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Mittwoch, 30. Juni 2021

LIFE AND MESSAGE OF SWAMI VIVEKANANDA – Bimal Roys Montage-Doku

 

Der aus Bengalen stammende große Hindi-Regisseur Bimal Roy hatte eine Freizeitbeschäftigung zu Hause. Auf seinem 16-mm-Projektor schaute er sich immer wieder seine Kopie von Eisensteins PANZERKREUZER POTEMKIN (1926) an. Für seine kleinen Kinder ein schauerlicher Horrorfilm mit Maden im Fleisch, aber für ihn offensichtlich eine unerschöpfliche Inspirationsquelle. Die deutlichste Spur, die dieser sowjetische Film in seinem Werk hinterlassen hat, ist natürlich das berühmte Rikscha-Rennen in DO BIGHA ZAMIN (1953) mit seiner ausgefeilten, immer schneller werdenden Montagesequenz. Aber ansonsten ist Bimal Roys Kino ein sehr ruhiges, poetisches Kino, das sich meist mit sozialen Themen verbindet. Die Verbindung aus Poesie und Politik ist zwar eine der bemerkenswertesten Eigenschaften des sowjetischen Kinos. Aber direktes Montagekino findet man bei Roy ansonsten allenfalls mal zwischendurch in kurzen Sequenzen.

Doch der Dokumentarfilm LIFE AND MESSAGE OF SWAMI VIVEKANANDA (1963) für das staatliche Dokumentarfilminstitut Films Division zwang ihn direkt, auf die Montage-Methode in einem ganzen Film zurückzugreifen, denn bewegtes Archiv-Filmmaterial stand hierfür fast gar nicht zur Verfügung. Stattdessen baute man den Film auf auf „Relikten, alten Aufnahmen, Malereien, Fotografien“. Und so versammelte er viele aus seinem normalen Team. Salil Chowdhury schrieb die Musik. Kamal Bose an der Kamera und Madhu Prabhawalkar verantwortlich für den Schnitt. Die gemalten Bilder, die die Geschichte erzählen, wurden extra für den Film angefertigt. Mit Kamera, Schnitt, Ton entstand so ein echter Bimal-Roy-Film, der abwechslungsreich eine spirituelle, soziale, poetische Geschichte erzählt.

Die Doku beginnt mit aktuellen Bildern zur 100-Jahrfeier von Vivekananda (1863-1902), mit einer Prozession, einer Veranstaltung in einem Theater, Reden von Nehru und dem Staatspräsidenten vor einer großen Menge. Das verdeutlicht die Bedeutung, die der große Mönch immer noch, wie auch heute, in Indien hat. Die Lebensgeschichte dann beginnt mit Vivekanandas Rückkehr aus dem Westen und dem triumphalen Empfang durch Würdenträger und Menschenmassen. Dann wird sein Leben von Kindheit bis zum Tod aufgerollt, wobei das Spirituelle nicht vernachlässigt wird, aber gerade eine große Betonung auf die soziale Arbeit gelegt wird, die die Doku als Vivekanandas größte Leistung erscheinen lässt.

Hier am Anfang zeigen sich schon die Mittel, die diese Doku über den vorwiegend informativen Durchschnitt der üblichen Dokumentarfilme herausheben. Ganz entscheidend für die Lebendigkeit von LIFE AND MESSAGE OF SWAMI VIVEKANANDA ist die innere Montage, wenn die Bilder von Vivekanandas Stationen gefilmt werden. Die Kamera bleibt, während der Off-Sprecher erzählt, nicht starr auf dem Bild, sondern macht gleichsam ständige Fahrten und Bewegungen, wodurch jede Statik verhindert wird. Und Kamal Bose sorgt für echte, ausgeklügelte Abwechslung: Schwenks, Zooms ins Bild und heraus, Schnitte, Überblendungen, vertikale, horizontale, diagonale Kamerabewegungen. Und das alles auf kleinstem Raum. Zwischen den gemalten Bildern gibt es immer wieder Inserts mit kurzen realen Filmaufnahmen wie die von einem Feuerwerk. Aber es gibt in Form von Schockmontagen auch Fotos von ausgemergelten Dorfarbeitern. Von ganz nah wird ein Denkmal für solche Arbeiter mit Gestalten aus Haut und Knochen gefilmt, als sollte man das Elend als Zuschauer spüren können. So weit geht Roy in seinen Spielfilmen nicht. Gleichzeitig wird später das Poetische nicht vernachlässigt. Wenn es um Vivekanandas Wanderungen durch Indien geht, zeigt Roy wunderschöne Bilder von Städten, vom Ganges, vom Sonnenuntergang und auf einem Bild, das man erst für ein Foto hält, bewegt sich plötzlich der Schatten einer Wolke auf der Straße ganz leicht nach vorne, woraufhin sofort ein Schnitt folgt. Das hat eine seltsame Wirkung. Einen Moment hat man sich auf diese Sogwirkung eingelassen, die aber sofort unterbrochen wird.

Auch der Sprechton spielt, neben der Musik, eine große Rolle. Denn durch die Verteilung der Textarten auf verschiedene Sprecher entsteht eine Dramatisierung, die den Storycharakter der Doku unterstreicht. Vivekananda und auch andere haben eine eigene Stimme. Die gelungenste Sequenz in der Beziehung ist die, in der Vivekananda den Gesang und Tanz einer Hofsängerin verschmäht, weil sich dies nicht für einen Mönch zieme. Getroffen singt sie ein religiöses Lied. An einer Wand sieht man den Schatten eines auf dem Boden sitzenden Mannes, der nach Ende des Liedes demütig um Verzeihung bittet.

Und jetzt müsste die Films Division nur noch den zweiten Dokumentarfilm von Bimal Roy ins Netz stellen: GAUTAMA, THE BUDDHA (1967). Wobei ich nicht weiß, inwiefern er diesen Film noch vollständig kontrollieren konnte, denn 1966 ist der Mann gestorben, der für mich immer noch der beste aller Hindi-Regisseure ist. Filme wie DEVDAS (1955), MADHUMATI (1958) oder SUJATA (1959) sollte jeder Filminteressierte kennen.

G. V. Iyers SWAMI VIVEKANANDA – Gotteserfahrung und Dienst am Menschen

SWAMI VIVEKANANDA (1998), G.V. Iyers biografischer religiöser Spielfilm, endet mit der Ankunft des unter dem bürgerlichen Namen Narendranath Datta (1863-1902) in Kalkutta geborenen Mönchs in Südindien. Er hat gerade einen vierjährigen Aufenthalt 1893-1897 im Westen hinter sich. Beginnend mit seinem phänomenalen Erfolg beim „Internationalen Parlament der Weltreligionen“in Chicago, hielt der Advaita-Vedanta-Anhänger Vorträge und gab Unterricht in indischer Religion und Spiritualität und setzte sie in Verhältnis zum westlichen Denken. Zum ersten Mal wurde der Westen in systematischer Weise mit den vier Wegen des Yoga – Karma, Jnana, Raja, Bhakti – vertraut gemacht. In dieser Zeit entstanden auch seine vier bekannten Yoga-Bücher, die zum Teil aus seinen Reden bestehen. Bis zu seinem Tod war Vivekananda danach noch sehr aktiv, arbeitete etwa für die internationale Ausweitung der von seinem Guru Ramakrishna initiierten Ramakrishna-Mission, deren Grundlage Karma Yoga in Form von Dienst am Menschen ist, wobei man sich besonders für das Elend der unteren Klassen und Kasten einsetzt, denn „Menschen mit leerem Bauch braucht man nicht mit Religion zu kommen“.

Und dennoch beendet Iyer vorzeitig seinen Film mit einem politisch-religiösen Satz, der wie eine Programmerklärung zur modernen konservativen Rehinduisierung Indiens klingt. Drei Mal wird der Satz wiederholt: „Lieber die alte Orthodoxie als das westliche Modell.“ Nicht, dass ich etwas gegen den Satz an sich oder Rehinduisierung hätte, aber es scheint mir problematisch,Vivekananda überhaupt auf einen einzigen Satz festzulegen und hier das Bild einfrieren zu lassen, als wäre der Satz die Essenz seines Lebens. Andererseits passt es zu einem Film, der die sehr persönliche Sicht des Regisseurs auf die legendäre Gestalt des Vivekananda wiedergibt.

Iyer lässt es also mit diesem Triumph enden, bei dem sich zeigte, dass Vivekanandas Wirken im Westen auf Indien zurückgestrahlt hatte. Verehrt wird er nicht zuletzt für seinen allgemeinen Beitrag zur geistig-spirituellen Wiederbelebung Indiens, die nach all den Überfällen und Einflüssen fremder und fremdartiger Mächte nötig war. Und trotz seines nationalistisch inspirierten Wirkens konnte Vivekananda ins Grübeln kommen, was denn Nationen überhaupt für eine Bedeutung haben, aus konsequent spiritueller Sicht. Vivekananda war eben ein Mensch mit vielen Facetten. Seine Texte und Reden zeichnet neben den klar erklärten Grundlagen des Hinduismus eine pathetische Verkündigung von der Gemeinsamkeit aller Religionen, nicht nur der Hindi-Sekten, aus, und dazu kommt ein überwältigender, mitreißender Optimismus, der sicher einiges zu seinem Erfolg beigetragen hat.

SWAMI VIVEKANANDA besteht aus zwei Teilen. Der erste ist der einheitlichste und beste und umfasst seine Kindheit, seine Ausbildung und dann seine Begegnung mit seinem Guru Ramakrishna. Da prallen dann zwei Welten aufeinander. Auf der einen Seite der rationale, intellektuelle, brillante Student, dem eine große Zukunft prophezeit wird, ganz in den Fußstapfen seines Vaters, eines Richters. Aber er hat auch seine Zweifel, ist durch die Erziehung der Mutter religiös geprägt. Doch reicht ihm Gauben nicht, er will Gott erfahren und sehen. Also macht er sich auf die Suche, doch bleibt erfolglos. Bis er Ramakrishna begegnet, der ihm bestätigt, dass er Gott so klar sehe wie ihn, dass man Religion erleben und leben könne. Passiver Glaube wird hier als nicht ausreichend betrachtet. Doch kann der Intellektuelle sich trotz allem zunächst gar nicht richtig begeistern für einen einfachen Analphabeten, denn er misst weltlicher Bildung noch einige Zeit lang zu viel Wert zu. Auch die intellektuelle Hochnäsigkeit muss er aufgeben. Aber nach und nach tritt ein Wandel ein. Schön ist auch das Aufeinandertreffen der Stimmungen, denn der angehende Schüler hat überhaupt keinen Humor, während Ramakrishna es liebt, Scherze mit ihm zu machen. Mithun Chakraborty schafft es, die spirituelle, erleuchtete Seite und das weltlich-humorvolle Ramakrishnas glaubwürdig und einheitlich zu verbinden. Nicht zufällig gab es dafür den nationalen Filmpreis für die beste Nebenrolle. Aber auch Sarvadanam D. Banerjee als Vivekananda ist mit seinem sparsamen und innerlichen Spiel eine ausgezeichnete Besetzung. Ein wichtiges Mittel, das die steigende Verbindung von Guru und Schüler zeigt, sind Lieder und die Musik von Salil Chowdhury. Das gibt dem Film eine kontinuierlich religiös-poetische Stimmung, eine Verbindung aus Klassischem und Populärem.

Im zweiten Teil des Films wird alles gedrängter, verkürzter. Gezeigt werden die entscheidenden Phasen: die jahrelangen Wanderungen durch Indien, hier bevorzugt durch einsame Gegenden. Das unterstreicht das Kräftezehrende, ist aber auch rein produktionstechnisch geldsparend. Da nimmt Vivekananda zum ersten Mal deutlich Notiz vom Elend der arbeitenden Kasten oder Klassen. Nicht fehlen darf die berühmte Bild-Anekdote mit dem Fürsten, der sich über Götterbilder mokiert und aufgefordert wird, sein eigenes Bild anzuspucken. Aber nirgendwo bleibt Vivekananda lange. Dieser Teil des Films fällt einerseits durch fehlenden Zusammenhang stückwerkartig etwas auseinander, überzeugt aber andererseits immer wieder durch überzeugende Ideen, die Dinge zusammenzufassen oder auf den Punkt zu bringen, ohne sie direkt zeigen zu müssen. So ist der ausgehungerte Mönch bei einem Mann zum Essen eingeladen, bei dem ein Bettler vorbeikommt: In der Folge hat Vivekananda eine tranceartige auditive Vision von erbärmlich schreienden hungernden Massen. Immer wieder verdeutlicht er den Herrschenden, denen er begegnet, ihre Verantwortung für diese Menschen. Die vier Jahre im Westen werden verkürzt auf die Zitate aus der umjubelten Eingangsrede auf dem Weltreligionen-Kongress und man sieht am Schluss Vivekakandas Gesicht in Großaufnahme mit einem dankbaren Lächeln, während historische Fotos der Menschen eingeblendet werden, die ihm in all der Zeit geholfen haben.

Die wenig begeisterten Kritiken damals und der fehlende Erfolg an den Kinokassen täuschen leicht darüber hinweg, dass SWAMI VIVEKANANDA ein sehr schöner Film ist. Aber gerade in der zweiten Hälfte hilft es doch, wenn man zumindest ansatzweise vertraut ist mit seinen Schriften und seinem Leben. Veredelt wird der fast dreistündige Film übrigens durch Kurzauftritte von Shammi Kapoor, Shashi Kapoor, Mammootty oder auch Anupam Kher.

Montag, 28. Juni 2021

Mari Selvarajs KARNAN – Die Bushaltestellen-Rebellion

Es ist ein ebenso traurig realer wie seltsam surrealer Beginn. In der ersten Sequenz von Mari Selvarajs Tamil-Film KARNAN (2021) mit Dhanush in der Hauptrolle liegt ein junges Mädchen mitten auf der Straße und hat etwas, was wie ein epileptischer Anfall aussieht. Die Autos rasen links und rechts gefährlich nahe vorbei. Niemand hält, auch kein Bus. Die Kamera geht senkrecht nach oben, verliert sich in der extremen Vogelperspektive in Unschärfe, um die inzwischen reglose Gestalt nach einiger Zeit wiederzufinden. Es geht wieder nach unten und dort liegt ein Wesen mit Göttinnenmaske. Von nun an ist die Tote eine Mischung aus schützendem Dorfgeist und zur Rache anfeuernder Dorfgöttin, die immer wieder zu sehen ist und wie aus dem Nichts aus dem Untergrund auftaucht. So beschert sie ihrem Großvater eine nächtliche Vision darüber, dass sie Geld für die Hochzeit der Schwester gesammelt und in der Hütte der Familie vergraben hat.

KARNAN ist Mari Selvarajs zweite Regiearbeit. Vorher war er Assistent bei Regisseur Ram. Das Regiedebüt PARIYERUM PERUMAL (2018) wurde vom neuen Produktionshaus des erfolgreichen Regiekollegen Pa. Ranjith produziert. Das Debüt war spannend, wirkte aber noch ein wenig angestrengt und konstruiert, etwas zu direkt in seiner Botschaft. Der soziale Realismus von KARNAN hingegen wird mit der toten Schwester gleich eingebettet in einen mythischen Kontext. Dazu kommt das Visuelle: sehr viele Totalen, Zeitraffer der Wolken, Aufnahmen gegen die Sonne, besonders Steinhügel im Gegenlicht. All das verwandelt die Gegend immer wieder in eine ewig, unerschütterlich wirkende und Kraft spendende Landschaft.

Neben dem Mythischen steht das Archaische: Mit dem „Karnan“-Lied folgt am Anfang des Films eine zweite Sequenz, die die Grundprinzipien des Films stimmungsmäßig festlegt. Es ist ein rhythmisches Rebellenlied vor dunklem, nachtschwarzem Hintergrund, erleuchtet durch Fackeln in zeitloser, archaischer Ästhetik. Man sieht von Karnan sowohl Zeitungsfoto als auch eine Rauchzeichnung auf Felswand, wie eine moderne Steinzeitmalerei. Dazwischen Großaufnahmen der Schauspieler und der Rhythmusgruppe hoch oben auf einem Felsen. Im Anschluss daran wird ein Gefangener in einem Bus von Polizisten zusammengeschlagen. Dabei kann es sich nur um den besungenen Rebellenhelden Karnan handeln.

Es folgt eine lange Rückblende, Hauptteil des Films, eingeleitet mit der ungefähren Zeitangabe „vor 1997“. Es geht um ein abgelegenes Dorf, das an der nächst gelegenen Hauptstraße, zu der man durch die Felder gelangt, keine eigene Bushaltestelle hat. Man ist gezwungen, entweder lange auf eine Mitfahrgelegenheit zu warten oder zum größeren Nachbardorf zu gehen, wo man aber schnell tyrannisiert und gedemütigt wird. Überhaupt will man beim großen Nachbarn das ganze unterkastige Dorf weiter von sich abhängig und dadurch entwicklungsunfähig halten. Zum eigenen Vorteil natürlich. Und obwohl die Dorfbewohner von Hinz zu Kunz gelaufen, Eingabe um Eingabe gemacht haben, bekommen sie keine Haltestelle. Das bringt beispielsweise Probleme für regelmäßigen Schulgang, besonders für Mädchen, die im Nachbardorf besonders leicht belästigt und bedrängt werden. Hauptperson ist der, von Dhanush gespielte, nicht übertrieben viel arbeitende Karnan, der einen Hang zu Wutausbrüchen hat und sich nichts gefallen lassen will. Das stößt bei vielen der Dorfbwohner, die Angst um den erreichten Status quo haben, auf Widerstand, bis alle begreifen, dass es die einzige Möglichkeit ist, nicht in alle Ewigkeit auf demselben Stand festgefroren zu bleiben, während die Welt draußen sich verändert. Nach und nach reißt er die anderen mit im Kampf gegen die Unterdrückung.

Der Beginn des Kampfes wird symbolisiert durch Karnans Erfolg in einem alten Ritual, wo er über einem Teich, im Sprung, einen Fisch genau in der Mitte mit einem Schwert zerteilt. Dieses Ritual war schon fast aus der Mode gekommen. Damit gewinnt er auch das Schwert und, ohne es zu ahnen, Verantwortung. Aus dem Spiel wird Ernst. Dhanush macht diese allmähliche Änderung Karnans subtil natürlich, ohne künstlichen Heroismus deutlich. Aber nicht alles ist Kampf hier. KARNAN ist auch ein sehr schöner Film über ein Dorf mit vielen Figuren und einigen sehr energischen Frauen. Karnan ist viel mit dem Großvater unterwegs, der ihn in seinen Ausbrüchen immer beruhigen will. Da gibt es nebenbei kleine berührende Szenen, wie die zwischen Großvater und Schwägerin, die immer darauf gewartet hat, dass er sie, nach dem Tod der Schwester, heiratet. Oder eine Beerdigung, wo der Großvater plötzlich bei einem heiteren Tanzlied in eine Klage über den Choleratod seiner Frau vor 30 Jahren umschlägt. Und Karnan bekommt eine Freundin, obwohl er mit dem zukünftigen Schwager ständig im Streit liegt.

Zum Dorf gehören aber auch die Tiere. War in PARIYERUM PERUMAL die Hundesymbolik etwas zu überdeutlich, geht Selvaraj hier subtiler zu Werk. Die Tiere sind auch sehr konkret und nicht nur reduziert auf Symbolcharakter. Sie sind Teil des Alltags. Manchmal beobachtet Selvaraj sie wie zufällig. Wie die Katze, die durch alle kaum denkbaren und undenkbaren Öffnungen schleicht. Oder der Hund, der immer irgendwie im Bild ist. Das Füttern der Tiere, der Schweine, der Kühe. Nur ein Esel ist hier das eindeutige Symboltier. Dessen Vorderbeine sind zusammengebunden, damit er nicht weit laufen kann, und der immer sehr verloren wirkend durch die Gegend schleicht. Karnan löst schließlich die Fesseln des Tieres als Vorbereitung auf die wütende Zerstörung eines Busses, was den Beginn der Rebellion darstellt und am Ende zu einem Kampf auf Leben und Tod, um Zerstörung oder Weiterexistenz wird. KARNAN ist auch eine Geschichte über dörfliche Solidarität in der Stunde der Not, über Opfermut bis zum Tod. Wobei das Tragische darin liegt, dass das alles überhaupt nötig ist.

Was den Film durchzieht, sind die Parallelen zum Epos der Mahabharata. Karnan ist dort der Sohn des Sonnengottes, wächst aber bei einem einfachen Ehepaar auf und gehört zur unteren Kaste. Er schafft es zwar nach oben, bekommt sogar ein Königreich zugeteilt, und dennoch hat er nicht alle Rechte. So wird ihm der Unterricht im Bogenschießen verwehrt. Man kann, wenn man will, nach konkreten inhaltlichen Parallelen suchen, aber entscheidend sind hier vor allem die abstrakten Bezüge und eine Art Anti-Epik. Denn die letzte Eskalationsstufe des Krieges mit der Staatsmacht findet nicht mehr statt wegen der Bushaltestelle, sondern weil der befehlshabende Polizist wütend ist über die königlichen Namen aus den Epen und die selbstbewusste Haltung der Bewohner. Auf der Wache schlägt er alte Männer halbtot. Es folgt die von Karnan angeführte Verwüstung der Polizeistation und die Befreiung der Schwerverletzten. Im Schlusskampf reitet Karnan mit dem Schwert in der Hand ins Dorf hinein. Das ist Epik, neu erzählt, von unten sozusagen.

Freitag, 25. Juni 2021

Mohanlal in DRISHYAM 2 – Familie unter Druck

 

DRISHAYAM 2 (2021), wieder unter der Regie von Jeethu Joseph, ist der zweite Teil des Malayalam-Erfolges von 2013 mit Superstar Mohanlal in der Hauptrolle. Dass der erste Teil über Indien hinaus bekannt ist, liegt dann aber eher an dem gleichnamigen Hindi-Remake (2015) mit Ajay Devgn. Regie bei dieser Neuverfilmung führte der vor einiger Zeit verstorbene Nishikant Kamat. DRISYHAM ist ein intensiver, genau getimter Thriller, in dem ein Ehemann und Vater mit Intelligenz, stiller Energie und präziser Planung seine Familie vor der Justiz rettet. Die Hauptfigur ist Kabel-TV-Unternehmer, der in seinem Büro pausenlos Filme guckt, angespeichertes Wissen, das ihm nun im Notfall hilfreich ist. Er hat eine Frau und zwei Töchter. Die Ältere wird von einem perversen Nachbarsjungen wegen eines heimlich aufgenommenen Duschvideos erpresst. Es kommt dazu, dass sie ihn mit einer Eisenstange totschlägt. Der Vater lässt die Leiche verschwinden. In der Folge nun muss der Vater den Ermittlungen der Polizei immer einen Schritt voraus sein, was ihm auch gelingt trotz heftigen, grenzüberschreitenden Polizeiterrors.

Der Erfolg von DRISHYAM 2 jetzt liegt darin, dass Jeethu Joseph gar nicht erst versucht, sich in präziser Spannung selbst zu übertreffen. Er hat die überzeugende, konsequent durchgeführte Entscheidung getroffen, genau den anderen Weg zu wählen. In der meisten Zeit passiert überhaupt nichts Spektakuläres. Vor allem ist es ein Film über die Folgen des Geschehens für die Familie, die Schwierigkeit, ja die Unmöglichkeit, solch eine Erinnerung abzuschütteln, wo sie doch allein schon in Alpträumen jederzeit wieder auftauchen kann. Es geht einfach um das Weiterleben in einer Kleinstadt voller Gerüchte und bösem Klatsch. Das Privatleben wird unweigerlich davon bestimmt. Gezeigt werden viele Szenen aus dem Familienleben, das man so normal wie möglich zu führen versucht.

Am schlimmsten getroffen hat es die psychisch erkrankte ältere Tochter, die die ganzen Erlebnisse zur Epileptikerin, wenn sie einen Schock erlebt, gemacht haben. Die Ehe leidet, denn die Frau wünscht sich mehr Vertrautheit von ihrem verschlossenen Mann, der schließlich als Einziger den wahren Ort der Leiche kennt. Die jüngere Tochter hat, wie die Frau mit ihrer Nachbarin, einen Vertrauten, dem man auch Geheimnisvolleres erzählen kann. Das wiederum ist gefährlich, denn Nettigkeit und Verständnis müssen nicht automatisch authentisch sein. Der Vater währenddessen, der inzwischen erfolgreicher Kinobesitzer ist, hegt seltsame Träume vom aktiven Filmgeschäft und schreibt mit einem professionellen Autor in Chennai seit Jahren an einem Drehbuch. So ist DRISHAYM 2 ein Familiendrama, ein stilles, intimes Porträt einer Familie, das das Damoklesschwert in Gestalt von jederzeit erneut zuschlagen könnenden Behörden über sich hängen fühlt und das gleichzeitig Schuld und Trauma als Last mit ich trägt.

Jeethu Joseph hält diese Ruhe bis zum Schluss durch, arbeitet mit einer unterschwelligen Spannung, die sich nach und nach immer mehr konkretisiert, bis sie sich manifestiert. Alles hier ist lange Zeit scheinbar alltäglich, auch wenn der Film von Anfang an das Gefühl einer sich herannahenden Bedrohung vermittelt, symbolisiert durch die Alpträume der Töchter und Ahnungen der Mutter. Man spürt die die Familie beherrschende Beklemmung. Und auch wenn sich die Schlinge am Ende zuzieht, und die Thrillerelemente zunehmen, und es auch einige überraschenden Wendungen gibt, bekommt die Geschichte dadurch kein völlig anderes Gesicht, wird sie nicht umgedreht oder entwertet, sondern wird nur um eine zweite Ebene reicher. Jeethu Joseph opfert seine Figuren in keinem Moment für einen Effekt. Und trotz der Spannung und einiger ausgeklügelter Ideen bleibt es im Kern ein Film über Schuld, Rache, Vergebung und dem Wunsch nach Abschluss mit einer traumatischen Vergangenheit, soweit das irgendwie möglich ist.

Dienstag, 22. Juni 2021

Salman Khan in RADHE: YOUR MOST WANTED BHAI – Aber Jackie Shroff war lustig

 

Vielleicht ist Jackie Shroff ja der Einzige, der kapiert hat, wie RADHE, der neue Hindi-Film mit Salman Khan, hätte gerettet werden können. Ganz einfach durch konsequent bekloppte, selbstironische, selbstparodistische Komödie. Shroff ist der Einzige, der hier als Polizei-Vorgesetzter, der gerne betont, dass er gefährlich sei, aber bloß einen destruktiven Krieg gegen sein eigenes Smartphone führt, nicht total deplatziert wirkt. So witzig hätte unter Umständen alles werden können, und am Anfang hat man ja sogar den Eindruck, dass Salman Khan hier eine echte Selbstparodie vorlegt. Er wirkt, als hätte er bloß seinen geklonten Avatar geschickt, der ein paar Standardgesichter aufsetzt. Wahnsinn kann ja Methode haben. Aber dann hätte man das Drogenthema fallenlassen und auf verlogene Betroffenheit verzichten müssen. Indiens Ober-Bhai kann dann doch nicht aus seiner Haut. Aber es wäre eigentlich die Aufgabe von Regisseur Prabhu Deva gewesen, das alles unter einen Hut zu kriegen. Konnte er nicht. Knallend an der Aufgabe gescheitert. Und eigentlich nehme ich ja gerne Salman Khans Filme in Schutz vor all den schlechten und sogar hasserfüllten Kritiken. Aber diesmal ist das unmöglich.

Leider zünden irgendwann selbst die Witze nicht mehr, da sie vom Schwarzen Loch des unwitzigen Witzes, den der Film selbst darstellt, sofort aufgesogen werden. Überhaupt wüsste ich gerne, ob man für den Salman-Khan-Tapferkeitsorden in Frage kommt, wenn man den Film bis zum Ende durchgehalten hat. Lieblos und lustlos hingesch* ist das alles. Anders kann man es nicht ausdrücken. Da liefert der Staatsphilosoph SK und Bigg-Boss-Boss seine weisen Sprüche ab, wie den über Angst. Denn wenn man vor ihr weglaufe, komme sie nach. Salman Khan hat ganz offensichtlich panische Angst, sein Publikum zu verlieren, wenn er nicht immer dasselbe bietet. Dabei hat er sich diesmal selbst ins Knie geschossen. Das Ganze basiert übrigens auf dem koreanischen Gangsterfilm THE OUTLAWS (2017). Für diesen Popelfax hat man also allen Ernstes Rechtegeld ausgegeben!? Auweia, auweia. (Der Hahn legt keine Eier, hätte ich jetzt fast hinzugefügt.) So eine Story hätte jeder unterbeschäftigte Bollywood-Drehbuchautor dankbar für ein Taschengeld fix zusammengestückelt. Die Produktionsfirma kann demnächst auch gerne mich fragen. Ich meine, schlimmer kann's nicht werden.

Schauspielerisch gibt es hier Randeep Honda, dem man es gönnt, dass er so seine Rechnungen bezahlen kann. Er liefert eine routinierte langhaarige Bösewichtnummer. Und Disha Patani verkörpert eine weibliche Kunstfigur, der man für manche Szenen eine Kleiderspende zukommen lassen möchte. Nach ihrer ganzen Arbeit mit Salman Khan und Tiger Shroff sollte sie übrigens versuchen, mal irgendwas anderes zu machen, sonst erinnert sich die Filmgeschichte an sie als "diese spärlich Bekleidete" – „ich hab jetzt den Namen vergessen“ – die „in diesen Actionfilmen mit ständig oben ohne rumlaufenden Männern zu sehen war“.

Dabei belassen wir es jetzt. Denn der Film ist so was von tot. Total tot. Töter als tot. Und über Tote soll man nicht schlecht sprechen. Jedenfalls nicht zu lange.