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Dienstag, 14. Januar 2020

Meghna Gulzars CHHAPAAK – Säureopfer

Vor einem Regierungsgebäude in Delhi findet eine wütende Großdemo wegen eines brutalen Vergewaltigungsfalles statt, dessen Opfer zwischen Leben und Tod schwebt und dessen Ausgang über den Fortbestand der Regierung entscheiden kann. Schließlich kommt es zu echten Aggressionen, ganz vorne wollen wütende junge Männe die Polizeisperre durchbrechen. Am Rande dieser lauten politischen Veranstaltung wird in Meghna Gulzars CHHAPAAK (2020) das Thema Säureattacken sehr leise eingeführt. Ein schüchterner älterer Mann hält ein kleines Passfoto von einem Opfer vor die Kamera. Damit erzeugt er zunächst wenig Interesse bei der professionellen Journalistin, die weiß, womit man Einschaltquoten erzeugt und womit nicht.

Im Kern ist CHHAPAAK ein Biopic. Die Geschichte beruht auf dem Fall von Laxmi Agarwal, die erst 15 war, als ihr im Jahre 2005 von einem 32-jährigen Vertrauten der Familie gemeinsam mit der kriminellen Lebensgefährtin des Bruders Säure ins Gesicht geschüttet wurde. Sie hatte sich an seinen Annäherungen nicht interessiert gezeigt. Der Film hält sich an die Fakten, nimmt sich nur bei der Chronologie einige Freiheiten. Und die Namen wurden geändert. Im Film heißt das Opfer Malti. Laxmi Agarwal, die sich übrigens im Vorfeld positiv über das Projekt mit Deepika Padukone in der Hauptrolle äußerte und sich angemessen bezahlt fühlt von den Produzentinnen, ist eine passende Wahl für einen solchen Film. Bei ihr verbinden sich persönliches Schicksal, politisches Engagement und eine nationale und sogar internationale Bekanntheit, an die man für einen Film anknüpfen kann. Sie ist unter anderem die Initiatorin der Kampagne für das Verbot des Verkaufs von Säure. Deepika Padukone spielt sie voller Zurückhaltung und sehr innerlich, mit all den widersprüchlichen Emotionen, die solch eine Tat beim Opfer erzeugt. Vor allem spielt sie sie völlig normal, ohne irgendwelche schauspielerischen Tricks. Sie verschwindet hinter der Figur.

Es liegt auf der Hand, dass man in Zusammenhang mit dem Film vor allem über Inhalte redet, so wie ich es direkt nach der Kinovorstellung im Café die Straße runter in Form von ein paar Gesprächsfetzen vom Nachbartisch mitbekam. Es ist einfach schwierig, bei diesem Thema beim rein Filmischen zu bleiben und nicht ständig ins Grundsätzliche abzuschweifen. Um keinen Unsinn zu schreiben, habe ich ja auch einige Artikel im Internet gelesen. Aber CHHAPAAK ist trotz aller Authentizität eben doch mehr, mehr als eine einfache Lebensbeschreibung und ein geschicktes Propagandastück, um endlich das völlige Verbot des Verkaufs von Säure in Indien durchzusetzen.

CHHAPAAK ist trotz des Themas ein sehr ruhiger, nüchterner und unaufgeregter Film, der den Zuschauer in Ruhe lässt und nicht ständig erzählerisch an der Hand führt, was ja das Prinzip des klassischen Storytellings ist. Natürlich löst der Film Emotionen aus, aber sehr dezent und leise, und es ist oft nicht so sehr der Film, der direkt emotional ist, sondern er erzeugt Emotionen ganz einfach durch die Fakten, durch das, was da ist. Ein stiller Schmerz zieht sich durch den Film, untestützt durch die Lieder im  Hintergrund mit den Texten des Vaters der Regisseurin. Es gab letztes Jahr übrigens den Malayalam-Film UYARE über ein Säureopfer, bei dem man sich nur die Inhaltsangabe durchlesen muss, um zu sehen, dass dieser ganz anders, also traditioneller funktioniert. Da wird die Regel, den Zuschauer mit einem guten Gefühl zurückzulassen, eingehalten, da das Opfer am Ende eine große Tat vollbringt, wodurch sich Probleme lösen.

Aber Meghna Gulzar geht es eben nicht um ein einzelnes Schicksal, sondern um das große Ganze. Konsequent torpediert der äußerst gelungene Schluss von CHHAPAAK den, angesichts der Umstände, harmonischen Verlauf des Lebens von Malti, die eine stille Liebesgeschichte mit einem sozialen Aktivisten erlebt. Plötzlich wird eine Hochzeit gezeigt, aber die von einer dem Zuschauer fremden Frau in einer fremden Familie. Ein wahrer Fall: Ein maskierter Mann springt ins Bild und bewirft die Braut mit Säure, die in der Folge daran gestorben ist, wie ein Text vor dem Nachspann informiert. Es hört nicht auf. Und es hat zugenommen in Indien.

Zurückhaltend dauert es am Anfang etwas, bis wir uns Hauptfigur Malti nähern. Und die konkrete Vorgeschichte der Tat wird sowieso erst ganz am Ende gezeigt. Was man zunächst bloß sieht, ist eine junge Frau, die unter offensichtlich entsetzlichen Qualen mitten am Tag mitten auf der Straße steht. Das alles in Zeitlupe, weil es sich sicher wie eine Ewigkeit anfühlt, so wie alles, was danach an Qualen kommt. In einem düsteren Moment wird sie später eine Frau beneiden, die durch die Säure gestorben ist. Man sieht Malti schreien, bewegungslos da stehen, sich winden, auf die Knie fallen. Die Menschen schauen regungslos zu. Aber ein Taxifahrer, ein Sikh, weiß sofort, was los ist. Er nimmt eine Flasche Wasser und gießt es ihr an den Haaransatz, damit die Flüssigkeit über das Gesicht laufen kann. Genau die richtige Maßnahme.

CHHAPAAK präsentiert ein Mosaik aus verschiedenen Aspekten, die ein abstraktes, großes Gesamtbild entstehen lassen. Ein Mosaik, das der Zuschauer selbst zusammensetzen muss. Fast alles in der Geschichte von Malti bekommt etwas Allgemeines, weist über diese eine Geschichte hinaus. Durch die Arbeit der Organisation erfährt man noch zusätzlich etwas über andere Fälle, so wie den der beiden Dalit-Mädchen aus Patna, die nur deshalb Säure ins Gesicht bekamen, weil sie eine Ausbildung machen wollten. Viele Aspekte des Themas werden deutlich. Es geht um das Juristische, sowohl im langjährigen Prozess gegen die Täter als auch um die Anstrengungen für Gesetzesänderungen, wo das Politische und das Mediale dazukommen. 

Neben dem rein Persönlichen geht es um die Familie, um andere Familienmitglieder, die vernachlässigt werden, um das Geld, das man für Behandlung und Operationen braucht. Aber auch darum, dass die Täter meist aus dem nächsten Umkreis stammen. Und es geht um das Chirurgische, die vielen Operationen, das Ästhetische, wenn Malti ein Kind anlächelt, das zurückguckt und losschreit. Aber sie selbst hat ja geschrien, als sie sich im Spiegel sah. Dahin, dass nur innere Werte zählen, ist es weit. Vor allem, da in Indien oft erwartet wird, dass Säureopfer sich nicht zeigen oder sich verhüllen. Und es geht natürlich um das Weiterleben der Opfer. Es wird gezeigt, dass das durchaus möglich ist, aber unter so schweren Bedingungen, wie die lange erfolglose Jobsuche von Malti zeigt.

Und es geht um Geschlechterrollen, Geschlechterverhältnisse, denn die Opfer dort sind fast immer Frauen. Es gibt in CHHAPAAK erfreulich wenig Interesse für die Täter und ihre Psychologie. Täterpsychologie kann gefährlich sein, denn vom Verstehen zum Entschuldigen ist es nicht weit. Es wird nur ganz kurz darüber geredet, dass das Böse ja jeder in sich hat, es aber unmöglich zu theoretisieren ist, wieso es wann bei wem herausbricht. Aber gleichzeitig verzichtet CHHAPAAK auf Dämonisierungen. Die Täter sind scheinbar ganz normale Männer. Vielleicht sind sie normalerweise nicht viel anders als die, die man am Anfang auf der Anti-Vergewaltigungsdemo sah. Auch der spätere Täter spielt sich einmal als Beschützer für Malti auf. Die männliche Sorge um weibliche Moral kann auch eine Inbesitznahme sein. Da reimt sich dann Beschützer auf Besitzer. Doch auch Frauen sind beteiligt. Nicht nur die Lebensgefährtin des Bruders. Da erlebt man eine monströse Kopftuch-Matriarchin, die Mutter des Täters. Es sind schließlich auch die Mütter, die ihre Söhne zu dem machen, was sie sind und was in ihnen steckt. Es gibt hier keine einfachen Wahrheiten oder Lösungen. CHHAPAAK macht es dem Zuschauer nicht leicht und geht manchmal an die Schmerzgrenze der Erkenntnis. Das ist seine ganz besondere Qualität.