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Donnerstag, 10. Oktober 2019

Gitanjali Raos BOMBAY ROSE – Hindi-Filmträume

© Cinestaan International Sales

Gitanjali Raos Animationsfilm BOMBAY ROSE (2019), der auf dem Filmfest Hamburg 2019 zu sehen war, bewegt sich zwischen Traum und Wirklichkeit, Alltag und Phantasie, zwischen Leben in der Gegenwart und lebendiger Nostalgie. Nicht zufällig benutzt der Filmtitel das alte Wort Bombay und nicht die neue Bezeichnung Mumbai. Und die Phantasie wird in Bombay ganz besonders von der Fiktion des Hindifilms gespeist, wo sie im Kopf weiterlebt, sich selbstständig macht und den Blick auf die Welt um einen herum verändert. Die Welt des Kinos ist schon im filmischen Stadtbild von BOMBAY ROSE verankert, beispielsweise sehr direkt durch die Filmplakate mit dem fiktiven Filmstar-Hero Raja Khan, aber auch indirekt, versteckt, wie etwa die Bar „Pyaasa“, wobei „Durst“ natürlich ein nicht unpassender Name für eine Bar mit Tanzmädchen ist. Aber natürlich denkt man dabei an Guru Dutts Klassiker PYAASA (1957), wo der Dichter-Protagonist von einer abstoßenden Tanzveranstaltung flieht, sich betrinkt und, in einem poetischen Lied den moralischen Zustand der Nation beklagend, durch das Rotlichtviertel geht. BOMBAY ROSE nimmt inhaltlich die Aktionen der heutigen indischen Polizei gegen Tanzbars auf.

BOMBAY ROSE hat keine Handlung, die direkt durch Identifikation Emotionen erzeugt. Der Film schwebt ein wenig über dem Geschehen und erzeugt vor allem eine tagtraumhafte Stimmung, hervorgerufen durch einen langsamen Rhythmus, den sorgfältig abgestimmten Soundtrack, die visuelle Poesie, einer Collage aus Bildern, Melodien, Zitaten. Im Mittelpunkt von BOMBAY ROSE steht eine junge Hindi-Frau, die als Mädchen mit einem alten Mann verheiratet wurde und mit dem Großvater, einem Uhrmacher, und kleiner Schwester nach Mumbai floh. Sie ist eine Straßenverkäuferin, die sich gern als eine ihren Märchenprinzen treffenden Prinzessin träumt. Sie liebt den Blick aufs Meer, denn dort „haben Träume keine Grenzen“. Ein Schurke will ihr angeblich einen guten Job in Dubai besorgen. 

Dann ist da ein junger Moslem-Mann vom Land, der gerne Helden-Filme guckt und mit seinem offenen gelben Hemd seinem heroischen Ideal nacheifert. Er sucht einen Job. Vorerst verkauft er vom Friedhof gestohlene Rosen auf der Straße. Hero und Prinzessin, die perfekte und klassische Hindifilm-Konstellation, dazu die unerschiedliche Religion und ein echter schleimiger Bösewicht als zu überwindende Hindernisse, wobei der Schurke ja im Kino gewöhnlich mit ein paar einprägsamen Sprüchen für die Ewigkeit und ein paar gezielten Schlägen außer Gefecht gesetzt wird. Das Thema der Einwanderung nach Mumbai beherrschte übrigens schon Raos Kurzfilm CHAI (2013) über drei Tee-Verkäufer, die von sich erzählen, angereichert mit bunten Animationsszenen der fernen Heimatregion.

Eine schöne, stimmungsvolle Nebenfigur, die leibliche Verkörperung von Nostalgie, ist die alte Witwe Shirley d'Souza, bei der sich alles vermischt, eigenes Leben und Filmleben. In ihrer Symbolisierung einer vergangenen Zeit erinnert sie ein wenig an die Figur Violet Stoneham, einem Überbleibsel des britischen Empires in Aparna Sens Regiedebüt 36 CHOWRINGHEE LANE (1981). Bei d'Souza sind es die 50er, 60er, gleichbedeutend mit dem Goldenen Zeitalter des indischen Kinos und den moderneren, etwas zupackenderen Romantikern wie Shammi Kapoor. Die Zeit ihrer Jugend, ihrer Romanze, kurz der Erinnerung an schöne Zeiten. Sie redet von Shakila und Guru Dutt und der cool im Mundwinkel hängenden Zigarette. Beide wirkten gemeinsam in Dutts AAR PAAR (1954) mit. Zu einem älteren Mann sagt sie „Johnny Walker“ nach dem klassischen Filmkomiker jener Zeit, ein Synonym für Witzbold. Und als sie sich für ein Treffen zurecht macht, erklingt „Baar Baar Dekho“ aus dem Shammi-Kapoor-Film CHINA TOWN (1962). Dabei es ist ganz und gar nicht diese lexikonartige Präzision der Filmgeschichte, von der sie besessen ist. Die Filme und die Musik sind untrennbar verbunden mit dem persönlichen Erleben.

Einen Geist vom Friedhof treibt offensichtlich die Musiknostalgie um. Wenn der auftaucht, wird die Perspektive kreisförmig, das außerhalb liegende Bild etwas unscharf. Dazu ertönt das Lied einer Jazzinterpretin. Wenn ich nicht ganz schief liege, ist das Lorna Codeiro, die legendäre Goa-Jazz-Sängerin. Ein Geist, für den diese Zeit wohl die Zeit seines Lebens war, untrennbar verbunden mit Musik. Und dazu tanzen die menschlichen Schemen auf dem Friedhof. Vielleicht in der Erinnerung, vielleicht sind es aber auch andere Geister. 

Und wenn ich jetzt nebenbei erwähne, dass Anurag Kashyaps schändlich verkanntes Meisterwerk BOMBAY VELVET auch eine Hommage an den Goa-Jazz, an das wilde Prohibitions-Bombay der 60er ist, dann ist das eine Abschweifung, die absolut Sinn macht, denn es ist Anurag Kashyap, der seine einprägsame Stimme dem Hero Raja Khan – dem Filmhelden im Film im Film – leiht. In einem wichtigen Punkt hält BOMBAY ROSE sich übrigens an die ungeschriebenen Hindifilm-Regeln. Es gibt trotz aller Tragik ein Happy End für die weibliche Hauptfigur und ihre Familie. Und nebenbei wird dem Hero-Spiel junger Männer eine düstere Absage erteilt, da die normale Welt so nicht funktioniert. Es ist also allenfalls das moderne Bollywood-Männerkino, das als Vorbild abgelehnt wird. Das Muster des klassischen Hindifilms, mit seiner Mischung aus Sozialem und Poesie, ist ja im Grunde auch das Prinzip von BOMBAY ROSE, nur eben mit den Mitteln des fantasiereichen Animationsfilms.

BOMBAY ROSE ist das selbst gezeichnete Langfilmdebüt von Gitanjali Rao: Es beruht auf Raos eigenem Kurzfilm TRUE LOVE STORY (2014), in dem der visuelle Stil der Haupthandlung schon festgelegt ist. Aber der Wechsel der Stile, der Übergang vom äußeren zum inneren Leben, beschäftigt sie schon viel länger künstlerisch, so wie in PRINTED RAINBOW (2006), das in grobkörnigem Schwarzweiß den Alltag einer alten Frau mit einer Katze in einer Hochhauswohnung zeigt. Phantastisch wird es, wenn sie sich die Etiketten ihrer Streichholzsammlung anschaut. Aber so ist es auch in Raos jeweils einer Farbe gewidmeten Filmen BLUE (2000), wo ein kleines Mädchen zu französischen Akkordeonklängen vom Weltraum träumt, und ORANGE (2002), der das visuell abstrahierte Liebesleben einer jungen Frau zeigt. 

Der Übergang zwischen den Zeitebenen in BOMBAY ROSE ist absolut fließend. Man sieht etwa, wie ein moderner Bazar sich in einen aus der moslemischen Herrscherzeit verwandelt, wie sich die Häuser schwarzweiß entfärben und zum Bombay des Goldenen Kinozeitalters des Hindifilms werden. Besonders für die Märchenträume bedient sich Rao bei der sehr bunten indischen Volkskunst. Dazu gibt es eine schöne Anekdote, die sie oft in Interviews erzählt, weil sie so einschneidend für ihren künstlerischen Weg war. Als sie ihrem Mentor, dem polnischen Animationskünstler Jerzy Kucia, ihren Film ORANGE zeigte, bemängelte der trotz aller Qualität, dass da nichts Indisches, nichts wirklich Persönliches in dem Film wäre, der tatsächlich mit seiner Bar und seinem Großstadtjazz überall in einer Großstadt auf diesem Planeten spielen könnte.

Der visuelle Stil der Haupthandlung von BOMBAY ROSE ist eine Mischung aus einerseits sehr klarem und detailliertem Realismus, einer großen Präzision mit klaren Linien, andererseits aber auch aus Andeutungen in Form von verschwommenen Flächen. Manchmal sind bei Personen sogar die Augen verwischt. Der Film bleibt so in einem Grenzbereich, der die ständigen Wechsel der Realitätsebenen und künstlerischen Stile möglich macht, ohne dass der Bruch so groß und eindeutig ist wie in PRINTED RAINBOW. Und auch wenn in den Alltagsszenen eher gedämpfte Farben vorherrschen, wirkt das Bild dennoch sehr bunt, da es ungeheuer reich an unterschiedlichen Farbtönen und Schattierungen ist. Das ist übrigens etwas, das sogar innerhalb des Films thematisiert wird. Rosen, ein wichtiges und immerhin titelgebendes Leitmotiv des Films, sind nicht einfach rot, erfährt die kleine Schwester im angewandten Englischunterricht im Garten von Shirley d'Souza: Sie sind beispielsweise scharlachrot oder karminrot. Es ist nicht zuletzt diese präzise Sorgfalt, weshalb Gitanjali Raos neuer Film solch eine zerbrechliche Schönheit ausstrahlt.



© Cinestaan International Sales (Quelle: Filmfest Hamburg)

Dienstag, 8. Oktober 2019

Yashaswini Raghunandans THAT CLOUD NEVER LEFT – Ein Spielzeugfilm

© Yashaswini Raghunandan (Quelle: Filmfest Hamburg)

Ein abgelegenes bengalisches Dorf, in dem es ohne Mondschein so dunkel ist wie in keinem Kino der Welt mit Notausgangsleuchten. Dafür ist es nie wirklich still, denn die großen und kleinen Tiere des umliegenden Dschungels produzieren ein ständiges Geräusch, das man übrigens während des Nachspanns in ordentlicher Lautstärke ungestört genießen kann. Und wenn am Ende des knapp einstündigen Films THAT CLOUD NEVER LEFT (2019) dann nur dieses Dschungelgeräusch bleibt, dann wird gewissermaßen auf eine abstrakte Weise das Prinzip nachgeahmt, das hier im Mittelpunkt stand: die Verarbeitung und Reduzierung von Film-Zelluloid, des physischen Materials eines ursprünglich zum Gucken bestimmten Kinofilms, hin zu einem reinen Geräusch, einem im Übrigen nicht sehr subtilen Geräusch, hervorgerufen mit Hilfe eines amüsanten Krachspielzeugs. Dieses in dem Dorf mit Handarbeit hergestellte Bambusspielzeug, das von umherziehenden Verkäufern in indischen Städten verkauft wird, war auch für Regisseurin Yashaswini Raghunandan der rein praktische Ausgangspunkt der Entstehung ihrer poetisch-informativen Mischung aus Dokumentation, Fiktion und Installation, die ich auf dem Filmfest Hamburg 2019 gesehen habe.

„Kyatketi“ heißt das Spielzeug, wie Raghunandan in Interviews verrät. Das ist ein Wort, das bei Google, geschrieben mit lateinischen Buchstaben, nur im Zusammenhang mit diesem Film auftaucht. Im Laufe des Films sieht man die Arbeitsschritte: Männer im Wald beim Auswählen geeigneter Bambusstämme, deren Zerkleinerung bis zu kleinen Stäben, dann deren Färbung und die Kleinarbeit, was dann wohl meist Frauensache ist. Konkret werden alte Zelluloidstreifen in Stücke geschnitten, in Einzelbilder sozusagen, gefaltet und an den Stäben eines kleinen Rads befestigt, sodass es beim Drehen ein Geräusch ergibt, wenn die Stücke ein Hindernis streifen. Wir sehen auch andere Materialien für andere Handarbeiten. Im Mittelpunkt steht also zunächst einmal die Arbeit. Man bekommt aber auch kleine Einblicke in den Alltag, wie eine Diskussion um Geld oder das Nichtstun bei heftigem Regen.

Gleichzeitig ist THAT CLOUD NEVER LEFT auf eine fast beiläufige, unaufdringliche Weise ein Film übers Sehen, die Freude der Menschen am Gucken und vor allem das Bedürfnis, die Welt einfach anders, mit anderen Augen zu sehen, als man sie normalerweise sieht. Man hält rote Folie vor die Augen, schon hat man einen visuellen Effekt. „Die Welt sieht so anders aus.“, sagt jemand als Reaktion auf die rosarote Färbung des Bildes vor seinen Augen. Und dann ist da, wie überall, wo es ein bisschen Strom gibt, der Blick auf den Fernseher, oft weiter oben angebracht, sodass man ihn von überall im Raum aus sehen kann. Das ist derselbe Blick nach oben wie der auf den Mond, der sich bald verfinstern soll. Und alle sind gespannt auf den angekündigten Blutmond. Sogar ein Gerüst wird zur Beobachtung gebaut. Und Kinder haben ihre ganz eigene Art, sich die Welt zu machen, wie sie ihnen gefällt, wenn ein paar Jungs hier einen Rubin suchen und dabei die abenteuerlichsten Theorien über dessen Verbleib aufstellen. Einmal sieht man einen Vater seinen Jungen ermahnen, dass er den Rubin vergessen und sich lieber auf die Schule konzentrieren solle. Erwachsenen tun gerne so, als seien sie vernünftig.

Und immer wieder zwischendurch gibt es Montagesequenzen von Einzelbildern des sich zersetzenden, verwüsteten Zelluloids. Manchmal kann man noch die ursprünglichen Spielfilmbilder, manchmal nur Andeutungen davon erkennen. Auch der Familie, die das Spielzeug herstellt, werden diese Bilder auf einem Fernseher gezeigt, sozusagen die verborgene Wirklichkeit ihres Arbeitsmaterials, das sich ja ironischerweise immer noch dreht, so wie es sich als Teil der Filmrolle während der Projektion gedreht hat. Das ist eine Art künstlerische Installation für den Hausgebrauch, was wiederum dokumentarisch gefilmt wird. Dazu erklingen alte Filmsongs, wie „Jahne Vo Kaise“ aus dem Guru-Dutt-Film PYAASA, was aber jetzt mit seiner Thematik des armen Poeten wenig mit dem Film zu tun hat. Es geht wohl eher um ein allgemeines Gefühl der Nostalgie. Worüber ich mir nicht ganz klar bin, ist, wo die Musik genau herkommt, ob sie direkt über die im TV gezeigten Bilder gelegt wurde oder ob sie nur die Filmmusik des Films THAT CLOUD NEVER LEFT ist. Ganz am Ende des Films schiebt sich eine Wolke vor den Mond, und der Film ist aus: Die Wolke ging nie weg. Vielleicht nicht unbedingt für die Dorfbewohner, aber für den Filmzuschauer, dem der Blick auf den Blutmond verwehrt bleibt. Und abseits all der verschiedenen Ebenen, unter denen man den Film sehen, betrachten, beschreiben kann, ist seine größte und primäre Qualität seine Verspieltheit, wodurch er nicht nur schön anzugucken, sondern ganz einfach unterhaltsam ist.

Dass in den Slums der Großstädte wie Kalkutta und Mumbai solche ideenreichen Handarbeiten, oft unter Verwendung von auf diese Weise recyceltem Müll, angefertigt werden, ist bekannt. Dass das auch auf dem Land geschieht, wusste ich nicht. Und so ist THAT CLOUD NEVER LEFT tatsächlich auch ein Stück reine Information, Aufklärung über die Situation auf dem Land in Indien. Und da kommt der Produzent des Films ins Spiel, als der das „People's Archive of Rural India“ (PARI) angegeben wird, einem digitalen Archiv aus Texten, Videos, Musik mit eigener Website. Ob Videos zu spezielleren Fällen wie einem lebensgefährlichen Schulweg, weil eine Brücke nicht erneuert wird, oder durch Tiger verwitwete Frauen bis zu den leider üblichen und nötigen Bauernprotesten wegen zu niedriger Gewinne. Sehr interessant. Und empfehlenswert.
 © Yashaswini Raghunandan (Quelle: Filmfest Hamburg)


Sonntag, 6. Oktober 2019

Siddharth Anands WAR – Eine Action-Fantasie

Hrithik Roshan und Tiger Shroff als Offizier Kabir und Untergebener Khalid im Dienste des indischen Geheimdiensts. Das Idol und sein Bewunderer, so spiegelt das Kino das Leben wieder. Dieses Männergespann funktioniert sehr gut in Siddharth Anands schönem Actionfilm WAR (2019). Roshan spielt einen hart gesottenen, leicht gealterten Superspion, möglicherweise nach dem inzwischen abzusehenden verdienten Erfolg des Films nicht zum letzten Mal, sondern in einem Franchise, wie Regisseur Anand gerade öffentlich machte. Was Tiger Shroff angeht, bezweifle ich, dass aus ihm jemals ein Allround-Schauspieler wie Roshan wird. Aber für Action mit ein oder zwei Musiknummern ist er ganz ideal. So wie hier. Jedenfalls macht das Drehbuch keinen Fehler und er bekommt kein Mädchen an seine Seite gestellt, sodass es keine etwas linkischen Liebesszenen gibt. Die beiden Stars haben mit „Jai Jai Shivshankar“ auch eine gut gelaunte und gelungene Tanznummer zusammen.

Roshan allerdings hat in WAR eine kurze Liebesgeschichte, die sich dann aber als fieses Agenten-Kalkül seinerseits erweist. Und da die Dame schnell vom Bösewicht Nr.1 des Films umgebracht wird, kann sie dann auch den Männerfilm nicht weiter stören, aber jedenfalls kann so vorher noch eine langweilige, lausige und lustlose Bikini-Item-Nummer untergebracht werden, die direkt nach der Pause glücklicherweise die Handlung nicht weiter behindert. Aber dennoch: Auch auf die unangenehme Gefahr hin, feministischer Umtriebe bezichtigt zu werden, frage ich, ob das denn echt sein musste. Solch ein leicht zu durchschauendes Oberweiten-Kalkül in einem ansonsten so leichtfüßigen und angenehm naiv erzählten Film. Und ich frage mich, ob eine solche Nummer denn überhaupt irgendwer vermisst hätte. 

Aber wie auch immer: Jedenfalls hat die Tote eine kleine Tochter, um die sich Hrithik Roshan dann kümmert. Kleine Mädchen in echten Männerfilmen, das hat schon immer gepasst, wie wir seit Shirley Temple wissen, die ja sehr oft eine Waisin gespielt hat, mal halb mal voll. Damit es auch mit Sicherheit abwechslungsreich zugeht, lebt der Film von Anfang an von moralischer Gut-Böse-Unsicherheit. Shroffs Vater war Verräter, deshalb steht der Sohn für viele unter Sippen-Verdacht, dann scheint Roshan ein Böser zu sein, bis sich wieder alles umdreht, sodass sich mit den beiden Hauptfiguren im Laufe des Films die drei Kombinationen gut-gut, böse-gut, gut böse ergeben. Dazu kommen noch Verräter innerhalb des indischen Geheimdienstes selbst.

WAR (2019) handelt im Grunde von der Jagd auf einen bestimmten, besonders einfallsreichen und hinterhältigen Islam-Terroristen. Der „War“ des Filmtitels ist also der Krieg gegen den Terror, aber man ist hier nicht im ernst-harten Milieu der Filme von Neeraj Pandey wie BABY (2015). Vor allem ist es eine Action-Fantasie aus Versatzstücken, oder eher aus Zitatfetzen von Spionagewerken wie Tom Cruises Produktionen der Kinofilmreihe MISSION IMPOSSIBLE (seit 1996) bis zu Gut-gegen-Böse-Duellen wie John Woos FACE/OFF (1996). Dabei hat Regisseur Siddharth Anand seine eigene Art, die Dinge anzugehen. Er beherrscht die Kunst, eine schöne geschmackvolle Oberfläche zu kreieren, an der er, wenn nötig, bleiben kann, ohne dass es banal wird. Das schafft er mit einer präzisen Inszenierung, einer fließenden Erzählweise, gepackt mit vielen kleinen, originellen Ideen. WAR strahlt nach außen hin eine Entspanntheit aus, die Hindi-Action oft fehlt, wo die Anstrengungen des Drehs sich im fertigen Produkt niederschlagen. Diese Leichtfüßigkeit zeichnete schon BANG BANG! (2014) aus, den manche Fans lieber mögen als das US-Original KNIGHT AND DAY (2010) von James Mangold, und sie haben gar nicht so Unrecht. Und auch wenn es ein für Hindi-Film-Verhältnisse teurer Film ist, kann man etwa eine Motorradverfolgung nicht so authentisch machen, wie es eine große Hollywood-Produktion kann. Und so gibt vor allem der Schnitt dem ganzen einen realen Look und einen glaubwürdigen Zusammenhang, der überzeugt.

Anand scheint übrigens an sich eine Vorliebe für Tempo zu haben. Sein sympathischer Familienfilm TA RA RUM PUM (2007) handelte ja schon von Rennfahrerei. Auf Deutsch hat man die hübsche Lautmalerei des Titels übrigens durch PAPA GIBT GAS – EINE FAMILIE IST NICHT ZU STOPPEN ersetzt. Mit schön anzusehender formaler Sicherheit beherrscht Anand aber auch romantische Komödien wie LOVE AAJ KAL (2009) und den ausgezeichneten BACHNA AE HASEENO (2008) um einen Jungplayboy, der sich zwischen verschiedenen Frauen nicht entscheiden kann. Und in dem Drama ANJAANA ANJAANI (2010) geht es sogar um Selbstmord. Und so wie Anand zwei Mal mit Saif Ali Khan, zwei Mal mit Ranbir Kapoor gedreht hat, so ist WAR jetzt sein zweiter Film mit Hrithik Roshan. 

Damit diese Stars gut aussehen, weiß Anand sie, passend zu ihrem Image und ihren Fähigkeiten, in Szene zu setzen. Er schafft ikonische Momente und Bilder, ohne es pompös wirken zu lassen. In WAR hatte Anand ja zusätzlich noch die Aufgabe, zwei Männern gleichzeitig besondere gemeinsame Momente zu geben. Und das geschieht zum einen in der erwähnten Tanzszene und natürlich zum anderen in den Kampfszenen, mal verbündet, mal verfeindet. Da gibt es am Ende eine ausgedehnte Prügelschlacht in einer alten verlassenen Kirche. Dass Siddharth Anand den Regisseurskollegen John Woo bwundert, hatte man ja schon vorher geahnt, allerdings verzichtet er in seiner Filmkirche auf die obligatorischen weißen Tauben. Im Ganzen ist WAR mit seiner Action-Naivität das genaue Gegenstück zu dem überladenen, unverdaulichen SAAHO-Desaster von vor einigen Wochen. Wären SAAHO (2019) und WAR Schiffe, dann würde SAAHO schwerfällig untergehen, während WAR leicht darüber hinwegflöge.