Auf einer sonnigen Wiese
lassen es sich ein paar Streifenhörnchen gutgehen. Die Kamera fährt
auf Bodenhöhe an ihnen entlang. Aber eines davon hat es sich auf der
befahrenen Straße bequem gemacht. Alia Bhatt, als junge Studentin
Sehma, handelt schnell und rettet es vor einem Motorroller. Aber dann
muss sie selbst von einer Freundin vor einem Auto gerettet werden.
Als reaktionsschnell, emotional und dann auch wieder gefährlich
zerstreut in ihrem momentan sorglosen Leben wird sie gezeigt. Diese
Szenen sollen nicht nur die Hauptfigur von RAAZI (2018)
charakterisieren und sie in die Geschichte einführen. Es werden auch
Probleme vorausgeahnt, denn dieser kurze Moment hinterlässt beim
Zuschauer ein ungutes Gefühl, da man im Gegensatz zu Sehma selbst
schon weiß, was sie erwartet. Oder zumindest, was ihr Vater, der
Doppelspion aus Kaschmir, den man in Pakistan für einen Freund des
Landes hält, von ihr erwartet. Es ist das Krisenjahr 1971. Sehma
soll in einer arrangierten Ehe den Sohn eines hohen pakistanischen
Offiziers heiraten, denn schlimme Dinge könnten Indien im Zuge der
unterstützten Unabhängigkeitsbestrebungen in Ost-Pakistan, danach
Bangladesch, bevorstehen. Sie willigt ein. Es ist Familientradition.
Sie ist Patriotin. Sie ist „raazi“, „bereit“. Also lernt sie
beim Geheimdienst die praktischen Dinge, die sie können muss.
Regisseurin
Meghna Gulzar geht den Weg weiter, den sie mit TALVAR (2015)
eingeschlagen hat. Auf der Grundlage einer präzisen und
detailreichen Rekonstruktion erzählt sie einen Zusammenhang, mehr
noch als einfach eine Geschichte. Und wieder geht es um eine Familie.
War TALVAR die genaue Darstellung eines eine Familie zerstörenden
Mordfalls und des anschließenden Justizskandals, wird in dem
ebenfalls auf Tatsachen beruhenden RAAZI eine Familie von innen,
durch eine lächelnde Spionin ruiniert und sogar dezimiert. Hatte
TALVAR in seinem indirekten Protest gegen eine schlampig arbeitende Ermittlungsbehörde ganz offensichtlich eine zusätzliche
politische Ebene, so bleibt RAAZI innerhalb eines politischen Films
doch vorwiegend auf der menschlichen und persönlichen Ebene.
Meghna Gulzar verzichtet auf Feindbilder, auf Klischees. Gezeigt wird
eine ganz normale nette Offiziersfamilie. Wobei das etwas ist, das
der ausländische, nicht mit indisch-pakistanischer Geschichte
vertraute Zuschauer leicht missverstehen kann, denn worüber im Film
nicht gesprochen wird, weil das Wissen wohl vorausgesetzt wird, ist
der unglaubliche Terror, den West-Pakistan in Ost-Pakistan ausgeübt
hat und der zu Millionen von Flüchtlingen und Toten führte, sodass
Indien gar nichts anderes übrig blieb als einzugreifen.
Die Regisseurin hat
Freude an der Mechanik der Spionagetätigkeit, und
würde der Film es dabei belassen, dann wäre er einfach ein gekonnt
erzählter Thriller. Doch der Film steigert sich langsam. Sowohl, was
die Spannung als auch, was die Emotionen angeht. Die
Spannungssteigerung geschieht dadurch, dass Sehma die häuslichen
Grenzen überschreitet, um ihren Auftrag auszuführen. Den
Spannungssteigerungen folgen unweigerlich die emotionalen
Steigerungen. Eines zieht das andere nach sich, wie in einer
fatalistisch unveränderbaren Kette von Ereignissen. Und es sind die
emotionalen Steigerungen, die den Kern des Film und damit seinen
Erfolg ausmacht. Es ist die Traurigkeit, die sich nach und nach,
spätestens mit dem zweiten Mord, den Sehma verüben muss, über
alles legt. RAAZI beginnt also als Spionagefilm, wird aber dann zur
echten Tragödie. Dass Sehma nette Menschen anlügt, ist nicht nett,
aber angesichts der Situation verzeihbar. Dass sie dafür mit Kindern
ein patriotisches Lied einstudiert, hat sogar Ironie, vor allem, wenn
man erkennt, dass sie nicht an Pakistan denkt beim Mitsingen. Aber
dann muss sie tatsächlich töten. Und das hinterlässt Spuren bei
ihr.
Meghna Gulzar reichen oft
kurze Szenen, damit man eine Idee von einer Situation bekommt. Wenn
etwa der Zuschauer weiß, dass Sehma ihren Schwager umgebracht hat
und die freundliche Schwägerin lächelnd sagt, dass ihr Mann
angekündigt habe, heute früher nach Hause kommen zu wollen, da
schaut Ali Bhatt sie einfach nur lange ernst an, ohne dass die
Schwägerin es merkt. Als nächstes folgt sofort die militärische
Beerdigung. Das ist eine angenehme erzählerische und stilistische
Distanz, ohne jedoch gefühllos zu sein. Anstatt die Figuren in ihren
Gefühlen auszubeuten, was nur eine scheinbare, kurzfristige Wirkung hat, geben solche Szenen und elliptischen Übergänge dem Zuschauer
eine klare Idee von den Gefühlen der Figuren und der Situation. Und so
macht die Geschichte nach und nach einfach ratlos und tief traurig, und
man könnte dabei völlig vergessen, warum Sehma tut, was sie tut.
Wären da nicht überall – sogar in einem öffentlichen Klo –
diese „Crush India“-Aufkleber. Und wären da nicht am Esstisch
diese kurzen Ausbrüche gegen das Nachbarland.
Tatsächlich hat die
Spionagetätigkeit der Frau, auf die der Sehma-Figur beruht,
entscheidend dazu beigetragen, frühzeitig Kenntnis von einem großen
Schlag Pakistans zu bekommen. Das U-Boot Ghazi fuhr einmal um den
Subkontinent herum, um Minen zu legen und den Flugzeugträger INS Vikrant zu versenken, ging aber den
Indern in die Falle und vernichtete sich aus Versehen auf der Flucht
im eigenen Minenfeld selbst. Die Unterstützung der Befreiung des
heutigen Bangladeschs konnte also im wahrsten Sinne des Wortes nicht
torpediert werden. Dharma-Productions, aus dessen Produktions-Haus
RAAZI stammt, hat übrigens vor zwei Jahren mit THE GHAZI ATTACK (2017) einen
soliden Film herausgebracht, der die Jagd nach diesem pakistanischen
U-Boot sehr genau schildert.
RAAZI ist, in Form einer
Gedenkfeier auf einem Flugzeugträger, in einen Rahmen der Gegenwart
eingebettet. Aber hier gibt es keinen MOTHER-INDIA-Augenblick. Es
gibt, anders als in dem Klassiker von Mehboob Khan, keinen Auftritt
einer weiblichen Symbolfigur mit ikonischer, die ganze Nation
repräsentierenden Bedeutung. Die inzwischen alte Frau ist nicht dabei. Es wird an sie gedacht, aber es wird nicht klar,
woran sie selbst denkt. Im Schlussbild sieht man einfach eine alte
Frau in einem einsam gelegenen Haus am Fenster sitzen. RAAZI ist ja
beileibe nicht der erste Film, der die schmutzige, gefühlskalte Welt
der Spionage zeigt, aber Meghna Gulzar verzichtet bis zum Schluss auf
die dabei oft angewendete künstlich unterkühlte, desillusionierende
Atmosphäre. Die Kunst des Films besteht darin, dass die Werte
Patriotismus und Opfer für das Land nicht verneint oder als sinnlos
abgetan werden. Nicht einmal die Haltung, dass ein einzelnes Leben
nicht zählt, wird als zynisch kritisiert. Es ist die sachliche
Haltung, die ein Staat mit gefährlichen Feinden zum Überleben
braucht. Alles wird akzeptiert, als normal geschildert, ohne dass es
künstlich gefeiert und propagiert wird. Sehma gehörte eben
eigentlich nicht in diese Welt, über deren innere Regeln sie sich
gar nicht im Klaren war. Denn auch ihr Leben ist im Notfall
entbehrlich. Was im Übrigen abschließend Hauptdarstellerin Alia
Bhatt angeht, so ist das größte Lob vielleicht, dass sie absolut
natürlich und unangestrengt in ihrer Darstellung wirkt.