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Montag, 25. Februar 2019

Zoya Akhtars GULLY BOY – Poesie und Rhythmus

Der junge Poet Murad aus dem Mumbaier Dharavi-Slum findet Stimme, Anerkennung und Bekanntheit durch Hip Hop. Als Freundin hat er, nicht sehr standesgemäß, die Arzttochter Safeena, was die Eltern von beiden nichts wissen. Ein Liebesfilm und ein Hip-Hop-Film. Eine künstlerische Aufstiegsstory gemischt mit etwas Romeo und Julia. Keine originelle Geschichte also an sich, aber Zoya Akhtar hat mit GULLY BOY (2019) ihren bisher besten Film gedreht. Das gemeinsam mit Reema Kagta, selbst eine spannende Regisseurin, verfasste Drehbuch verbindet eine sehr innerliche, intime Geschichte mit den großen Problemthemen Indiens: Kaste, Klasse, Religion. Und dabei hat das Autorenpaar es geschafft, den Film weder zu überladen noch plakativ zu gestalten. Klischees werden nicht nur gemieden, sondern auch geschickt unterlaufen, ohne dass es dabei ironisch wird.

Ein schönes Beispiel ist eine der ersten Szenen in einem Mumbaier Bus. Murad sitzt hinten auf der Bank am Rückfenster und hört Musik. Safeena, mit Kopftuch, steigt ein, bleibt weiter vorne im Gang stehen und schaut öfter zu ihm herüber, während er jeden Blickkontakt vermeidet. Aber hier bahnt sich keine Liebesgeschichte an. Die gibt es schon: Neben Murad wird ein Platz frei, er rutscht zur Seite, sie setzt sich neben ihn und er gibt ihr einen der kleinen Ohrhörer. Sie reden dabei nicht, gucken sich nicht an, halten nur Händchen. Eine sehr keusche, eigentlich unmögliche Beziehung voller Nähe und Distanz. Man trifft sich an der Bushaltestelle, guckt sich oft nur aus der Ferne an. Manchmal kann sie den Argusaugen der Eltern entkommen und man hat ein fast echtes Date. Sie will zu Ende studieren, eine Praxis haben, Chirurgin werden. Das gibt ihr Unabhängigkeit. Und dann will sie Murad. „Ich komme also erst an zweiter Stelle?“, fragt er einmal grinsend, wohl wissend, dass das eine schließlich die Voraussetzung für das andere ist.

GULLY BOY ist auch ein Familienfilm im moslemischen Milieu. Die biologische und die Wahlfamilie. Die Hip-Hop-Gemeinschaft wird Murads zweite Familie. Und erst dadurch bewältigt er die Probleme in der ersten, wo der Vater sich gerade eine zweite Ehefrau ins Haus geholt hat. Auf der anderen Seite Safeena, die sich gerne anders anziehen, Lippenstift benutzen möchte. Mit Kopftuch muss sie herumlaufen, darf nicht ausgehen. Also hat sie ihren Eltern gegenüber eine Überlebensstrategie entwickelt, die bewundernswert ist, aber in ihrer Perfektion sprachlos machen kann. Sie lügt wie gedruckt. Ohne mit der Wimper zu zucken. Und sie lässt sich nichts gefallen. Mädchen, die sich Murad zu sehr nähern, werden notaufnahmereif geprügelt. Alia Bhatt spielt Safeena mit entschlossener Stille, verleiht ihr keinen künstlichen Glamour, vermeidet es, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Und wird dadurch um so präsenter gegenüber Ranveer Singh, dem der Film gehört. Man spürt Safeenas Stärke, ihre Härte, die der ruhige Murad auch braucht. Ranveer Singh zeigt zurückhaltend das allmähliche Aufbrechen der schüchternen, introvertierten Schale Murads. Am Ende, bei einer Musiknummer finden Ranveer Singh, der Showman, und Murad zusammen.

Ein Großteil des Films spielt in Dharavi, dem Mumbaier Slum, auf den die Kamera einen bewusst normalen Blick richtet – nichts ausklammert, nichts beschönigt. Einmal gibt es eine große, weite Totale aus der Vogelperspektive. Murad geht nach einem Treffen mit Safeena über eine Brücke nach Dharavi hinein. Darunter ein tiefer langer Graben voller Müll. Das ist erschreckend, faszinierend, eklig und schön. Alles gleichzeitig. Und dann ist es dort einfach so. Auch im Zusammenhang mit Dharavi werden Klischees unterlaufen. Einmal greift Murad, wie ein echter Kinoheld, seinen Freund an, weil der Kinder dealen lässt. Er spielt bürgerliche Gerechtigkeit, die aber oft nichts anderes als gutmenschelnde Selbstgerechtigkeit ist. Denn der Freund sagt ihm, er solle sich bei denen beschweren, die die Kinder in der Gosse zurückgelassen haben. Er zumindest ernähre sie. Dharavi kann ja mit Führungen besichtigt werden. Auch in GULLY BOY wandert einmal eine westliche, weiße Gruppe mit Führer durch die Gassen und durch die Wohnung einer Familie, was 500 Rupien extra kostet. Die Touristen sind ganz offensichtlich begeistert vom Einfallsreichtum angesichts des wenigen Platzes. Wahrscheinlich finden sie es spannend, exotisch, pittoresk. Dieser Blick erinnert an den westlichen Blick auf das populäre indische Kino. Es gibt wohl kaum ein Weltkino, was immer noch so wenig als normal betrachtet wird. Die Berliner Filmfestspiele 2019 sind ein schönes Beispiel dafür. GULLY BOY lief ja dort, was an sich sehr schön ist, aber ich war doch erstaunt, als ich entdeckt habe, in welcher Kategorie. Da stößt man auf die Sektion „Berlinale Special“, wo ansonsten äußerst obskure Werke zu sehen sind, von denen man vermutlich nie wieder etwas hören und sehen wird. Und intelligente Kritiken zu indischem Kino kann man von deutschen Zeitungen sowieso nicht erwarten. Das ZDF etwa charakterisiert Ranveer Singh mit der tollen Information, dass er „in Indien ein Instagram-Star“ ist.

Aber vor allem geht es in GULLY BOY um Hip Hop, um „Poesie und Rhythmus“, wie einmal gesagt wird. Der belanglose und ärgerliche Konsum-Hip-Hop um Kleider, Autos, Weiber, den es natürlich wie überall in Indien gibt und der manchmal auch den Weg in Bollywood-Filme findet, wird gleich in der ersten Filmsequenz voller Verachtung verbal in den Müllhaufen geworfen. Wichtig ist, dass man sich authentisch ausdrückt und, wenn man, wie Murad, in einem Slum groß geworden ist, man damit der ganzen Gemeinschaft eine Stimme gibt. Eine Stimme für soziale Beweglichkeit. Wenn die Gesellschaftsstruktur einer Gesellschaft wie in Stein gemeißelt erscheint, dann nur, weil die Menschen es sich in ihr Inneres haben meißeln lassen und daran glauben. Es ist aber auch ein Fatalismus, der einen überleben lassen kann, wenn man merkt, dass man selber es nicht schafft. So macht es Murads Vater und er ist daran verhärtet. Das heißt nicht, dass nicht andere es nicht schaffen können. Inspiriert ist der Film von den „beiden echten Gully Boys“, den Rappern Divine und Naezy, denen der Film gewidmet ist. Von denen kam vor drei Jahren der Song „Mere Gully Mein“ mit Video heraus. Das wird im Film nicht kopiert, aber in seiner Essenz beibehalten. Aufgenommen in den Straßen und Gassen von Dharavi mit Ranveer Singh als Gully Boy und Siddhant Chaturvedi als MC Sher. Vergleicht man die beiden Videos, sieht man nicht nur die perfektere Ästhetik des Films. Man sieht auch die wärmeren Farben, das weiche Licht, was dem ganzen Film Ruhe und Harmonie innerhalb all der echten Konflikte verleiht.

GULLY BOY gehört zu den modernen Filmen aus Mumbai, die an die Zeit vor dem globalen Phänomen Bollywood anknüpfen, das zu großen Teilen ein Mittelklasse-Kino voller Konsumfreude ist, während die Unterschiede von Kaste, Klasse und Religion zuvor im Kino so wichtig waren. Dass man realistische Filme über diese Themen drehen kann, ohne deprimierend zu sein, wie es das rein materialistisch-politische Kino ja meist ist, hatte man schon in den ersten drei Jahrzehnten des indischen Tonfilms gewusst, von den 30ern bis in die 60er. Stille Poesie und tiefe, echte Gefühle waren das Geheimnis. Und das ist auch die Grundlage von GULLY BOY, der ein Hip-Hop-Film ohne Aggressivität ist, selbst wenn er aggressives Verhalten zeigt. Übrigens nicht nur patriarchalische Brutalität. Hier prügelt auch die Mutter die Tochter mit den Worten „Ich schlag dich tot.“ Daher denke ich bei GULLY BOY eher an Guru Dutts Dichterfilm PYAASA (1957) als etwa an Curtis Hansons Eminem-Film 8 MILES (2002). Und bei den anklagenden sozialen Texten der Lieder denke ich an die indische Tradition, in der sie ganz automatisch stehen, wie etwa der große sozialistische Urdu-Poet Sahir Ludhianvi, der passenderweise auch die Texte für PYAASA geschrieben hat. Und das wiederum passt zu Zoya Akhtars Familiengeschichte. Sie ist ja nicht nur Tochter des Drehbuchautors und Dichters Javed Akhtar. Sie ist auch Enkelin des politisch bewussten Poeten Jan Nisar Akhtar.

Zwei Sequenzen stechen in ihrer Schönheit und Poesie, ihrer Verbindung aus Musik und Bild dabei heraus. Die eine ist die, in der Kalki Koechlin als Sky den zunächst zögerlichen Murad mitnimmt, die Stadt zu bemalen, das heißt kreativ-ästhetischen Widerstand gegen die Konsumgesellschaft, verbildlicht durch Werbung für teure Mode oder Kosmetik, zu leisten, indem man ihre Symbole verändert und verunstaltet. Aber auch hier verzichtet der Film auf Botschaften, sondern zeigt einfach die Schönheit der Nacht, die Freude der Beteiligten, die Fahrt im Auto und dazu singt Ankur Tewari auf dem Soundtrack „Jeene Mein Aaye Maza“, ein sanftes, anschmiegsames, verträumtes, aber auch leicht sperriges Lied im Walzerrythmus, eingeleitet durch melodisches Pfeifen. In einer anderen, brillanten Sequenz werden Murads Fremdheitsgefühl, sein Frust, seine Traurigkeit und damit die demütigende Natur der Klassengesellschaft gezeigt. Es beginnt mit einer einzigen Einstellung. Er hat als Fahrer die Tochter des reichen Hauses in einen großen Club gefahren und wartet. Die Musik zieht ihn an. Er geht vorwärts, um in den Bereich der Musik zu kommen, zuzuhören. Im Hintergrund sieht man den Türsteher, der ihn mehrmals wegwinkt. Frustriert geht er zurück. Man sieht ihn dann im dunklen Auto sitzen, in dessen frischem, blank geputztem Lack sich alle Lichter des Clubs spiegeln wie ein bunter Sternenhimmel. Aber drinnen im Wagen ist es dunkel. Dann rappt er wütend bei einem Song mit. Auf der Rückfahrt sitzt das Mädchen weinend hinten und er muss stumm bleiben. In Gedanken schreibt er einen Text über die Gräben in der Klassengesellschaft. Das geht direkt über in die Studioaufnahme des Liedes und Bilder von dem dazugehörigen Musikvideo. Die Inszenierung transportiert mit wenigen Einstellungen viele Bedeutungen und Gefühle gleichzeitig. Das ist Filmregie, Mise-en-scène, die in Erinnerung bleibt.

Freitag, 22. Februar 2019

Aanand L. Rais ZERO – Shah Rukh Khan ganz klein

Als vor längerer Zeit die Ankündigung kam, dass Regisseur Aanand L. Rai und Shah Rukh Kahn ein gemeinsames Projekt haben, war vermutlich nicht nur ich begeistert. Auf Aanand L. Rai und seine traditionell-modernen Filme – also die beiden TANU UND MANU-Eheprobleme und den melodramatischen RAANJHANAA (2013) – habe ich im india! Magazin vor ein paar Jahren ein Loblied gesungen. Dann kamen die ersten Details von ZERO (2018), die Bilder, Trailer, Aussagen der Beteiligten, und das Ganze schien auf jeden Fall interessant, wenn auch seltsam. Doch selbst als der Film nach der Premiere in der Weihnachtszeit in Indien nicht erfolgreich war, hoffte ich noch, dass es bestimmt nicht am Film liegen kann. Tat es aber. Hohe anfängliche Einspielergebnisse, die schnell absacken, deuten meist darauf hin, dass die, die den Film gesehen haben, den Film nicht weiterempfehlen. Kann ich leider auch nicht. Denn ZERO ist nicht, so wie mit SWADES (2004) ein anderer Misserfolg mit Shah Rukh Khan, seiner Zeit voraus. Auch wenn die Tricktechnik, wie schon in FAN (2016), ganz ausgezeichnet ist.

In keiner Sekunde habe ich mich wirklich für die Story und die Figuren interessiert. Shah Rukh Khan spielt den kleinwüchsigen Bauua, der sich eine Fassade aus Frechheit und Unverschämtheit aufgebaut hat. Das kann er auch deshalb, weil sein Vater, den er regelmäßig zur Verzweiflung treibt, viel Geld hat. Bauua möchte mit Ende Dreißig endlich heiraten und gerät an die brillante und hübsche Astro-Wissenschaftlerin Aafia, gespielt von Anushka Sharma, die aber mit motorischen Störungen im Rollstuhl sitzt. Doch Bauua ist besessen von einer Star-Schauspielerin, also zieht er einen Großteil des Films mit der unglücklich verliebten Katrina Kaif herum, um dann seiner eigenen großen Liebe in die USA zu folgen und erst einmal einen 15-jährigen Marsflug zu machen.

Rai hatte das Thema wohl schon seit 2012 im Kopf. Und leider ist der Film als Reaktion auf den ersten indischen Superheldenfilm KRRISH (2004) eine echte Kopfgeburt. Denn ZERO will den wahren indischen Superhelden präsentieren. Bauua kann die Sterne vom Himmel holen und fliegt am Ende zum Mars. Nur begreift man nicht so richtig, warum das die Menschheit retten soll. Was der Mensch auch anstellt im Weltall, geistig bleibt er, bleiben wir, doch gleich. Und das ist wohl eher die Wurzel allen Übels. Aber der Film behauptet viel, zeigt es bloß nicht, begründet es nicht, lässt den Zuschauer nichts fühlen. Alles, die ganze Machart ist auf perfekt getrimmt: die einzelnen Schauspielerleistungen, die Dekors der Kleinstadt und des Raumzentrum, die digitale Tricktechnik. Das setzt man dem Zuschauer vor, ohne eine Verbindung herzustellen. Alles ist konstruiert, steif, bedeutungsvoll. Das Komische ist nicht komisch. Da Poetische nicht poetisch. Dabei arbeitet Rai ja gar nicht allein. Er hat für all seine Filme Himanshu Sharma als Drehbuchautor. Und dennoch gibt es so viele Themen. Vereinzelt hoppeln sie da orientierungslos rum. Und es gibt Weisheiten und Botschaften von Kalenderqualität, wie die inneren Werte eines Menschen, das Übersichhinauswachsen. Es hilft nur nicht viel, bloß plakativ darauf hinzuweisen, denn dann hätten wir eine perfekte Welt. Aber das Schlimmste ist nicht die zerstückelte Story, die Tatsache, dass man den Figuren in ihrem Verhalten nicht immer ganz folgen kann. Ein Film kann mit so etwas durchaus funktionieren. Das Schlimmste ist die emotionale Vereinzelung. Der Film hat keine Atmosphäre, lebt von Gefühlseinzelteilen. Was am Ende bleibt, ist Ratlosigkeit.

Shah Rukh Khan ist ja, und das Interview in der Februar-Ausgabe von Filmfare ist davon erneut ein Zeugnis, besessen von VFX, empfiehlt die Anwendung auch für normale Filme, zur Perfektionierung von Bild und Ton: „VFX muss für die kleinsten Filme benutzt werden. Regisseure sollten vorantreten und VFX benutzen, um ihr Storytelling zu verbessern.“ Klar propagiert er das. Schließlich gehört zu Shah Rukh Khans Produktionsfirma Red Chillies Entertainment der Ableger Red Chillies VFX mit ein paar hundert Mitarbeitern. Auf livemint.com wird das Unternehmen „als stärkste Post-Produktion-Option in Bollywood“ bezeichnet. Natürlich, es geht um formale Perfektionierung, die beim Dreh Zeit und Geld spart. Eine Perfektionierung, die indisches Kino auf internationalem Niveau halten soll. Sie kann aber auch zu Nachlässigkeit beim Dreh führen, da man ja doch hinterher alles korrigieren kann. Aus einem schlechten Filmemacher wird so kein guter. Und wie sehr man dabei gerade das Storytelling und die elementarsten Gefühle vergessen kann, beweist ja ZERO.

Und dann musste ich noch an THUGS OF HINDUSTAN (2018) denken, noch so ein tricktechnisches Prestigeprojekt mit einem allmählich alternden Star. Hier Aamir Khan, da Shah Rukh Khan. Auch Salman Khan hatte, unter der Regie des sonst so großartigen Kabir Khan, mit TUBELIGHT (2017) ein ehrgeiziges Projekt, das unter guten Absichten und Langeweile in sich zusammensackte. Hrithik Roshan drehte mit MOHENJO DARO (2016), immerhin von Ashutosh-Gowariker, einen großen Monumentalfilm, der nicht funktionierte. Manchmal will man zu viel, ist überehrgeizig. Der Wille zur Größe erzeugt nicht immer Größe. Aber ich glaube nicht, dass die Zeit der alten Helden schon vorbei ist. Das Publikum hat die Filme trotz der Stars links liegen lassen. Nicht weil es genug von den alten, vertrauten Gesichtern hat. Und die Filme zeigen, dass bei allen Hero-Schauspielern noch Ehrgeiz da ist. Aber bei diesen erwähnten gescheiterten Filmen hat er zu Verkrampfung geführt. Shah Rukh Khan fehlt übrigens auch ein bisschen die Anerkennung. Wenn er sagt, dass er nie einen National Award bekommen habe, nie regulär auf Filmfestivals ist, dann lächelt er dabei zwar charmant, aber ich glaube, er meint es ernst.

Donnerstag, 21. Februar 2019

BAAZIGAR – Shah Rukh Khans böser Durchbruch

BAAZIGAR (1993) war sehr erfolgreich und bedeutete den Durchbruch für Shah Rukh Khan. Aber ich habe den Eindruck, dass diese Regiearbeit von Abbas-Mustan – wohinter sich die Burmawalla-Brüder Abbas und Mustan verbergen – zumindest hier bei uns nicht den Status hat, den sie verdient. Im Gegensatz zu dem im selben Jahr entstandenen und nur einen Monat später uraufgeführten DARR von Yash Chopra, wo Khan einen im wahrsten Sinne des Wortes irre verliebten Stalker spielt, sodass der Film zumindest eine Brücke bildet zu den folgenden romantischen Rollen bei Yash und Aditya Chopra sowie Karan Johar. Es sind ja diese Rollen, die die Grundlage von Shah Rukh Khans Bekanntheit und seiner Fangemeinde bilden. Dabei ist er tatsächlich am besten, wenn seine Rollen eine gewisse Ambivalenz haben. In BAAZIGAR allerdings tun sich einfach nur tiefe Abgründe auf. Bei Amitabh Bachchan in den 70ern war die Reaktion auf erlittenes Unrecht Wut gewesen, die allerdings das Leid des Einzelnen auf eine allgemeine gesellschaftliche Ebene hob, weil es symptomatisch für die allgemeinen Zustände war. Der „angry young man“ war ein Kämpfer für Gerechtigkeit. In BAAZIGAR wird dieser Rachefeldzug individualisiert. Die Hauptfigur ist zwar auch ein wütender junger Mann, aber er ist es auf durch und durch individualistische, psychopathische Weise.

Der Film verbindet das alte Hindi-Kino mit modernem Pop-Glamour. Mit seiner Geschichte knüpft er an alle Filme an, die sich von dem großen Rachefilm SILSILA (1978) von Yash Chopra haben inspirieren lassen. Der Sohn einer verlassenen Mutter zerstört planmäßig die neue Familie und das Geschäft des Vaters. Es sind Vater-Sohn-Konflikte, die oft in den von Javed Akhtar und Salim Khan – kurz Salim-Javed – geschriebenen Filmen vorherrschen. Dafür interessiert sich BAAZIGAR nicht. Der Geschäftsmann, der vernichtet werden soll, ist einfach ein Angestellter des Vaters gewesen, der jenem geholfen hat und der dann so dumm war, bei längerer Abwesenheit eine Handlungsvollmacht auszustellen. Die Familie verliert alles und lebt arm in einer Hütte. Vater und Baby sind krank. Beide sterben gleichzeitig in einer verregneten Nacht. Die Mutter wird davon wahnsinnig. Der kleine Sohn muss sich und seinen Verstand zusammenreißen, die Mutter durchbringen, aber in ihm ist etwas zerbrochen. Herangewachsen ist er ganz von Rache besessen, um dem bösen Madan Chopra dasselbe und Schlimmeres anzutun.

Und statt Vater-Sohn stehen hier die Liebesgeschichten zu den beiden Schwestern des Bösewichts im Mittelpunkt, auch wenn die Zuneigung zunächst nur ein vorgegaukeltes Mittel zum Zweck ist. Zuerst ist da die jüngere Schwester in Gestalt von Shilpa Shetty. Ganz am Anfang des Films gibt es ein schönes Liebeslied, witzig visualisiert. Shah Rukh Khan ist der junge, arbeitslose Büchernarr Ajay, dem das Mädchen das Buch wegnimmt. Und so tanzen sie, wie es sich gehört, um einen Baum und durch den Garten. Alles sehr schön, zumindest, wenn man es das erste Mal guckt und noch nicht wissen sollte, dass er sie gar nicht lange später vom Hochhausdach des Standesamtes, wo gleich geheiratet werden sollte, wirft. Und er stößt nicht einfach. Nein, er setzt sie trotz ihrer Höhenangst auf die Brüstungsmauer, bückt sich, fasst ihre Füße, guckt nett zu ihr hoch, und dann hebelt er sie aus dem Gleichgewicht, sodass sie rücklings tödlich in die Tiefe stürzt. Und so wird das Liebeslied vom Anfang zur Lüge. Und das Unglaubliche an diesem Film, der dadurch tatsächlich faszinierend pervers wird, ist die unglaubliche Sympathie für den Mörder. Das liegt nicht nur daran, dass wir wissen, warum er so ist, dass seine Taten durch Rückblenden nach und nach immer mehr motiviert werden. Ajay ist vor allem böse, weil er mehr fühlt als die anderen, auch weil er ganz und gar durchdrungen ist vom Leid der Mutter, um die er sich kümmert. Es ist ganz einfach der charmante Hauptdarsteller Shah Rukh Khan, der damit ein neues Kapitel Bollywood aufschlug. Es sind die Gefühle, die bei ihm so echt und authentisch wirken. Das Mädchen zu töten bereitet Ajay kein Vergnügen, es ist eine kalkulierte Notwendigkeit auf seiner Reise der Rache. Und auf die nimmt der Film den Zuschauer mit. Aber gar nicht Ajay als Mörder ist der wirklich Böse, sondern der Vater, der wegen der Familienehre keine weiteren Nachforschungen über den Tod der Tochter will, die ohne seine Zustimmung zu heiraten beabsichtigte.

Trotz aller Sympathie ist Ajay ein echter Psychopath, der mit seinem Spiegelbild redet. Bei einem Mord ist die Kamera ganz nah an ihm dran und man sieht, wie er schwitzt, während er ihr die Kehle zuschnürt. Am besten ist der Film in solchen Ausbrüchen. Die Rückblende im starken Regen, als sowohl der Vater als auch das Baby sterben. Der Abschlusskampf, wo Ajay von einem Metallstab durchbohrt wird. Der Böse steht siegessicher vor ihm, da schaut Ajay auf, lächelt, grinst und fängt an zu lachen. Dann rammt er den Stab, der in seinem Körper steckt, in den Feind und reißt ihn mit in den den Tod von einem hohen Turm. BAAZIGAR ist ein Film ohne Triumph. Die Mutter ist am Ende wieder reich und hat ihren Verstand wieder, aber ihr Sohn stirbt in ihren Armen. Es ist der ewige Kreislauf, denn es ist eine treffende Pointe, dass schon der erste Diebstahl des Unternehmens eine ganz bewusste Rache für eine Anzeige bei der Polizei mit anschließenden drei Jahren Gefängnis war. Symbolisiert wird dies durch den Drehstuhl, den Ajay im Chefbüro sich drehen lässt und der die Rückblende des legalen Raubs einleitet und beendet.

Im normalen Vorspann taucht Shah Rukh Khan gar nicht auf. Aber dann sieht man ihn als Erwachsenen. Und als er eine Münze im Gras findet und in die Luft wirft, friert das Bild ein und es werden erst der Filmtitel und dann groß sein Name eingeblendet. So wurde ein Star geboren. Dass Anil Kapoor und Salman Khan die Rolle ablehnten, war von ihnen eine richtige Entscheidung. Denn das, was Shah Rukh Khan voller Freude mit der Rolle macht, hätten sie, bei allem Respekt, nicht gekonnt. Eine andere filmhistorische Besonderheit ist, dass BAAZIGAR die Paarung aus Kajol, die die ältere Schwester spielt, und Shah Rukh Khan begründete. Und man sieht hier auch schon sehr gut, warum sie so oft zusammen gespielt haben. Der emotionale Khan kann ganz gut eine Partnerin gebrauchen, die etwas Energisches, Burschikoses haben kann. Karan Johar hat das gut eingesetzt in KUCH KUCH HOTA HAI (1998), wo Kajol am Anfang ein echter Tomboy ist, dem Rani Mukherjee erst einmal mädchenhaftes Verhalten beibringen muss.

Jetzt soll aber bloß keiner denken, das Ganze wäre ein stringenter Thriller, ein glamouröser Film mit ausschließlich inhaltlichem bösen Noir. Denn es gibt, wie es sich gehört, eine gehörige Portion Comedy. Und die ist zum größten Teil wirklich witzig. Das Schöne ist, dass Johnny Lever als extrem vergesslicher Hausangestellter in die Story integriert ist und sogar an einer wichtigen Pointe des Falles beteiligt ist. Ansonsten ist es absurd-kindlicher Humor, wie ich ihn heute oft vermisse. Da sind keine Teeblätter im Tee sondern Salz – den Gästen schmeckt's, man ist ja bei Reichen und die machen das wohl so. Auf der Party werden Gläser ohne Inhalt auf dem Tablett angeboten und alle lehnen höflich an. Und dann soll ein Nagel falsch herum in die Wand eingeschlagen werden, bis der verzweifelnde Johnny darauf aufmerksam gemacht wird, dass der Nagel für die gegenüberliegende Wand ist. Das versteht er – und geht zur gegenüberliegenden Wand.

Mittwoch, 20. Februar 2019

Gelesen: Filmfare February 2019

Die Februar-Ausgabe der wichtigsten indischen Filmzeitschrift Filmfare ist wie immer eingerahmt durch ein Einleitungs- und ein Abschluss-Editorial von Chefredakteur Jitesh Pillai. Beides sind diesmal Loblieder auf zwei allen vertraute Schauspielerinnen die schon länger dabei sind. Das letzte Wort dreht sich um Aishwarya Rai Bachchan, denn vor 25 Jahren wurde sie Miss World. Und der Anfang und die Cover-Story sind Vidya Balan gewidmet, wobei ich sie jetzt gar nicht sofort erkannt hätte so stark geschminkt und so niedlich eingemümmelt in dieses kuschelig-federige Boazeugs. Das „40 is the new sexy“ auf der Titelseite lässt Schlimmes vermuten, doch es ist alles andere als ein marktschreierisches Interview. Es geht weniger um Sex als um ihren qualvollen Kampf gegen die Pfunde, die durch hormonelle Probleme bei ihr unvorhersehbare Züge annehmen können. Seit sie einigermaßen gelernt hat, psychisch damit umzugehen, schreit sie es von allen Dächern, wie sie sagt, damit andere davon profitieren. Vor allem, wenn sie erzählt, dass sie unter die Decke geht, wenn Leute sie fragen, warum sie nicht etwas mehr trainiert, wo sie gerade das doch bis zum Exzess tut. "F* you", möchte sie da sagen. Das alles ist wohl wichtig, besonders, wenn sie feststellt, dass man das Problem nicht mit rein mathematischer Logik angehen kann und das unter Umständen das Gegenteil von dem herauskommen kann, was man beabsichtigt hatte. Man hungert und nimmt zu. Eine bekannte Tatsache, die man nicht genug wiederholen kann angesichts der vielen Gesundheitsfaschisten mit ihrem mechanistischen, körpermaschinistischen Weltbild. Da fällt mir ganz nebenbei die sogenannte deutsche Expertin ein, die vorgeschlagen hat, ungesundes Essen zu besteuern. Nur, was ist ungesundes Essen? Aber ich schweife zu sehr ab.

Wer Filmfare selbst lesen will, was ich nur empfehlen kann, kann im Internet zu Magzter gehen. Da gibt es ein wirklich preiswertes digitales Abo. Und unendlich viele alte Ausgaben, an die man aber nur kostenlos mit dem Goldabo herankommt. Sicherlich kann man Filmfare auch noch auf anderen Abo-Seiten digital beziehen, aber da habe ich jetzt keine Recherche betrieben. Auf traditionellem Wege ist es übrigens ein fast unmögliches Unterfangen, das Heft zu bekommen. Und angesichts der postalischen Wartezeit ist es so natürlich sowieso aktueller. Immer mit dem Nachteil, dass keine physische Kopie irgendwo im Weg liegt und einen daran erinnert, dass da noch etwas zu lesen ist. Und das ist das Gute an meinem neuen Bollywood-Blog. Ich komme nicht nur mit den neuen Filmen, sondern auch mit Filmfare wieder in eine zeitlich regelmäßige Spur. Allerdings vermisse ich immer ein bisschen die Werbeseiten, die in der digitalen Ausgabe leider fehlen.

Wie gewohnt gibt es neben den hauptsächlich vorherrschenden Interviews die Standardrubriken. Den Klatsch kennt man heutzutage allerdings meist schon aus dem Internet. Werden Alia Bhatt und Ranbir Kapoor dieses Jahr heiraten? Eine wirklich wichtige Frage. Und was machen die Frischvermählten Nickyanka – Nick Jonas und Priyanka Chopra – und Deepveer – Deepika Padukone und Ranveer Singh – so, wenn sie keine Filme drehen? Was Letztere angeht, gibt es eine hübsche Seite im Modeteil, wo man sieht, wie sie bei gemeinsamen Auftritten ihre Kleidung aneinander anpassen, wo Ranveer Singh sonst doch eher durch knallige, farbenfrohe, exzentrische Klamotten auffällt. Meine Lieblingsseite gibt es leider nicht mehr. Die modischen Fehltritte der Stars waren immer ein großer, schadenfreudiger Anlass zur Heiterkeit. Aber ich nehme an, dass inzwischen jeder Nebendarsteller, der es sich einigermaßen leisten kann, sich von hochbezahlten Stylisten beraten lässt, die die schlimmsten Geschmackskatastrophen verhindern. Und man landet ja heutzutage nicht mehr nur mit einem kleinen Bild bei Filmfare, ein doch überschaubarer Leserkreis, sondern es verfolgt einen global auf lange Zeit.

Meine beiden Lieblingsinterviews sind zum einen das mit dem Regisseur Sriram Raghavan und dann das mit Soumitra Chatterjee, der bengalischen Filmlegende, die immer noch Filme dreht, leider nicht ganz freiwillig. Chatterjee hat wegen eines schlimmen Unglücks in der Familie zu wenig Geld. Sein Enkel, der eine gute Karriere als Sänger und Schauspieler begonnen hatte, hatte einen Motorradunfall. Aber um Geld hat Chatterjee sich früher nicht gekümmert. Fand es nicht wichtig. Sogar tolle Angebote aus der Hindi-Filmindustrie hat er damals abgelehnt. Und das ist wirklich traurig und ich möchte sagen, es war auch ein bisschen kulturelle Überheblichkeit, denn in Filmen wie Raj Kapoors SANGAM (19654) hätte er wirklich guten Gewissens mitspielen können. Seiner filmhistorischen Bedeutung ist er sich bewusst. Die Zusammenarbeit über zwölf Filme mit Ray nennt er einen „Meilenstein des Weltkinos“, mit der sich nicht einmal das Team aus Akira Kurosawa und Toshiro Mifune vergleichen könnte. Leider liefert das Gespräch auch die Nachricht, dass von ihm keine Autobiografie zu erwarten ist. Aus Rücksicht auf die Menschen in seiner Umgebung. Schade.

Und dann ist da Regisseur Sriram Raghavan, der gerade auf einer von vielen nicht erwarteten Erfolgswelle schwimmt. Selbst für Selfies muss er neuerdings herhalten. ANDHADHUN (2018) hat richtig Geld eingespielt, was mich ungeheuer freut. Einige wichtige Schauspieler haben den Film wohl abgelehnt, denn gerade die zweite Hälfte ist ziemlich irre. Das wirkte im Drehbuch vermutlich ziemlich abstrus. Aber selbst schuld, wenn sie nicht imstande waren, zu abstrahieren und zu sehen, dass Raghavan ein Stilist ist, der so etwas perfekt hinbekommt. Aber andererseits gut so, denn wer den Film gesehen hat, möchte auch niemand anders als Ayushmann Khurrana in der Rolle.

Dann ist da noch ein schöner Nachruf auf den brillanten und vielseitigen Kader Khan im Heft. Und schließlich gibt es Interviews mit Shah Rukh Khan und Anushka Sharma, worauf ich in meinem Beitrag zu ZERO (2018) vermutlich zurückgreifen werden. Allerdings philosophiert Anushka Sharma hauptsächlich über die Ehe. Auch sie ist ja relativ frisch vermählt. Debei geht um die geänderten Zeiten, denn früher haben Schauspielerinnen meist ihre Karriere beendet, wenn sie heirateten. Außerdem haben die Filmfare-Journalisten mit Fatima Sana Shaikh gesprochen, die großartige Hauptdarstellerin aus dem Ringerinnenfilm DANGAL (2016). Das arme Mädchen ist nach dem Misserfolg von THUGS OF HINDUSTAN (2018) höchst deprimiert in die Türkei geflüchtet. Dabei war es gar nicht ihre Schuld. Der Film kreist leider einfach um sich selbst, weil ihm irgendwann die Ideen ausgehen, und es fehlt ihm jede Leichtigkeit, obwohl dauernd Leute durch die Luft springen. Andererseits hat der Film einige amüsante Ideen, und ich müsste lügen, wenn ich leugnen würde, dass er, einmal geguckt, durchaus unterhaltsam ist. Es gibt wirklich schlechtere Filme, die aber Erfolge waren.

Abschließend, nicht zu vergessen, die Jahresvorschau. Und ich freue mich auf neue Filme von Dibakar Bannerjee, Rajkumar Gupta, Anurag Kashyap, Siddharth Anand, Ashutosh Gowariker, Meghna Gulzar und dann, muss ich sagen, auch auf Vikas Bahls Mathematikerfilm SUPER 30, den Anurag Kashyap jetzt in der Postproduktion fertigstellt oder fertiggestellt hat. Denn das Deprimierende an der ganzen Geschichte um Bahls eklige sexuelle Belästigung ist, dass ich seine Filme sehr mag. 2011 hat er ja sogar mit CHILLAR PARTY einen tollen Kinderfilm gedreht. Und mit SHANDAAR (2015) eine poetisch-verträumte Liebesgeschichte. Tja, die menschlichen Abgründe. Und die mit den grausamen und perversen Filme sitzen oft unschuldig zu Hause und können keiner Spinne was zuleide tun.

Freitag, 8. Februar 2019

Sriram Raghavans ANDHADHUN – Der Blinde sieht alles

So ein Künstler hat es nicht leicht. Da will man sich ganz auf die eigene Kunst konzentrieren, sich auf einen wichtigen Wettbewerb vorbereiten, da fährt einen plötzlich eine hübsche junge Frau auf dem Motorroller an. Und weil man im Restaurant ihres Vaters einen Job bekommt, ist als indirekte Folge davon dann auch noch das eigene Leben in Gefahr. Aber andererseits macht es so ein Künstler der Welt ja auch nicht leicht, hat spinnerte Ideen, ist nicht so leicht zu durchschauen. Macht sich einfach als Experiment mit Haftschalen blind, um zu sehen, ob er dann besser Klavier spielt und komponiert. Aber er nimmt die Haftschalen raus, lässt die Umgebung wieder in sich hinein, um die hübsche junge Frau besser zu sehen, die ihn angefahren hat und die glaubt, er wäre blind. Und vielleicht ist es Karma, eine unvermeidliche Strafe, dass er bei einem Mord zusehen muss, wobei die Täter glauben, er sähe nichts. Aber natürlich zweifeln die Mörder. Sah er wirklich nichts? Und wer blind spielt, soll sich nicht wundern, wenn er es plötzlich wirklich ist.

ANDHADHUN (2018) ist ein entsetzlich komischer und spannender Thriller voller überraschender Wendungen, und ist ganz und gar ein Werk seines Regisseurs Sriram Raghavan. Es ist ein reines Vergnügen, das die Inszenierung bereitet, die eine irreale Atmosphäre in einer ganz realen Umgebung schafft. Und perfekt besetzt ist der Film. Allen voran Tabu als mordlüsterne Ehebrecherin, die einfach nicht anders kann. Lady Macbeth wird sie einmal genannt, was nur ein halber Witz ist, denn diese Rolle hat sie in Vishal Bhardwajs moderner Macbeth-Version MAQBOOL (2004) ja tatsächlich gespielt. Bei keinem anderen Regisseur könnte man sich vorstellen, dass man Tabu mit Scream-Maske sehen könnte. Was übrigens eine der Methoden ist, um zu überprüfen, ob der Blinde wirklich blind ist oder sich erschreckt und damit verrät. Dann ist da der bekannte Schauspieler Anil Dhawan als gealterter Star, der den ganzen Tag seine Filme und die eigenen Videos auf YouTube guckt. Und in der Hauptrolle Ayushmann Khurrana als Pianist zwischen Betrügen und Opferdasein. Alle sind Teil einer zum Totlachen absurden Welt, die keinen Sinn ergibt. Es ist eine Welt der Getriebenen, die sich offenbart. Der Pianist wird zum Spielball der Kräfte, wo er doch eigentlich nur Klavier spielen möchte. Aber jetzt ist er einer sex-, mord- und geldgeilen Welt ausgeliefert, zu der er ja andererseits irgendwie doch auch gehört, weil er Sex mit einem Mädchen hatte, dem er nicht die Wahrheit über sich gesagt hat.

Aber ANDHADHUN verliert trotz seiner Liebe zur Absurdität, zum Grotesken nie ein klassisches Gleichgewicht. Das ist Raghavans Kunst. Da gibt es keinen Exzess um des Exzesses willen. Keine skurrilen Ideen, nur weil sie skurril sind. Alles bleibt klar und übersichtlich. Zwar stilistisch innovativ und eigenwillig, stürzt der Film nie in die Unüberschaubarkeit. Denn Raghavan ist ein demütiger Regisseur, der niemandem beweisen will, wie cool und intelligent er ist. Es passiert nicht zu viel auf einmal, das Bild ist nicht zu voll. Man schaue sich die ganz einfach, in vielen Totalen gehaltenen Szenen an, in der der Pianist am Klavier sitzt, während Ehemann und Geliebte sauber machen und die Leiche in einen Koffer stopfen. Die Distanz und die Ruhe erzeugen eine stille, anhaltende Spannung in einer endlos scheinenden Szene. Da ist nichts, was künstlich Effekte erzeugt. Raghavan überkalkuliert seinen Stil nicht. Immer ist Platz genug zum Atmen. Auch die Gewalt wird dosiert, sodass sie ihre Wirkung nicht verliert.

Sriram Raghavan ist einer der wenigen Stilisten in Bollywood. Den „indischen Tarantino“ hat ihn Varun Dhawan mal genannt, wegen seines Hangs zur Thriller-Grotesken, zur Ironie, aber vor allem zu alten Filmen, alter Musik, seinen Zitaten und Verweisen. Aber solche Vergleiche helfen keinem, und ich persönlich ziehe Raghavan vor, der nicht jahrelang jedem erzählt, was für ein Genie er ist, bis die Journalisten es glauben. Und überhaupt ist Tarantino vor allem Dialogschreiber und Dramatiker. Bei Raghavan herrscht das Visuelle vor Bisher hat er fünf Spielfilme gemacht, und keiner ähnelt dem anderen. Sein erster Film EK HASINA THI (2004) war eine Ram-Gopal-Varma-Produktion, ist also ein bisschen ein Film von beiden. Im dritten, AGENT VINOD (2012) passte er sich mit Saif Ali Khan etwas zu sehr Mainstream-Bollywood an, sodass das Ganze gut, aber eben nicht besonders wurde. Seine besten und persönlichen Filme sind JOHNNY GADDAAR (2007), BADLAPUR (2015) und eben ANDHADHUN. Seit zwei Filmen scheint er jetzt also ganz und gar seinen Weg gefunden zu haben. Und Bollywood hat sich ja in den letzten zehn Jahren so weit verändert, dass Stars sich an Projekte wie seine anpassen. Auch Ayushmann Khurrana hat wohl von sich aus Raghavan kontaktiert. Vermutlich hat er Varun Dhawan in BADLAPUR gesehen und war direkt ein bisschen neidisch. BADLAPUR war ein heftiger Rachefilm, der zwar seine absurden Momente hatte, die aber überhaupt nicht komisch waren. Die Hauptfigur in BADLAPUR war besessen von seiner persönlichen Tragödie und seiner Rache. Jetzt geht es um einen passiven Menschen, der allerdings besessen ist von seiner Musik, die wichtiger ist als alles andere.

Und während Retro-Musik in JOHNNY GADDAR ständig präsent war, so hat Raghavan jetzt einen Film direkt über Musik gedreht. Und ein Teil des Erfolges ist auch der Soundtrack mit neuen Liedern, komponiert von Amit Trivedi, darunter die heitere Tanznummer „Laila Laila“. Aber auch die Hintergrundmusik mit ihrem spannend-ironischen Krimisound ist gelungen. Und ich wiederhole gerne immer wieder, dass Amit Trivedi der beste zeitgenössische Bollywood-Komponist ist. Die Art, wie er Altes und Moderne, Indisches und Westliches verbindet, und das ganze mit schönen Melodien und glasklaren, einfallsreichen Arrangements präsentiert, sollte eigentlich auch bei uns sehr gemocht werden. Wiedererkennungswert haben sein Stil, seine Methode, aber nicht unbedingt die Musik direkt. Und es kommt immer wieder Neues von ihm, weil er so lernfähig ist und alles in sich aufsaugen kann und zu Eigenem verarbeitet. Beispielsweise hatte er vor der Komposition des brillanten Soundtracks zu Anurag Kashyaps brutal unterbewertetem Meisterwerk BOMBAY VELVET (2015) keine Ahnung von Jazz.

Inspiriert wurde ANDHADHUN übrigens von Olivier Treiners französischem Kurzfilm „L'Accordeur de Piano“, bekannt unter dem englischen Titel “The Piano Tuner“ (2010), der natürlich durch seine 13 Minuten alles sehr verdichtet und durch den Schnitt auf konzentrierte Spannung und Überraschung setzt, etwa wenn der Klavierstimmer beim Hereinkommen in eine Wohnung auf Blut auf dem Boden ausrutscht und rot verschmiert ist. Währenddessen sitzt die Leiche, gut zu sehen, auf dem Sofa. Das ist die Schlüselszene, die in ANDHADHUN übernommen wurde.  Aber Raghavan zeigt die Leiche nicht. Erst nach kurzer Zeit sieht der Pianist in ANDHADHUN Beine hinter einer Wand hervorragen. Und das, was man für Blut gehalten hat, durch das er danach läuft und Fußspuren hinterlässt, ist kein Blut, sondern tatsächlich Wein. Aber beide Männer spielen Klavier um ihr Leben, in der Hoffnung, die blinde Maskerade aufrechterhalten zu können. Überhaupt das Klavier. Ein Klavier in einem Bollywood-Film heutzutage ist auch ein Stück Retrokultur. Denn das Klavier war mal das meist repräsentierte Klavier der höheren Gesellschaft im Hindifilm. Während des Nachspanns von ANDHADHUN läuft ein schönes Video mit zusammengeschnittenen, kurzen Filmmomenten mit all den alten Stars am Klavier, während sie zu einem der großen Playbacksänger oder zu einer Playbacksängerin die Lippen bewegen. Auf dem Klavier in der Wohnung des Pianisten steht übrigens ein Bild von Kishore Kumar. Von wem auch sonst?

Dienstag, 5. Februar 2019

Meghna Gulzars RAAZI – Spionieren für Indien

Auf einer sonnigen Wiese lassen es sich ein paar Streifenhörnchen gutgehen. Die Kamera fährt auf Bodenhöhe an ihnen entlang. Aber eines davon hat es sich auf der befahrenen Straße bequem gemacht. Alia Bhatt, als junge Studentin Sehma, handelt schnell und rettet es vor einem Motorroller. Aber dann muss sie selbst von einer Freundin vor einem Auto gerettet werden. Als reaktionsschnell, emotional und dann auch wieder gefährlich zerstreut in ihrem momentan sorglosen Leben wird sie gezeigt. Diese Szenen sollen nicht nur die Hauptfigur von RAAZI (2018) charakterisieren und sie in die Geschichte einführen. Es werden auch Probleme vorausgeahnt, denn dieser kurze Moment hinterlässt beim Zuschauer ein ungutes Gefühl, da man im Gegensatz zu Sehma selbst schon weiß, was sie erwartet. Oder zumindest, was ihr Vater, der Doppelspion aus Kaschmir, den man in Pakistan für einen Freund des Landes hält, von ihr erwartet. Es ist das Krisenjahr 1971. Sehma soll in einer arrangierten Ehe den Sohn eines hohen pakistanischen Offiziers heiraten, denn schlimme Dinge könnten Indien im Zuge der unterstützten Unabhängigkeitsbestrebungen in Ost-Pakistan, danach Bangladesch, bevorstehen. Sie willigt ein. Es ist Familientradition. Sie ist Patriotin. Sie ist „raazi“, „bereit“. Also lernt sie beim Geheimdienst die praktischen Dinge, die sie können muss.

Regisseurin Meghna Gulzar geht den Weg weiter, den sie mit TALVAR (2015) eingeschlagen hat. Auf der Grundlage einer präzisen und detailreichen Rekonstruktion erzählt sie einen Zusammenhang, mehr noch als einfach eine Geschichte. Und wieder geht es um eine Familie. War TALVAR die genaue Darstellung eines eine Familie zerstörenden Mordfalls und des anschließenden Justizskandals, wird in dem ebenfalls auf Tatsachen beruhenden RAAZI eine Familie von innen, durch eine lächelnde Spionin ruiniert und sogar dezimiert. Hatte TALVAR in seinem indirekten Protest gegen eine schlampig arbeitende Ermittlungsbehörde ganz offensichtlich eine zusätzliche politische Ebene, so bleibt RAAZI innerhalb eines politischen Films doch vorwiegend auf der menschlichen und persönlichen Ebene. Meghna Gulzar verzichtet auf Feindbilder, auf Klischees. Gezeigt wird eine ganz normale nette Offiziersfamilie. Wobei das etwas ist, das der ausländische, nicht mit indisch-pakistanischer Geschichte vertraute Zuschauer leicht missverstehen kann, denn worüber im Film nicht gesprochen wird, weil das Wissen wohl vorausgesetzt wird, ist der unglaubliche Terror, den West-Pakistan in Ost-Pakistan ausgeübt hat und der zu Millionen von Flüchtlingen und Toten führte, sodass Indien gar nichts anderes übrig blieb als einzugreifen.

Die Regisseurin hat Freude an der Mechanik der Spionagetätigkeit, und würde der Film es dabei belassen, dann wäre er einfach ein gekonnt erzählter Thriller. Doch der Film steigert sich langsam. Sowohl, was die Spannung als auch, was die Emotionen angeht. Die Spannungssteigerung geschieht dadurch, dass Sehma die häuslichen Grenzen überschreitet, um ihren Auftrag auszuführen. Den Spannungssteigerungen folgen unweigerlich die emotionalen Steigerungen. Eines zieht das andere nach sich, wie in einer fatalistisch unveränderbaren Kette von Ereignissen. Und es sind die emotionalen Steigerungen, die den Kern des Film und damit seinen Erfolg ausmacht. Es ist die Traurigkeit, die sich nach und nach, spätestens mit dem zweiten Mord, den Sehma verüben muss, über alles legt. RAAZI beginnt also als Spionagefilm, wird aber dann zur echten Tragödie. Dass Sehma nette Menschen anlügt, ist nicht nett, aber angesichts der Situation verzeihbar. Dass sie dafür mit Kindern ein patriotisches Lied einstudiert, hat sogar Ironie, vor allem, wenn man erkennt, dass sie nicht an Pakistan denkt beim Mitsingen. Aber dann muss sie tatsächlich töten. Und das hinterlässt Spuren bei ihr.

Meghna Gulzar reichen oft kurze Szenen, damit man eine Idee von einer Situation bekommt. Wenn etwa der Zuschauer weiß, dass Sehma ihren Schwager umgebracht hat und die freundliche Schwägerin lächelnd sagt, dass ihr Mann angekündigt habe, heute früher nach Hause kommen zu wollen, da schaut Ali Bhatt sie einfach nur lange ernst an, ohne dass die Schwägerin es merkt. Als nächstes folgt sofort die militärische Beerdigung. Das ist eine angenehme erzählerische und stilistische Distanz, ohne jedoch gefühllos zu sein. Anstatt die Figuren in ihren Gefühlen auszubeuten, was nur eine scheinbare, kurzfristige Wirkung hat, geben solche Szenen und elliptischen Übergänge dem Zuschauer eine klare Idee von den Gefühlen der Figuren und der Situation. Und so macht die Geschichte nach und nach einfach ratlos und tief traurig, und man könnte dabei völlig vergessen, warum Sehma tut, was sie tut. Wären da nicht überall – sogar in einem öffentlichen Klo – diese „Crush India“-Aufkleber. Und wären da nicht am Esstisch diese kurzen Ausbrüche gegen das Nachbarland.

Tatsächlich hat die Spionagetätigkeit der Frau, auf die der Sehma-Figur beruht, entscheidend dazu beigetragen, frühzeitig Kenntnis von einem großen Schlag Pakistans zu bekommen. Das U-Boot Ghazi fuhr einmal um den Subkontinent herum, um Minen zu legen und den Flugzeugträger INS Vikrant zu versenken, ging aber den Indern in die Falle und vernichtete sich aus Versehen auf der Flucht im eigenen Minenfeld selbst. Die Unterstützung der Befreiung des heutigen Bangladeschs konnte also im wahrsten Sinne des Wortes nicht torpediert werden. Dharma-Productions, aus dessen Produktions-Haus RAAZI stammt, hat übrigens vor zwei Jahren mit THE GHAZI ATTACK (2017) einen soliden Film herausgebracht, der die Jagd nach diesem pakistanischen U-Boot sehr genau schildert.

RAAZI ist, in Form einer Gedenkfeier auf einem Flugzeugträger, in einen Rahmen der Gegenwart eingebettet. Aber hier gibt es keinen MOTHER-INDIA-Augenblick. Es gibt, anders als in dem Klassiker von Mehboob Khan, keinen Auftritt einer weiblichen Symbolfigur mit ikonischer, die ganze Nation repräsentierenden Bedeutung. Die inzwischen alte Frau ist nicht dabei. Es wird an sie gedacht, aber es wird nicht klar, woran sie selbst denkt. Im Schlussbild sieht man einfach eine alte Frau in einem einsam gelegenen Haus am Fenster sitzen. RAAZI ist ja beileibe nicht der erste Film, der die schmutzige, gefühlskalte Welt der Spionage zeigt, aber Meghna Gulzar verzichtet bis zum Schluss auf die dabei oft angewendete künstlich unterkühlte, desillusionierende Atmosphäre. Die Kunst des Films besteht darin, dass die Werte Patriotismus und Opfer für das Land nicht verneint oder als sinnlos abgetan werden. Nicht einmal die Haltung, dass ein einzelnes Leben nicht zählt, wird als zynisch kritisiert. Es ist die sachliche Haltung, die ein Staat mit gefährlichen Feinden zum Überleben braucht. Alles wird akzeptiert, als normal geschildert, ohne dass es künstlich gefeiert und propagiert wird. Sehma gehörte eben eigentlich nicht in diese Welt, über deren innere Regeln sie sich gar nicht im Klaren war. Denn auch ihr Leben ist im Notfall entbehrlich. Was im Übrigen abschließend Hauptdarstellerin Alia Bhatt angeht, so ist das größte Lob vielleicht, dass sie absolut natürlich und unangestrengt in ihrer Darstellung wirkt.