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Samstag, 26. September 2020

Raj Kumar Guptas GHANCHAKKAR – Geld und Eifersucht

GHANCHAKKAR (2013) ist der einzige der fünf Spielfilme von Raj Kumar Gupta mit echten, starken Komödien-Elementen. Eigentlich hat er ja bisher vorwiegend sehr ernste Thriller-Dramen gedreht – fiktiv authentisch oder sogar direkt inspiriert von wirklichen Ereignissen – auch wenn sein bisher bestes Werk, der Steuerfahndungs-Film RAID (2018) mit Ajay Devgn, ausgeprägt absurd-komische Momente hat, wenn man etwa als Zuschauer aus dem Staunen über die erfindungsreichen Schwarzgeldverstecke auf dem Anwesen nicht herauskommt.

GHANCHAKKAR (2013) ist einer dieser schönen Filme, die zwischen den Stühlen sitzen und schwer einzuordnen sind, aber auch nicht zum Masala-Film gehören, wo ja so ziemlich alles erlaubt ist. Vielleicht eine Erklärung dafür, dass es leider nicht den eigentlich verdienten Erfolg gab. Es beginnt als Ehekomödie, wird dann zum heiteren Heist-Film und vermischt dann Ehe- und Eifersuchtsdrama mit dem Thriller-Genre, alles gewürzt mit krudem Humor. Ohne die Ehegeschichte wäre GHANCHAKKAR im Übrigen einer von vielen absurden Thrillern, bei denen in den Kritiken grundsätzlich mindestens einmal auf Tarantino verwiesen wird. Wer aber Entsprechendes in Reinform erwartet, der wird tatsächlich enttäuscht, denn lange Zeit dreht sich die Handlung bloß ziemlich still stehend im Kreis, während sich ein Ehedrama entspinnt. Und dann hat es zwischendurch mehr mit Claude Chabrols Eifersuchtsdrama DIE HÖLLE (1994) zu tun als mit oft zum Zynismus neigenden Thrillern.

Im Mittelpunkt steht ein Ehepaar: Emraan Hashmi als echt authentischer Ehemann wie aus dem Bilderbuch: träge und ständig vor dem Fernseher. Vieles lässt er einfach nur resigniert und regungslos über sich ergehen. Vidya Balan ist die muntere, quietschlebendige Ehefrau, die immer etwas overdressed die neuesten Sachen an der Grenze zur Geschmacklosigkeit trägt, denn ihre Nase steckt ständig in Zeitschriften wie Vogue und Femina. Und sie kann sehr böse werden, wenn jemand den Salzgehalt ihres gekochten Essens kritisiert.

Dann bekommt der Mann von zwei kleinen, etwas trotteligen, aber ganz und gar nicht ungefährlichen Gangstern das Angebot eines nächtlichen, sehr einträglichen Bankraubs, zu dem er nicht nein sagen kann. Die Frau gibt immerhin ordentlich Geld aus, und er selbst könnte einen neuen großen Fernseher gebrauchen. Vor allem die Aussicht auf Letzteres lässt sein sonst etwas apathisches Gesicht merklich aufleuchten. Nach dem Coup soll er das Geld aufbewahren. Drei Monate später wollen die anderen beiden das Geld teilen, aber der Mann hat aufgrund eines Unfalls das Gedächtnis verloren. Oder zumindest Teile davon. Das kann sich sehr unterschiedlich äußern, erläutert sein Arzt. Und tatsächlich wird es immer schlimmer mit ihm. Oder tut er nur so? Das fragt ihn selbst seine Frau, die ins Zweifeln geraten ist. Zweifel und Unsicherheit sind bis zum Schluss elementare Bestandteile von GHANCHAKKAR und sorgen für die bis zum Schluss anhaltende innere Spannung.

Raj Kumar Gupta erzählt das alles mit seinem gewohnten einfachen, direkten Realismus ohne Effekte. Es gibt nach und nach eine vorsichtige Steigerung der Intensität, des Rhythmus, ganz unmerklich. Die Suche nach dem vergessenen Geld ist eine ständige, erfolglose, absurde Wiederholung mit leichten Variationen, parallel zu seiner Vergesslichkeit. Mit dem steigenden Druck, endlich das geraubte Geld finden zu müssen, und seiner gleichzeitig immer schlimmeren Vergesslichkeit wird der Mann hilfloser, aber nach und nach auch aggressiver, was ja eigentlich ganz gegen seine Natur ist. Das ist eine Wut als Reaktion auf das Entgleiten seiner Welt. Hashmi ist ausgezeichnet. Und da seine Figur sonst so still ist, überzeugen die Ausbrüche um so mehr. Große Teile des Films sind reines Kammerspiel in der Mittelklasse-Wohnung des Ehepaares. Gupta behält die Zügel bis zum Schluss kontrolliert in der Hand, lässt die Story nicht entgleiten. Also auch wenn die Handlung am Ende in den Irrsinn abgleitet, bleibt alles übersichtlich. Und auf einen blutigen bizarren Höhepunkt folgt ein düsterer Anti-Klimax.

Aber GHANCHAKKAR ist eben auch der erwähnte Ehe- und Eifersuchtsfilm, ein Film über Misstrauen und Wirklichkeit. Denn je mehr der Mann vergisst, um so mehr bastelt er sich die Einzelteile, die er zufällig mitbekommt oder erfährt und die an die er sich erinnert oder nur zu erinnern glaubt, zusammen und trifft doch nie die Wahrheit. Dieses immer psychotischere, nur scheinbar sinnvolle Zusammenfügen einzelner Indizien, ergibt in Wirklichkeit eine total schiefe Fiktion, ein Wahnbild. Er beginnt mit kleinen Einbildungen und verliert sich in einem klebrigen Netz aus reinen Vorstellungen und falschen Schlüssen. Der Stress macht es natürlich nicht besser. Gupta geht hier wie nebenbei, im Rahmen von Genre-Elementen, sehr rational und unsentimental, aber unterlegt von stiller Tragik, mit dem Verlust des Ichs, der Persönlichkeit und der Vergangenheit um. Im weitesten Sinne gehört GHANCHAKKAR natürlich zu den modernen Demenz-Filmen, die aber immer ein bisschen auf die Betroffenheits-Tränendrüse drücken, was ein einfacher Weg ist. Aber auch GHANCHAKKAR erweist sich am Ende als ein trauriger Film.

Dienstag, 22. September 2020

Pradeep Sarkars COLDD LASSI AUR CHICKEN MASALA (Staffel 1) – Beziehungsberatung

Hindi-Regisseur Pradeep Sarkar hat am Anfang seiner Spielfilmkarriere – vorher war er erfolgreicher Werbefilmer – zwei ausgezeichnete Melodramen gedreht, die zu den schönsten Hindi-Filmen der letzten fünfzehn Jahre gehören und die man gesehen haben sollte: PARINEETA (2005) und LAAGA CHUNARI MEIN DAAG (2007). Und nach einem mittelmäßigen Krimi gab er dem Thriller MARDAANI (2014) mit Rani Mukherji genau das richtige subtile emotionale und visuelle Gerüst. Grund genug eigentlich, sich für seine weiteren Filme zu interessieren, aber langsam komme ich leider in Zweifel. Die letzten beiden Produktionen, in denen er Regie geführt hat, sind enttäuschend gewesen.

2018 drehte er mit Kajol die Komödie HELICOPTER ELA über eine Helikopter-Mama, die überall da hingeht, wo ihr Sohn auch hingeht. Und der Film war schwer aufzutreiben, richtig schwer. Um so größer dann die Enttäuschung. Vermutlich gibt es ja Hardcore-Kajol-Fans, die alles toll finden, was sie tut. Die dürfen gerne ihren Spaß haben. Was ich gesehen habe, war aber, dass die Hauptrolle von einer Frau gespielt wird, die aussieht wie Kajol und die so tut, als wäre sie die junge Kajol von KUCH KUCH HOTA HAI (1998), was ja doch eine ganze Zeit her ist. Und so hüpft da ein Kajol-Klon wie ein nicht zu bremsender Gummiball durch den Film. Das kann aber nicht Kajol sein. Denn die ist doch zu intelligent für so was. Alles in allem bloß eine Solo-Nummer, wo die eine oder andere Szene mal gelungen ist, aber das große Ganze enttäuscht.

Und dann drehte Sarkar 2019 die Fernsehserie COLDD LASSI AUR MASALA, eine 12-teilige Serie von etwa sechs Stunden über Kochen und Liebe. Eine verbitterte alleinerziehende Mutter arbeitet als Chefköchin in einem Restaurant, das die Besitzerin wegen zu viel Stress gerne verkaufen möchte. Gesagt, getan, es wird übernommen von einem internationalen, indischen Spitzenkoch, der ganz und gar zufällig der Ex-Mann der Köchin und Vater ihres Sohnes ist, den er noch nie zu Gesicht bekommen hat. Das wäre im Hollywood der 1940er eine „Comedy of Remarriage“ geworden. Heutzutage als Spielfilm eine unschlagbares Rezept für einen gut durchgekochten Feelgood-Film. In der modernen TV-Version ist es eine Soap mit Schmunzeleinlagen.

Die Handlung bietet eigentlich allenfalls Stoff für einen 2-Stunden-Bollywood-Film plus eine halbe Stunde Musik und Tanz. Das wäre vielleicht ganz nett geworden und vielleicht auch ein bisschen witziger. Aber bei 12 Folgen muss natürlich alles gedehnt werden. Die Szenen. Die Dialoge. Die Probleme. Überhaupt die ganze Handlung. Die Zweiteilung des Bollywood-Films wird hier verwandelt in eine Story mit ständigen Rückblenden, die nie aufhören und im Grunde doch immer wieder dasselbe zeigen. Für solch eine dramaturgische Folter hat man das Wort „Tautologie“ erfunden. Alles wird ohne Leerstellen direkt und platt serviert. Mein Wille, bis zum Ende durchzuhalten, um zu sehen, was Sarkar aus so etwas gemacht hat, wurde argst strapaziert. Manchmal, wenn die Beteiligten nicht aufhörten zu reden, malte ich mir aus, wie ein psychopathischer Humorist durch ein Fenster springt und allen einfach den Mund zuhält. Hätte ich Asthma, hätte ich vielleicht einen Anfall gekriegt.

Dabei ist alles durchaus elegant und schön gefilmt. Es könnte bestimmt viel kitschiger sein. Und auf das Essen hat man mit Hilfe von realen Kochprofis richtig viel Sorgfalt verwendet. Die Schauspieler sind sympathisch. Da erkennt man einige gute Ansätze, die das Serienformat an sich aber von alleine ruiniert. Das ist eben das moderne Serienproblem. Jede Form von Stil oder erzählerischer Ökonomie verschwindet unter dem Strom des endlosen und sinnlosen Erzählflusses. Kaum ist da mal ein Augenblick, der überzeugt, der echt wirkt, dann hört er nicht mehr auf. Er hört einfach nicht auf und alles verwandelt sich in unerträgliche Unnatürlichkeit und Gestelztheit und die Schauspieler wirken wie unfähige Amateure. Und dass es am Ende nicht auf das einfache Happy End zusteuert, hat ja auch nichts mit Ehrlichkeit zu tun. Man muss alles für eine mögliche zweite Staffel offenhalten.

Aber eigentlich zielt meine Kritik am Ziel vorbei. Denn eigentlich ist das weder ein Film noch eine Serie, sondern eine moderne Beziehungsberatung, auch wenn man am Sinn der Psycho-Operation zweifeln kann. Der obligatorische männliche Freund der weiblichen Hauptfigur ist ein Psychiater und so unterhalten sie sich auch ständig.

Sonntag, 20. September 2020

GANDHI TO HITLER – Ein Untergang mit Holi

 

Was die meisten nicht wissen: Es gibt eine Art Bollywood-Remake des deutschen Films DER UNTERGANG (2004), der bekanntlich Hitlers letzte Zeit im Berliner Bunker zeigt. Der von Rakesh Ranjan Kumar inszenierte indische Film von 2011 hat zwei Titel, einen indischen und einen internationalen: GANDHI TO HITLER und dann den irgendwie doch missverständlichen DEAR FRIEND HITLER. Vielleicht nicht die beste Idee, auch wenn der Ausgangspunkt für diese kreative Betitelung eines Bunker-Kriegsfilms zwei authentische Briefe sind, die Gandhi an Hitler geschickt hat mit der Bitte, er solle doch seine Untaten unterlassen. Wie im deutschen Original ist das Wichtigste des Films der Führer untertage mit seinen letzten Getreuen. Und natürlich dürfen die von Mama Magda ermordeten Kinder des Goebbels-Ehepaares nicht fehlen.

Oliver Hirschbiegels Film DER UNTERGANG (2004) hat also kräftig was angerichtet. Und nur der arme, naive Lars von Trier war so dumm, es laut auszusprechen und wurde gemeinerweise dafür in pseudobetroffener Manier abgestraft. Von „Mitleid mit Hitler“ in seinem Bunker hatte er auf einer Pressekonferenz in Cannes fabuliert. Aber das ist schließlich das Prinzip des Films. Denn diese Bernd-Eichinger-Produktion verwandelt Hitlers Ende unten im Bunker in eine Tragödie Shakespeareschen Ausmaßes in der Tradition der Königsschurken wie „Macbeth“ oder „Richard III.“ Als Alibi gibt es ja die Parallelmontage der fürchterlichen Gewalt in Berlin. Doch im Endeffekt dreht sich alles um Bruno Ganz' Darstellung und seinen immer mehr in sich zusammensackenden Führer, der endlich romantisch frei ist zu heiraten, um mit seiner Angetrauten Eva Braun ein paar Stunden später ins Germanen-Walhalla zu entschwinden. Deshalb ist G.W. Pabsts DER LETZTE AKT (1955) der bessere Film, denn im Mittelpunkt steht hier ein skeptischer Offizier, der Hitler sehen und sprechen muss, um ihn über die tatsächliche Kriegssituation aufzuklären. Aber der Führer ist längst wahnsinnig und nicht mehr normal ansprechbar. Da ist nichts Menschliches mehr, der Hass seiner Politik hat den letzten Verstand weggefressen. DER UNTERGANG mag aus überprüfbaren Fakten zusammengestückelt sein, aber die Wahrheit hinter dieser sichtbaren Wirklichkeit findet sich eher bei Pabst. Hitler hat bei ihm zumindest nichts mitleiderregend Tragisches.

Nichts Tragisches hat auch die Hitler-Figur in GANDHI TO HITLER, auch wenn die Zeichen des Tragischen imitiert, nachgespielt werden. Aber da die ganze Atmosphäre nur Schmierentheater ausstrahlt, ist es durch und durch eine unfreiwillige Satire, wirkt wie ein parodistisches, billiges Avantgardetheater. Aber er schimpft und schreit schön und keifend wie ein Rohrspatz. Und der Zuschauer amüsiert sich dabei ganz unanständig. Nebenbei bemerkt fühle ich mich nicht ganz wohl bei diesem Spott, denn eigentlich sind hier auch angesehene Schauspieler wie der Hitler-Darsteller Raghubir Yadav beteiligt. Aber sie waren nun mal dabei. Mitgefangen, mitgehangen. Einmal liest der Adolf dem Josef Goebbels etwas aus Shakespeare vor. Da wirkt der Adolf noch kleiner als sowieso. Denn eine faszinierende Besetzung in dem Film ist die von Goebbels. Ein großer stattlicher Model-Typ, gegen den der Gartenzwerg Adolf zwei Köpfe im Boden versinkt. Das ist umso lustiger, als dass der echte Hitler auf allen Fotos ein kleines Stück über seinen Propagandaminister hinausragt. Eva Brown ist hier ein echtes sexy Item-Girl wie aus einem Hindi-Film-Cabaret. Aus Albert Speers Nachname wurde übrigens Speers, vermutlich hatte da jemand zu viel Britney im Kopf. Dieser indische Hitler hat also schon rein äußerlich so gar nichts mit Bruno Ganz zu tun. Am ehesten erinnert er an den bekanntesten Hitler-Typ der indischen Filmgeschichte, den kleinen schimpfenden Gefängnisaufseher aus dem modernen Curry-Western SHOLAY (1975). Das ist so prägend, dass man sich wohl ganz automatisch daran orientierte. Oder man fand keinen anderen Darsteller. Das kann ja auch sein. Man hatte ja Anupam Kher gefragt, der aber sicher auch ohne Fanproteste rechtzeitig die Flucht ergriffen hätte.

Statt der Zerstörung Berlins, auch wenn es einige Archivaufnahmen vom Kriegsgeschehen gibt, zeigt der Film britisch-indische Soldaten, die sich als Kriegsgefangene der Deutschen von Subhash Chandra Bose verführen ließen, um mit den Deutschen den Freiheitskampf gegen die Engländer zu führen und die nach dessen Abreise aus Deutschland hilflos in der SS landeten. Im Film irren sie durch Europa, möchten zurück nach Indien und unterhalten sich in Form von Dialogen voller weiser Platitüden. Natürlich überlebt keiner die Odyssee. Sie müssen für ihren Glauben an die Gewalt dramaturgisch bestraft werden. Aber vorher ist der Film wirklich erfindungsreich. Rückblenden in die indische Vorkriegszeit gibt es. Und auf die Art schaffen die Macher es, in einen Hitler-Bunker-Film nicht nur eine bunte Holi-Szene, sondern ein ganzes Holi-Lied unterzubringen. Da möchte man begeistert Beifall klatschen, denn auf die Idee wären die Produzenten in dem Mel-Brooks-Film THE PRODUCERS (1967), die das geschmacklose Nazi-Musical „Frühling für Hitler“ auf die Beine stellen, zu Recht stolz gewesen.

Sowohl Hitler als auch die Soldaten haben eben nicht auf Gandhi und seine Ideologie der Gewaltlosigkeit gehört. Als Gegensatz zu Hitler steht hier der heilige Gandhi, der diese Ideologie vertritt und der hier ständig durch die Gegend wandert und weise Sprüche für seine hübschen weiblichen Gefolgsdamen absondert, darunter auch die Ehefrau eines der in Europa zugrunde gehenden indischen Soldaten. Man könnte die grobschlächtige pazifistische Logik des Films übrigens weiterspinnen und den Alliierten vorwerfen, dass sie überhaupt gegen Deutschland Krieg geführt haben. Wieso hat man nicht einfach pazifistische Menschenketten mit Kerzen in den Händen gegen die vorrückende Wehrmacht gebildet. Die wären bestimmt stehen geblieben, um bloß keinem weh zu tun. Und überhaupt die Juden. Die haben laut Gandhi ja sowieso alles falsch gemacht, wie er es zwar nicht in einem Brief, sondern in einem Interview 1946 formuliert hat: „Hitler hat fünf [sic] Millionen Juden getötet. Das ist das größte Verbrechen unserer Zeit. Aber die Juden hätten sich dem Schlachtermesser selbst opfern sollen. Sie hätten sich von Klippen ins Meer stürzen sollen … Es hätte die Welt und das deutsche Volk aufgeschreckt … So wie es ist, sind sie sowieso millionenfach erlegen.“ Um es mal frei mit Krishnamurti zu sagen: Eine reine Ideologie der Gewaltlosigkeit ist eben genauso dumm wie eine reine Ideologie der Gewalt. Genauso dumm wie der Film, dessen Macher aber die Bauernschläue besaßen, die Premiere auf den Filmmarkt in Cannes zu legen, sodass man zwangsläufig etwas von einer Uraufführung in Cannnes im Netz lesen kann, als wäre GHANDI TO HITLER Teil des Festivalprogramms gewesen. Was dieser seltsamen Skurrilität aber auch nichts genützt hat.

Freitag, 18. September 2020

Von PAGE 3 zu CALENDAR GIRLS – Die Glamourfilme von Madhur Bhandarkar

 

Endlich habe ich also CALENDAR GIRLS (2015) von Hindi-Regisseur Madhur Bhandarkar gesehen. 2015, als der Film in Indien im Kino anlief, plante ich schon scheinbar weitsichtig einen Artikel, aber der Film war so wenig erfolgreich bei Presse und Publikum, dass gar keine DVD herauskam, was vor fünf Jahren noch ungewöhnlich war, in Zeiten des Streamings für indische Filme aber bekanntlich völlig normal geworden ist. Aber das wäre ein Thema für einen gesonderten Blogbeitrag. Vor einiger Zeit also entdeckte ich CALENDAR GIRLS auf YouTube, sogar mit Untertiteln, und da ist er tatsächlich schon seit 2018 und hat mächtig viele Aufrufe, was natürlich nichts darüber sagt, wie viele Zuschauer ihn denn wirklich bis zum Ende geguckt haben.

Zumindest vorerst, zum jetzigen Zeitpunkt, erscheint CALENDAR GIRLS als Bhandarkars Abschluss einer Reihe von vier Filmen, die sich mit Frauen und Frauenberufen in der neuen indischen Glamourwelt beschäftigen. Zuvor gab es PAGE 3 (2005), FASHION (2008) und HEROINE (2012) – die Titel weisen ja schon ausreichend auf den Inhalt hin. Eine Welt, die so erst durch die wirtschaftliche Öffnung des Landes, die Erhöhung von Kaufkraft, den Import von westlichen Gütern seit der Liberalisierung der Wirtschaft in den 1990ern möglich wurde. Man schaue sich einmal den genialen Trash-Klassiker DISCO DANCER (1982) an, um zu sehen, wie man sich Glamour im alten Indien zusammenbasteln musste. Internationalisierung war eine der Liberalisierungs-Folgen, natürlich kam auch ausländisches Geld durch Investitionen in die indische Wirtschaft, so wie auch Bollywood-Filme mit fremdem Geld finanziert wurden. Aber trotz aller Modernisierung ist es eine Männerwelt, in der die weiblichen Hauptfiguren sich durchschlagen müssen, ob als Journalistin, Model, Schauspielerin.

Bhandarkar betrachtet diese Welten, eigentlich ja eine einzige große Welt, aus den verschiedensten Perspektiven, erzählt immer von vielen Personen gleichzeitig. Ein Kollektiv steht meist im Mittelpunkt oder die Heldin hat enge Freundinnen. Das Bemerkenswerteste der vier Filme liegt aber, unabhängig von der jeweiligen Qualität, darin, dass Bhandarkar nie zynisch wird. Das läge bei manchen Figuren, Schicksalen, Bereichen so nahe, aber er meidet es. Er zeigt zwar düstere Abgründe, beispielsweise in PAGE 3 einen pädophilen Unternehmer, der sich an den Schützlingen seiner Frau, die sich um ein Waisenhaus kümmert, vergeht. Das Böse wird bei Bhandarkar nicht sensationalistisch ausgeschlachtet, sicher auch einer der Gründe, warum die Filme so angenehm zu gucken sind. Das Motto „The show must go on“ gilt ohne Ausnahme.

Der Verzicht auf echte Schärfe nimmt dem Ganzen natürlich manchmal auch den Biss, und dann besteht durchaus die Gefahr, dass es seifenopernartig dahinplätschert. Dazu kommt, dass Bhandarkar mit persönlich-moralischer Kritik, nicht mit Systemkritik arbeitet. Wobei man anmerken muss, dass seine Filme im Vergleich zu anderen zeitgenössischen Bollywood-Produkten durchaus scharf wirkten. Sein Stil schwankt zwischen dicht, intensiv und analytisch einerseits und dem erwähnten sanften Dahinplätschern andererseits. Die richtige Mischung, der passende Rhythmus, der perfekte Schnitt entscheiden über den künstlerischen Erfolg, der unstreitig ungleich ist. Aber so kann Bhandarkar Gegensätze vereinen. Seine Filme bewegen sich völlig ungeniert und unverklemmt zwischen Exploitation und Anspruch, Glamour und Realismus, Schauwerten und Innerlichem, Seifenoper und Melodrama. Er versucht gar nicht erst, diese scheinbaren Widersprüche aufzulösen. Und vor allem sind es keine Anti-Glamour-Filme. Bhandarkar benutzt die bunte Bollywood-Ästhetik, hat ausreichend Musik, Songs, elegante Kleider, reiche schöne Menschen, dünn bekleidete Damen in seinen Filmen. Ungewöhnlich ist natürlich der gewisse Schuss Perversion.

Bhandarkar begann sein Eintauchen in die Glamourwelt mit PAGE 3. Hauptfigur ist eine Außenstehende, eine von Konkona Sen Sharma gespielte Klatschjournalistin, die für die „Seite drei“ einer Tageszeitung arbeitet. Und jeder will mit einem Foto auf diese Seite und ist nett zu ihr, als gehörte sie dazu. So bekommt sie einen Einblick in die Mumbai-High-Society-Welt aus Kapital, Politik und Bollywood. Ein großes künstliches, oberflächliches, absurdes Theater ohne jeden Wert an sich, vor allem aufgeführt für diese Klatschseite, heutzutage für das Internet. Bhandarkar zeigt all die internen Verflechtungen. Am Ende wendet sich die Journalistin ab. Es ist einfach zu verlogen und zu pervers. Und eigentlich wissen es alle. PAGE 3 ist nebenbei auch ein politischer Film, aber der Blick einer Klatschjournalistin steht nun mal im Mittelpunkt.

Dann folgte FASHION (2008) mit Priyanka Chopra. Der Film spielt natürlich mit Chopras eigenem Werdegang, weg vom Akademischen hin zum Modeln, nachdem sie im Jahre 2000 Miss World geworden war. Sie spielt ein selbstsicheres Model aus der Provinz auf dem Weg zum Erfolg. Ganz oben erwischt die böse Hybris sie. Sie fühlt sich unangreifbar und unersetzlich. Ganz unten angekommen, wagt sie den schwierigen Neuanfang. Die Welt der Mode wird nicht an sich denunziert. Bhandarkar zeigt viele nette Leute, auch Models, die sich untereinander helfen. Winding Refns Bitch-Models aus NEON DEMON (2016) sind hier weit weg. Das Problem der Hauptfigur liegt in ihr selbst. Der Film ist aber ein bisschen zu lang und dehnt die Probleme unnötig.

In HEROINE (2012) mit Kareena Kapoor geht Bhandarkar noch ein Stück weiter. Diesmal zeigt er eine Frau, die tatsächlich gestört ist, weil sie einen Job macht, der eigentlich nichts für sie ist. Filmheldin sein hat einen Selbstzweck, mehr nicht. Sie ist unsicher, besitzergreifend und greift zu jeder Waffe, die ihr helfen kann. Aber eigentlich ist sie ein ferngesteuertes Starkid. Die Mutter war schon Schauspielerin. Sie beißt sich durch, fällt tief, steigt wieder auf, verliert fast ihre Seele. Wie die Hauptfigur von PAGE 3 wendet sie sich am Ende ab, ihr Heldinnen-Ich hinter sich lassend. Vielleicht ist es der beste der vier Filme, weil es die Welt ist, die Bhandarkar am besten kennt.

Mit den Vorgängerfilmen verglichen ist CALENDAR GIRLS enttäuschend, denn hier herrscht am meisten die dahinplätschernde Seifenoper vor. Die Elemente der Handlung wirken teilweise wie brav zusammengefügte Standards. Eine Gruppe von Frauen, die Models für einen populären Jahreskalender, werden über ein Jahr hinweg begleitet. Ein Jahr, in dem sie etwas aus sich machen können, bis der nächste Kalender kommt und sie vergessen sein werden. Die Storys schwanken zwischen Erfolg, Scheitern und Tod. Aber der Film ist am schönsten, wenn er ironisch und komisch wird. Wenn der ganze Film diesen Ton hätte, wäre er großartig. Da ist die Wettbetrügerin, die durch eine Reality Show berühmt wird. Oder die angehende Schauspielerin, eine faszinierend  perfekte Karrieristin, die Bhandarkar – ja, er spielt sich hier selbst – geschickt ihre Verehrung ausspricht, die immer weiß, was sie sagen soll, wie sie nett sein soll, die sich Freunde machen kann, sodass jeder über sie sagt: „Die wird groß herauskommen.“ Aber es gibt in der Story eben auch das banal Vorhersehbare. Das Tragische lässt einen hier leider kalt. Und immer gilt: Zwar ist der Mensch auch Spielball der unvorhersehbaren Umstände, aber im Endeffekt sind es die eigenen Entscheidungen, die seinen Weg ausmachen. Trotz aller nackter Haut und unanständiger Geschichten ist Bhandarkars Kino im Kern sehr konservativ. Es ist moralisch, ohne moralisierend zu sein.

Mittwoch, 16. September 2020

MERSAL und BIGIL – Atlees Masala-Spektakel

Der Tamil-Regisseur Atlee Kumar – im Allgemeinen einfach Atlee genannt – wurde mit seinen letzten beiden Filmen MERSAL (2017) und BIGIL (2019) zu einem der erfolgreichsten südindischen Regisseure. Geholfen hat dabei natürlich die Tatsache, dass Publikumsliebling (Josef) Vijay jeweils die Hauptrolle innehatte, oder, besser im Plural formuliert, die Hauptrollen, denn eine reicht hier nicht. Atlee hat ihm zwei maßgeschneiderte filmische Hero-Solo-Nummern angepasst, einmal in drei-, dann in zweifacher Vijay-Ausfertigung, das heißt, wenn ich mich nicht verzählt habe ... Genügend Gelegenheit für Vijay, seine Hero-Figur in verschiedenen Variationen und Versionen auszuspielen.

Es handelt sich bei MERSAL und BIGIL um zwei waschechte Masala-Filme mit sozialen, politischen Themen, die irgendwie hier auch ihren Platz finden und dabei sogar auf eine recht glaubwürdige Art und Weise. Einfach nur einen kapitalistischen Bösewicht oder einen abstrakten Supergangster auf die ausgebeutete Welt loszulassen, das reicht heute nicht mehr. Ein bisschen spezifischer muss es schon sein. Selbst wenn das Wichtigste dann doch das große, bunte, knallige Gesamtkunstwerk-Masala-Spektakel ist. Es sind Filme mit nicht nacherzählbarer Handlung, einfach unmöglich, man würde sich grausam verheddern und außerdem kommt es darauf gar nicht an. Das Wie ist entscheidend. Viel Phantasie, viele irre Überraschungen. Viele Songs, viel Tanzen. Kein dramatischer und visueller Effekt wird ausgelassen. Sogar mit dem komischen Sidekick neben dem Helden arbeitet Atlee. Da fällt einem erst auf, wie vergleichsweise selten das geworden ist. Also im Vergleich zu früher.

Es gibt die klassische Aufteilung in scheinbar uneinheitliche Einzelteile, sodass für jeden Geschmack etwas dabei ist. Für Abwechslung ist gesorgt. Ob irgendjemand dabei noch an die acht Rasas, die obligatorischen Stimmungen des klassischen indischen Theaters denkt, weiß ich nicht. Aber auf unbewusste Weise sind sie sicher bei den Machern und beim Publikum präsent. Es hat ja nebenbei auch etwas ganz Praktisches. Gefällt einem etwas nicht, weiß man ja immer, gleich macht es irgendwie knall, Schnitt oder etwas Ähnliches, und es kommt was anderes. Aber gleichzeitig merkt man, dass der Wahnsinn hier geplante Methode hat. Es wird sehr auf das richtige Gleichgewicht zwischen den einzelnen Teilen geachtet. In der Beziehung sind die Filme wirklich sehr konstruiert geschrieben und bis ins Letzte durchkalkuliert. Und ich bin mal die Filmliste in diesem Blog durchgegangen. In den letzten zwei Jahren habe ich so etwas in dieser Art nicht als Hindifilm gesehen. In globalisierten Bollywood passt man sich immer mehr der klassischen internationalen Dramaturgie an. Im Guten wie im Schlechten. Viele Mainstream-Filme bemühen sich heutzutage einfach um erzählerische Einheitlichkeit, auch eine gewisse Glaubwürdigkeit. Es wird spannend zu sehen sein, was bei Atlees gerade angekündigtem Hindi-Filmprojekt mit Shah Rukh Khan und Deepika Padukone herauskommt.

MERSAL (2017) hat als soziales indisches Thema „Medizin als Geschäft“ und ist erfreulich drastisch in seiner Darstellung. In der Rahmenhandlung geht es um Serienentführungen und Ermordungen von medizinischem Personal, hauptsächlich Ärzten. Es ist ein Film, der für kostenlose medizinische Grundversorgung plädiert. Da fallen dann aber auch so schöne Sätze wie die Erkenntnis, dass die medizinische Vorsorge erfunden wurde, um Menschen in Patienten zu verwandeln. Es gibt in dem Film zwei Operationen, die nichts für zarte Gemüter sind, und ich könnte mir vorstellen, dass diese auf wahren Geschichten beruhen. Perverseste Geschäftspraktiken zeigt der Film: Da sind korrupte Ambulanzfahrer, die ins teure, weiter entfernte Privatkrankenhaus fahren, während der Patient im Überlebenskampf wichtige Zeit verliert. Es werden unnötige Operationen unternommen, um Geld abzukassieren. Leichen werden einbehalten, solange die Kosten einer OP nicht bezahlt sind.

Alles beginnt mit einem Prolog in Frankreich und ist erst mal mächtig antifranzösisch – ist das jetzt antiweißer Rassismus? – aber das verblasst (das Wort gönne ich mir hier mal) schnell angesichts des wahren Bösewichts, denn der ist indischer Geschäftsmann-Arzt. Dieser Europateil ist der schwächste Abschnitt des Films, und ich habe mich während des Guckens gefragt, was das eigentlich soll, aber irgendwann wurde mir klar, dass man Abwechslung und westliche Eleganz brauchte für den dreifachen Vijay. Der spielt einen Vater und seine zwei Söhne, die nicht mal Zwillinge sind, aber natürlich sind sie sich ähnlicher als ein Überraschungsei dem anderen. Und mit dem Thema Zirkus-Zauberei und den Quasi-Zwillingsbrüdern, kann man durchaus an Nolans THE PRESTIGE (2006) denken, vielleicht aber auch bloß an DHOOM 3 (2014).

BIGIL (2019) hat als soziales Thema „Sport als Geschäft und Politikum“. Es geht nicht so brutal zu wie in MERSAL, aber die Kritik geht dennoch ans Eingemachte. Vijay spielt einen Gangsterboss und dessen Sohn, einen brillanten Fußballspieler, dessen Karriere von Bürokraten verhindert wird. Der Sohn soll eigentlich nach dem Wunsch des Vaters später etwas Legales machen, aber es kommt anders, als man denkt. Und ein paar Jahre später darf der Sohn Buße üben, indem er als Trainer eine Frauenfußballmannschaft zu einem wichtigen Turnier führt. Da bleibt dann etwas Zeit für Frauenrechte, und sogar das Thema Säureattentat wurde untergebracht. Leider konnte man sich eine große Überwindungs- und Vergebungsszene nicht verkneifen, wo alle klatschen; ist halt ein bisschen verlogen, zumindest vor Gericht hätte der Täter doch gehört. Was ist das für ein Beispiel? Das ist dieselbe Versöhnlichkeit wie in UYARE (2019). Meine ausführlicheren Gedanken dazu findet man im entsprechenden Blogbeitrag.

Was man an diesen beiden Filmen aber auch sieht, ist die destruktive Gefahr des Digitalen. Zu viel ist möglich. Und was möglich ist, macht man. Und manchmal wird die Grenze einfach überschritten und es nervt. Es tendiert manchmal zur Überperfektion, zum Durchlackierten, Gelackten. Es ist nicht beeindruckend, sondern ermüdend, weil man bloß noch eine Aneinanderreihung von digitalen Effekten sieht. Die größte Schwäche des Films ist dann ausgerechnet der Höhepunkt, das Fußballturnier, das in großen Teilen einfach ein künstliches Videospiel ist. Besonders bei den Totalen sieht man das deutlich. Im Kino fällt das wahrscheinlich noch mehr auf. Der Versuch, alles zu zeigen, hat also den genau gegenteiligen Effekt. Es erzeugt manchmal ein ästhetisches und emotionales Nichts. Überhaupt strahlen die gesamten Sportszenen eine gefrierende Seelenlosigkeit aus, die den Film nur deshalb nicht ruiniert, weil sie eben nur einen Teil davon ausmachen. Nichtsdestotrotz ist Atlee ein spannender, unterhaltsamer, technisch guter, einfallsreicher Regisseur, der Masala-Kino vor allem – und das ist das Schönste – ohne Komplexe und mit spürbarem Respekt für das Publikum macht.