR. B R AMBEDKAR (seit 2019) und dann DR. BABASAHEB AMBEDKAR – MAHAMANVANCHI GAURAVGATHA (seit 2019). Die Serie hat mit 343 Episoden bemerkenswerte Seifenoperndimensionen.