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Montag, 30. Mai 2022

Talapathy Vijay in BEAST – Stirb schnell

 

Wenn sich der Seelenklempner, der einen wieder einrenken soll, versucht zu verleugnen, weil er wegen dieses belastenden Patienten neuerdings selbst zum Psychiater gehen muss, dann ist der Ton eines kruden Films eingeschlagen, auch wenn es tragisch beginnt. Der von Talapathy Vijay dargestellte Spion-Elitesoldat Veeraraghavan in Nelsons tamilische Actionkomödie BEAST (2022) kann es nicht verwinden, dass ein kleines Mädchen, dem er immer bunte Luftballons gekauft hat, bei einem seiner Einsätze ums Leben gekommen ist. Die Zentrale hatte ihn bewusst nicht korrekt informiert und das Kind als Kollateralschaden in Kauf genommen. Natürlich für das große Ganze. Er quittiert den Dienst.

Die Rezeption von BEAST wae teilweise sehr durchwahsen, aber für mich ist der Film einer der neuen Werke mit dem höchsten Unterhaltungswert, mit dem ich mich dieses Jahr im Kino vergnügt habe. Alles ist bunt, poppig, originell, einfallsreich und komisch. Der absurde Humor ist zwar teilweise grenzwertig und Geschmackssache, etwa wenn eine alte Frau bei der Geiselnahme der Geschichte nervös und unkontrolliert anfängt zu brabbeln. Und da schießt der genervte Islamistenchef ihr völlig unvermittelt in den Kopf. Endlich ist Ruhe. Der Psychiater des Soldaten nimmt ihn zur Therapie mit auf eine Nordhochzeit, wo er plötzlich verlobt ist, ohne dass er sich gegen die energische junge Dame wehren kann. Die junge Frau namens Preethi will den Idioten nicht, den sie nehmen müsste, wenn sie nicht jemand anderen auftreibt. Der abservierte Verlobte sorgt dann noch für viel blühenden Irrsinn, vor allem da er sich das Gesicht seiner Angebeteten überlebensgroß auf den Rücken hat tätowieren lassen.

Die Story ist ja einfach. Fast alles spielt in einem modernen Einkaufszentrum, wo mörderische Konflikt mit islamischen Terroristen,  die die Besucher als Geiseln genommen haben, ausgekämpft werden. Es gibt ein hin und her, bei dem die Bösen nach und nach dezimiert werden. Die Parallelen zu STIRB LANGSAM sind unverkennbar, aber während Bruce Willis schwitzend durch die Gänge kriecht, behält Vijay eine gewisse saubere und jungenhafte Leichtigkeit.

Gleichzeitig gehen Humor und brutale Gewaltszenen eine teilweise angenehm einfallsreiche, unterhaltsame Mischung ein, da ist es doch mal egal, dass Regisseur Nelson und Hauptdarsteller Vijay, Joseph Vijay, bessere und wichtigere Filme gemacht haben. Die Mall bietet so manchen Konsumgegenstand an, den man ganz wunderbar als Waffe benutzen kann. Ein Auto, ein Skateboard. Dazu kommen meist in Zeitlupe gezeigte Messerkämpfe, die etwas Tänzerisches haben.

Pooja Hegde spielt eine energische Verlobte, während ihr Ex-Verlobter die erwähnte Nervensäge ist. Dazu kommen Johnny Lever und ein paar andere als Comedy-Verstärkung, was wunderbar funktioniert.  Hegde könnte durchaus ein paar energisch-witzige Szenen mehr haben. Übrigens kann man hier tatsächlich mal das Nachspannlied empfehlen, wo einem da doch manchmal bloß überproduzierte Geschmacklosigkeiten geboten werden. BEAST aber fährt auf mit einem munteren Mexikostück, gesungen von Vijay höchstpersönlich. Ein kleiner Nachschlag in tanzbarer Leichtigkeit sozusagen.

Sonntag, 22. Mai 2022

Prashant Neels K.G.F.: CHAPTER 2 – Die El-Dorado-Goldfabrik

 

Der zweite Teil (2022) des im Original Kannada-sprachigen Gangster-Epos K.G.F. ist der Dauererfolg Nummer eins dieses Frühjahrs. Selbst hier in Deutschland werden immer noch vereinzelte Vorstellungen angesetzt, was über einen so langen Zeitraum nicht so häufig geschieht. Man musste ja lange warten auf die Premiere, denn die wurde coronabedingt immer wieder verschoben.

Der erste Teil zeigte den Aufstieg des geprügelten Straßenkindes Rocky zum Gangsterboss, Volkshelden und zum Eroberer und Besitzer einer riesigen westernartig festungsgleich gesicherten Goldschürfanlage mit dem Namen El Dorado, wo Menschen als Sklaven für die mühselige Handarbeit gehalten werden. In K.G.F.: CHAPTER 2 (2022) geht es nun um den Erhalt und den modernen Ausbau dieses Besitzes. Es endet mit einer grandiosen Niederlage und einem genau getimten Tod auf hoher tiefer See. Aber es bleiben eben einige Fragezeichen. Vor allem eine Sache lässt die kleine Gruppe, die das alte Dokument mit Rockys vermeintlichen Erlebnissen liest, nicht los. Ist das Ganze Mythos oder Wirklichkeit, Wirklichkeit oder Fiktion? Vielleicht kommt es ja zur großen Rocky-Wiederauferstehung im dritten Teil, der sich ganz am Ende andeutet. Und ohne den Hauptdarsteller, den Star Yash, kann man einen dritten K.G.F. unmöglich drehen.

K.G.F. ist ein sehr formalistischer Film. Der größte Teil ist schmutzig-dunkel stilisiert, wozu die wilde, barbarische Gewalt passt. Das Ganze ist mehr überbordendes Spektakel als dramaturgisch ausgefeilt spannend. Es ist ein Film der Gegensätze und Extreme, immer am Rande der irrealen Phantasie. Ein harmloses, aber aussagekräftiges Beispiel ist Rockys Designer-Kleidung. Die sitzt perfekt und ist entweder einwandfrei fleckenlos oder aber ist, so wie sein Gesicht dann, rot verschmiert, weil er mal wieder bei einem heftigen Kampf ausgiebig in Blut gebadet hat. Dazwischen geht es nicht.

Dazu kommt eine äußerst komplexe Erzählweise. Denn man muss höllisch aufpassen. Schon beim ersten Teil hatte ich Schwierigkeiten, der Handlung bis ins Detail zu folgen. Manchmal ist es, als habe Jean-Luc Godard einen Michael-Bay-Film inszeniert. So wird zwischen den Zeit- und Ortsebenen auf eine Weise hin- und hergeschnitten, die für Mainstream-Filme eher ungewöhnlich ist, aber erfreulicherweise ganz offensichtlich vom Publikum angenommen wird. Das Süd-Kino ist in der Beziehung wirklich in der Moderne angekommen, während große Teile des Hindi-Films in der Vergangenheit festsitzen.

Die Exzesse des Films, die heftigen grenzenlosen Gewaltausbrüche dürften eine der Erfolgsursachen von K.G.F. sein. Tote gibt es hier in Massen. Zwei Höhepunkte sind die Kämpfe gegen den wikingerartig ausstaffierten Sanjay Dutt und seine Männer. Auf ein Niedermähen mit modernen Gewehren folgt eine klassische Schlacht in blutroter Handarbeit. Und so ist das K.G.F.-Universum hemmungslos, wild, brutal, unmoralisch: eine Welt, in der fast jeder in Wirklichkeit ein Gangster ist, vom Abgeordneten bis zum ehemaligen Straßenkind. Rocky hat mehr Energie und Durchsetzungsvermögen, ist seinen Gegnern immer einen Schritt, einen schnellen Gedanken voraus, kann das Verhalten der anderen erahnen. So zeigt er sich einmal selbst an bei der der ihn wie eine Besessene verfolgende Premierministerin, die von ihren Beratern gebeten wird, dem nicht nachzugehen, denn alle ihre Parlamentarier würden von Rockys illegalen Spekulationen finanziell profitieren. Und wenn ein Kampf zunächst eine scheinbare Niederlage ist, kann sich plötzlich alles wenden, weil Rocky die Niederlage schon mit eingeplant hat. Yash spielt Rocky, dem exzessive Gewalt Spaß macht, unbeweglich, ungerührt, lauernd, beobachtend, gleichzeitig unterkühlt und brennend wild,

Montag, 2. Mai 2022

S.S. Rajamoulis RRR – Göttlicher Freiheitskampf

 

Es gibt ein aktuelles Interview mit dem Regisseur des Telugu-Hits RRR, mit S.S. Rajamouli, wo dieser davon redet, dass die Leute wegen des Stars ins Kino gehen. Nicht wegen des Filmemachers. Und natürlich ist das indische Kino ein Starkino par excellence, aber dennoch ist diese Aussage in Rajamoulis  Fall einfach falsche Bescheidenheit. Denn RRR gilt ja in Gegenden, wo die beiden Hauptdarsteller NTR jr. und Ram Charan keinen Starstatus haben, vor allem als der neue Film des Machers der zwei Teile von BAHUBALI (2015/2017).

Vor dem Vintage-Hintergrund der 1920er wird in RRR die Geschichte von Freiheitskampf und, parallel dazu, von einer aus Feindschaft und Missverständnis langsam wachsenden, tiefen Freundschaft erzählt. Der scheinbar für die Briten aktive Karrierepolizist Ram trifft auf den Stammesanführer Komaram aus dem Dschungel, der mit einigen Mitkämpfern ein kleines, von einer reichen Engländerin entführtes Mädchen befreien will. Räumlicher Mittelpunkt ist das stark befestigte britische Fort, in dem sowohl gelebt als auch begehrte Munition gelagert wird. Und Ram will in Wirklichkeit an die Waffen herankommen, Komaram geht es nur um das Mädchen. Individuelles, kurzfristiges Interesse und kollektives langfristiges Denken treffen aufeinander. Ram Charan spielt den kontrollierten und intellektuellen, manchmal etwas verbissenen Polizisten, und NTR jr. den naiveren Hau-Drauf-Helden aus dem Dschungel, bei dem sich Wagemut und ein gewisser Leichtsinn mischen. Hier finden sich Motive aus dem Ramayana, aber stark abgewandelt. Nicht Sita etwa wird entführt, sondern das einfache Waldmädchen. Hier steht das Volk im Mittelpunkt, nicht der Adel.

Man findet in RRR die Qualitäten von Rajamoulis Filmen, die oft große, epische, extrem gewaltige, gewalttätige und wilde Szenen enthalten. Aber immer wird alles in einem harmonischen Gleichgewicht gehalten. Rajamouli ist ein Meister solcher Gegensätze, was sich schon in den kleinen Dingen zeigt. Eines der anschaulichsten und augenfälligsten Beispiele ist der bildliche Anfang von BAHUBALI. Auf der einen Seite ist da das beindruckende Bild dieses riesigen Wasserfalls, auf der anderen Seite das in seinem Korb schwimmende kleine Baby, das als erwachsener Mann immer wieder versuchen wird, den steilen, hohen Berg, von dem das Wasser sich kraftvoll ergießt, hinaufzusteigen,. IN RRR findet sich Entsprechendes gleich zu Anfang. Szenen des Tempos, der kraftvollen Energie mit blitzschnellem Laufen einerseits und andererseits ein fast statischer, unglaublich-ungerührter Kampf gegen eine direkt irreale Riesenmenge, um einen einzigen Mann zu verhaften.

Dabei spielt die perfekt choreographierte Bewegung eine große Rolle. Sowohl die Tanzchoreographie als auch die im weiteren Sinne, vor allem der Kamerachoreographie. In dem Lied „Naacho Naacho“ verbindet sich das auf perfekte Weise. Bei Rajamouli gibt es noch schöne Musik- und Tanzszenen, die zur Story beitragen. Man darf übrigens nicht vergessen, dass Rajamouli auch anderes beherrscht als Fantasy und Action. MARYADA RAMANNA (2010) ist das wunderbare Remake der Buster-Keaton-Komödie OUR HOSPITALISY (1923). Hauptdarsteller Sunil ist hier in ständiger artistischer Bewegung. Oder der temporeiche Fliegenfilm EEGA (2012), auch eine Übung in digitalem Filmen, das bei Rajamouli nie in stumpfsinnige Videospiel-Hässlichkeit abgleitet und sich von Film zu Film malerisch perfektioniert.

Ästhetischer Höhepunkt von RRR ist die Schönheit der Zeitlupe beim Endsieg Komarams und Rams über die britischen Truppen des Forts. Da verbinden sich pure Gewalt, pure Ästhetik, pures Vergnügen, wenn Politik und Religion sich hier verbinden. Rajamouli verliert sich nie selbstverliebt in seine Stärken. Es ist die Leichtigkeit, die einen ganz offensichtlich genau durchdachten und durchkomponierten Film wie RRR auszeichnet. Rajamouli sorgt für fließende Dynamik und Abwechslung. Auch in RRR macht er aus jeder kleinen Szene ein visuell-dramatisches Juwel, das immer den Dimensionen des Gezeigten angemessen ist. Das sind unzählige kleine Ideen, ohne demonstrativ darauf hinzuweisen: intelligente, präzise Einstellungen, kleine und große dramaturgische Höhepunkte. Nichts wirkt aufgesetzt oder konstruiert. Rajamouli verbindet das heroische „Bigger-than-life“ mit einem alltäglichen „All-das-ist-möglich“. RRR ist eine der besten Filme des Jahres. So viel zumindest kann man jetzt schon sagen.

Freitag, 8. April 2022

Akshay Kumar in BACHCHHAN PAANDEY – Currywestern, Killer und Kino

 

Gleich im Vorspann von BACHCHHAN PAANDEY (2022) klingt es nach Western, aber nicht nach Currywestern, sondern nach hemmungsloser Morricone-Leone-Abkupferung. Da dröhnen die Morricone-Standards in klebriger Dichte, und die weiten Sandgegenden Rajasthans werden als Wilder Westen eingeführt. Erzählt wird eine Outlaw-Story und ist neben Hauptdarsteller Akshay Kumar als Paandey wirksam besetzt bis in kleine Nebenrollen. Dazu kommt das Vintage-Feeling des bösen Helden Bachchhan Paandey: Der liebt seinen alten Hochglanz-Oldtimer aus den 1950ern/-60ern, auf den kein Kratzer kommen darf. Doch bevor man in seine Gangsterwelt eintauchen darf, macht der Film noch einen filmischen Umweg.

Denn alles beginnt in Mumbai bei Dreharbeiten, wo eine streitbare junge Regieassistentin in der Gestalt von Kriti Sanon Ärger bekommt mit Regisseur und Produzent. Und am liebsten würden sie sie einfach zum Teufel jagen, wenn da nicht das Versprechen des Produzenten wäre, dass sie einen Film drehen dürfe, wenn sie ein gutes Thema vorweisen könne. Das muss aber erst gefunden werden. Sie stößt auf Berichte über den hochgefährlichen Bachchhan Paandey, ist begeistert und landet in Rajasthan und sammelt Material, was sich als nicht ganz ungefährlich erweist. Wäre sie ein Mann, wäre sie vermutlich schnell erschossen worden. Ihr Arbeitspartner hat daher mehr Angst als sie.

Akshay Kumar hat offensichtlich Spaß an der Rolle, wobei die Make-Up-Abteilung gute Arbeit geleistet hat. Doch der Film ist seltsam unschlüssig. Die Mischung aus brutalem Gangsterfilm-Western und Komödie funktioniert nicht. Das eine scheint das andere zu blockieren, sodass hinterher nur ein über weite Strecken ziemlich fader Eintopf herauskommt. Da ist zu viel Kumar-Show. Und die Hauptfigur bleibt einem fremd. Paandey will zwar Angst verbreiten als Überlebensstrategie im ziemlich gefährlichen Gangsterleben, wo man nicht unbedingt alt wird, aber als Bösewicht existiert er vor allem bloß verbal. Da ist ein Schauspieler, der mit Vergnügen seine Show abzieht und den Bösen markiert, der schießt, ohne dass man die Opfer sieht. Man nimmt brutale Morde gar nicht als solche wahr. Die Gewalt bleibt seltsam keimfrei. Er knallt ein bisschen mit der Pistole herum. Selbst das Brennen eines Journalisten bei lebendigem Leib berührt einen nicht. Wobei Produzent Nadiadwala, der selbst die Story geschrieben hat, hier vielleicht einen heimlichen Traum auslebt. Echte Bedrohung strahlt er nicht aus, Lichtjahre entfernt von Amjad Khan im berühmtesten aller Currywestern, SHOLAY (1975). Natürlich war es der Verlust einer Frau, der Paandey böse gemacht hat. Das ist doch mal psychologisch originell.

Das Amüsante im Film sind die Szenen, die dem Filmemachen und dem späteren Filmdreh gewidmet sind. Also besonders der Anfang und das Ende. Da kommt BACHCHHAN PAANDEY ganz gut in Fahrt. Da wird es dann auch hübsch amüsant, beispielsweise, wenn ein bekloppter, selbstverliebter Schauspiellehrer herangekarrt wird, denn die Gangster sollen sich selbst spielen. Das filmische Endergebnis hat eine löbliche, einfache Moral, denn das Gute im Gangster siegt. Aus dem mörderischen Outlaw, der so viel Wert darauf legte, dass die Menschen Angst vor ihm haben, macht der Film eine Art Heiligen. Das Schlussbild zeigt Paandey bei der Arbeit an einem neuen Film. Sein Erstlingswerk war sehr erfolgreich. Er guckt in die Kamera. Es ist ja im Grunde alles bloß Kino, alles bloß Film.

Dienstag, 5. April 2022

Richie Mehtas DELHI CRIME (Staffel 1) – Seelenlos

 

2012 macht ein Pärchen spät abends in Delhi Anhalter an einer befahrenen, aber einsam gelegenen Straße, die schon auf den ersten Blick unheimlich wirkt. Ein Bus hält, sie steigen ein und später liegen beide am Straßenrand. Sie ist unbeweglich, er kann nach einiger Zeit Hilfe herbeiwinken. Der junge Mann ist glimpflich davon gekommen, sie muss mit geringen Überlebenschancen ins Krankenhaus. Denn hier fand mehr als eine Vergewaltigung statt. Sie wurde in einem großen Anfall von Hass gefoltert, gebissen und von innen aufgerissen mit einer Stahlstange. Und das von sechs Männern gleichzeitig, und keiner von ihnen bemühte sich auch nur halbherzig, der Sache ein Ende zu machen.

Die erste Staffel von Richie Mehtas True-Crime-Fernsehserie DELHI CRIME (2019) beruht auf der damals auch medial ausgeschlachteten Massenvergewaltigung von 2012, wobei es in diesem Beitrag nicht darum gehen soll, Serie und Wirklichkeit auf das Verhältnis von Fakten und Fiktion zu untersuchen. Das große Ganze steht im Vordergrund. Die Serie ist spannend und aufschlussreich, weil sie nicht beim Verbrechen und einer Krimihandlung stehenbleibt, sondern anhand der Beteiligten von einer ganzen Gesellschaft erzählt. Auch ein Film über die Stadt Delhi, ihre dunklen Ecken, ihren geistigen Zustand. Zwischendurch immer wieder eine schnelle Erzählweise, die den Ehrgeiz zu haben scheint, dokumentarisch möglichst viele Quadratmeter Delhis aufzunehmen. Da sind die vollen Straßen, die Menschenmassen, die nächtlichen Lichter, die unaufhörliche Bewegung.

Die Tochter der Polizistin – eine von Shefali Shah mit Gefühl und Energie gespielte DCD (deputy commissioner of police), Chefin als eine Art Reviervorsteherin – jedenfalls will weg aus Delhi nach Nordamerika. In Indien könne man nicht leben, es sei viel zu unsicher, besonders für Frauen. An der Mutter jedenfalls liegt es nicht. Sie geht in ihrem Beruf an die Grenzen der Leidens- und Leistungsfähigkeit. DELHI CRIME ist gekennzeichnet durch eine positive Darstellung der Polizei und ihrer harten und oft auch erfolgreichen Arbeit, die nie wirklich gewürdigt wird. Auf die man sich nur stürzt, wenn etwas schiefgeht. DELHI CRIME zeigt hoch engagierte Beamte, die nicht aufgeben, bis sie ihre Aufgabe erledigt haben. Die Chefin muss ihre Untergebenen aber immer wieder motivieren. Es ist ein Kampf gegen Müdigkeit, ein schlafloser Kampf gegen ein Ultimatum von oben, den Fall restlos zu klären. Die oft intensiven Ermittlungen gehen unter Lebensgefahr bis nach Kashmir.

Die Polizei ist of der Prügelknabe, das schwächste und unterbezahlte Glied in der Kette. Solche Verbrechen passieren ja in Indien öfter, aber es ist eher selten, dass sie an die Öffentlichkeit kommen. Und das wird diesmal von verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen ausgenützt, teilweise natürlich auch mit berechtigten Anliegen. Aber jeder hier kocht sein Süppchen, will seine Interessen durchsetzen. Und zwischen allen eben die Polizei, die unter Druck steht, die Täter zu finden und zu verhaften. Und es trifft die Beamten von allen Seiten. Zunächst gibt es spontane Demos aus der Bevölkerung heraus, Proteste, Schweigemärsche mit Kerze. Aber dann verselbständigt es sich. Es gibt Hetze im Fernsehen. Feministinnen verteilen Schuld. Die Politik benutzt die Konflikte für die politische Auseinandersetzung, auch um sich selbst aus der Schusslinie zu nehmen. Denn die meisten Vorwürfe sollten doch gerade die Politik treffen. Schließlich werden da die Gesetze gemacht. Die Proteste werden dann gewalttätiger und die Tochter sieht am Ende die Politisierung und die vermutlich bezahlten Pseudodemonstranten. Sie will nicht mehr daran teilhaben und versöhnt sich mit der Mutter.

Mit der Suche nach den Tätern sieht man auch ihre Umgebung, ihre Lebensweise. Es geht bis weit nach unten in der Gesellschaft. Auf das Unmögliche verzichtet DELHI CRIME, zieht es vor, in manchen Bereichen an der Oberfläche zu bleiben und sich nicht der Psychologisierung hinzugeben. Am Ende bleibt die Frage nach dem Warum. Ein Polizist sagt lapidar, Pornos ohne Aufklärung seien schuld, aber das erklärt nicht die übermäßige Brutalität. Da spricht ein Frauenhass, der erschreckt. Die Reviervorsteherin liegt vielleicht am nächsten, wenn sie beim sadistischen Anführer der Männer feststellt, da wäre nur Leere in den Augen. Ein Mensch ohne Ich, Gefühle, Gedanken, vor allem ohne Unrechtsbewusstsein und ohne Empathie. Die Männer können sich nicht in die Leiden des weiblichen Opfers hineindenken, als wäre es kein Mensch.

Dabei sind es auf den ersten Blick doch ganz normale Männer, die sich um ihre Familien kümmern oder auch ihre Mütter lieben. Eine andere Familie bangt währenddessen im Krankenhaus am Bett des weiblichen Opfers. Da gibt es stille Szenen mit den Eltern und stillem Geflüster und einer halbtoten jungen Frau, die selbst spürt, dass sie zu verletzt ist und nicht überleben wird. Sie kann gerade noch vor ihrem Tod auf Bildern die Täter identifizieren. Eine junge Polizistin und Anfängerin ist als Aufpasserin eingeteilt und spürt die Belastung. Zwischendurch muss sie raus auf die Straße, um Demonstranten in Schach zu halten. Polizeilicher Alltag eben.