Vor einem
Regierungsgebäude in Delhi findet eine wütende Großdemo wegen
eines brutalen Vergewaltigungsfalles statt, dessen Opfer zwischen
Leben und Tod schwebt und dessen Ausgang über den Fortbestand der Regierung
entscheiden kann. Schließlich kommt es zu echten Aggressionen, ganz
vorne wollen wütende junge Männe die Polizeisperre durchbrechen. Am Rande dieser lauten politischen Veranstaltung wird in
Meghna Gulzars CHHAPAAK (2020) das Thema Säureattacken sehr leise
eingeführt. Ein schüchterner älterer Mann hält ein kleines
Passfoto von einem Opfer vor die Kamera. Damit erzeugt er zunächst
wenig Interesse bei der professionellen Journalistin, die weiß,
womit man Einschaltquoten erzeugt und womit nicht.
Im Kern ist CHHAPAAK ein
Biopic. Die Geschichte beruht auf dem Fall von Laxmi Agarwal, die
erst 15 war, als ihr im Jahre 2005 von einem 32-jährigen Vertrauten
der Familie gemeinsam mit der kriminellen Lebensgefährtin des
Bruders Säure ins Gesicht geschüttet wurde. Sie hatte sich an
seinen Annäherungen nicht interessiert gezeigt. Der Film hält sich
an die Fakten, nimmt sich nur bei der Chronologie einige Freiheiten. Und die Namen wurden geändert. Im Film heißt das
Opfer Malti. Laxmi Agarwal, die sich übrigens im Vorfeld positiv
über das Projekt mit Deepika Padukone in der Hauptrolle äußerte
und sich angemessen bezahlt fühlt von den Produzentinnen, ist eine
passende Wahl für einen solchen Film. Bei ihr verbinden sich
persönliches Schicksal, politisches Engagement und eine nationale und sogar internationale Bekanntheit, an die man für einen Film anknüpfen kann.
Sie ist unter anderem die Initiatorin der Kampagne für das Verbot
des Verkaufs von Säure. Deepika Padukone spielt sie voller
Zurückhaltung und sehr innerlich, mit all den widersprüchlichen Emotionen, die solch eine Tat beim Opfer erzeugt. Vor allem spielt sie sie völlig
normal, ohne irgendwelche schauspielerischen Tricks. Sie verschwindet hinter der Figur.
Es liegt auf der Hand,
dass man in Zusammenhang mit dem Film vor allem über Inhalte redet,
so wie ich es direkt nach der Kinovorstellung im Café die Straße
runter in Form von ein paar Gesprächsfetzen vom Nachbartisch
mitbekam. Es ist einfach schwierig, bei diesem Thema beim rein Filmischen zu
bleiben und nicht ständig ins Grundsätzliche abzuschweifen. Um
keinen Unsinn zu schreiben, habe ich ja auch einige Artikel im
Internet gelesen. Aber CHHAPAAK ist trotz aller Authentizität eben
doch mehr, mehr als eine einfache Lebensbeschreibung und ein
geschicktes Propagandastück, um endlich das völlige Verbot des
Verkaufs von Säure in Indien durchzusetzen.
CHHAPAAK ist trotz des
Themas ein sehr ruhiger, nüchterner und unaufgeregter Film, der den Zuschauer in Ruhe
lässt und nicht ständig erzählerisch an der Hand führt, was ja das Prinzip
des klassischen Storytellings ist. Natürlich löst der Film
Emotionen aus, aber sehr dezent und leise, und es ist oft nicht so
sehr der Film, der direkt emotional ist, sondern er erzeugt Emotionen
ganz einfach durch die Fakten, durch das, was da ist. Ein stiller Schmerz zieht sich durch den Film, untestützt durch die Lieder im Hintergrund mit den Texten des Vaters der Regisseurin. Es gab letztes Jahr
übrigens den Malayalam-Film UYARE über ein Säureopfer, bei dem man sich nur die Inhaltsangabe durchlesen muss, um zu sehen, dass dieser
ganz anders, also traditioneller funktioniert. Da wird die Regel, den
Zuschauer mit einem guten Gefühl zurückzulassen, eingehalten, da
das Opfer am Ende eine große Tat vollbringt, wodurch sich Probleme lösen.
Aber Meghna Gulzar geht es eben nicht um ein einzelnes Schicksal, sondern um das große Ganze. Konsequent torpediert der äußerst gelungene Schluss
von CHHAPAAK den, angesichts der Umstände,
harmonischen Verlauf des Lebens von Malti, die eine stille
Liebesgeschichte mit einem sozialen Aktivisten erlebt. Plötzlich wird
eine Hochzeit gezeigt, aber die von einer dem Zuschauer fremden Frau
in einer fremden Familie. Ein wahrer Fall: Ein maskierter Mann
springt ins Bild und bewirft die Braut mit Säure, die in der Folge
daran gestorben ist, wie ein Text vor dem Nachspann informiert. Es hört nicht auf. Und es hat zugenommen in Indien.
Zurückhaltend
dauert es am Anfang etwas, bis wir uns Hauptfigur Malti nähern. Und
die konkrete Vorgeschichte der Tat wird sowieso erst ganz am Ende
gezeigt. Was man zunächst bloß sieht, ist eine junge Frau, die unter
offensichtlich entsetzlichen Qualen mitten am Tag mitten auf der
Straße steht. Das alles in Zeitlupe, weil es sich sicher wie eine
Ewigkeit anfühlt, so wie alles, was danach an Qualen kommt. In einem
düsteren Moment wird sie später eine Frau beneiden, die durch die
Säure gestorben ist. Man sieht Malti schreien, bewegungslos da
stehen, sich winden, auf die Knie fallen. Die Menschen schauen
regungslos zu. Aber ein Taxifahrer, ein Sikh, weiß sofort, was los ist. Er
nimmt eine Flasche Wasser und gießt es ihr an den Haaransatz, damit
die Flüssigkeit über das Gesicht laufen kann. Genau die richtige
Maßnahme.
CHHAPAAK präsentiert ein
Mosaik aus verschiedenen Aspekten, die ein abstraktes, großes
Gesamtbild entstehen lassen. Ein Mosaik, das der Zuschauer selbst
zusammensetzen muss. Fast alles in der Geschichte von Malti bekommt
etwas Allgemeines, weist über diese eine Geschichte hinaus. Durch
die Arbeit der Organisation erfährt man noch zusätzlich etwas über
andere Fälle, so wie den der beiden Dalit-Mädchen aus Patna, die
nur deshalb Säure ins Gesicht bekamen, weil sie eine Ausbildung
machen wollten. Viele Aspekte des Themas werden deutlich. Es geht um das Juristische, sowohl im langjährigen Prozess gegen die Täter
als auch um die Anstrengungen für Gesetzesänderungen, wo das
Politische und das Mediale dazukommen.
Neben dem rein Persönlichen
geht es um die Familie, um andere Familienmitglieder, die
vernachlässigt werden, um das Geld, das man für Behandlung und
Operationen braucht. Aber auch darum, dass die Täter meist aus dem
nächsten Umkreis stammen. Und es geht um das Chirurgische, die vielen Operationen, das Ästhetische, wenn
Malti ein Kind anlächelt, das zurückguckt und losschreit. Aber sie
selbst hat ja geschrien, als sie sich im Spiegel sah. Dahin, dass nur innere Werte zählen, ist es weit. Vor allem, da in Indien oft erwartet wird, dass
Säureopfer sich nicht zeigen oder sich verhüllen. Und es geht
natürlich um das Weiterleben der Opfer. Es wird gezeigt, dass das
durchaus möglich ist, aber unter so schweren Bedingungen, wie die
lange erfolglose Jobsuche von Malti zeigt.
Und es geht um Geschlechterrollen, Geschlechterverhältnisse, denn die Opfer dort sind fast immer Frauen. Es gibt in CHHAPAAK
erfreulich wenig Interesse für die Täter und ihre Psychologie.
Täterpsychologie kann gefährlich sein, denn vom Verstehen zum
Entschuldigen ist es nicht weit. Es wird nur ganz kurz darüber geredet, dass das Böse ja jeder in sich
hat, es aber unmöglich zu theoretisieren ist, wieso es
wann bei wem herausbricht. Aber gleichzeitig verzichtet CHHAPAAK auf
Dämonisierungen. Die Täter sind scheinbar ganz normale Männer.
Vielleicht sind sie normalerweise nicht viel anders als die, die man am Anfang auf der
Anti-Vergewaltigungsdemo sah. Auch der spätere Täter spielt sich
einmal als Beschützer für Malti auf. Die männliche Sorge um
weibliche Moral kann auch eine Inbesitznahme sein. Da reimt sich dann Beschützer
auf Besitzer. Doch auch Frauen sind
beteiligt. Nicht nur die Lebensgefährtin des Bruders. Da erlebt man
eine monströse Kopftuch-Matriarchin, die Mutter des Täters. Es sind schließlich auch die Mütter,
die ihre Söhne zu dem machen, was sie sind und was in ihnen steckt. Es gibt hier keine einfachen Wahrheiten oder Lösungen. CHHAPAAK macht es dem Zuschauer nicht leicht und geht manchmal an die Schmerzgrenze der Erkenntnis. Das ist seine ganz besondere Qualität.