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Sonntag, 21. November 2021

Rakeysh Omprakash Mehras TOOFAAN – Ein Solo für Farhan

 

Zunächst schaue man sich mal sorgfältig das offizielle Amazon-Prime-Plakat – hier handelt es sich ja um eine Streaming-Premiere – zu dem neuen Hindi Box-Film TOOFAAN (2021) an. Inszeniert hat das Ganze MILKA-Regisseur Rakeysh Omprakash Mehra, und Farhan Akhtar spielt die alles dominierende Hauptrolle. Jedenfalls sieht man auf diesem Plakat einen jungen Mann im Boxring, der angriffslustig nur nach vorne schaut. Schwer zu sagen, auf jeden Fall vermittelt es das Gefühl, da wäre doch ein junger Boxer. Und die Kriterien kann der 47-jährige Farhan Akhtar nicht erfüllen, auch wenn man ihn großzügig als 40-Jährigen durchgehen lassen kann. Da ich vorher von dem Film nichts wusste, war ich ehrlich erstaunt, als mir klar wurde, dass er selbst diesen Boxdebütanten spielt, der sich vom prügelnden Geldeintreiber zum Boxchampion wandelt. Natürlich nicht ohne vorher viele Hindernisse, die so ein Filmboxer eben überstehen muss, hinter sich zu bringen.

Nicht, dass es das nicht gäbe. Auch US-Boxer George Foreman hat sich in dem Alter noch in den Ring geschleppt, aber er war unübersehbar langsam und etwas übergewichtig. Er wollte halt verständlicherweise noch einmal abkassieren. Und auch jemand wie SCREAM-Schauspieler David Arquette ist noch einmal im Alter in den aktiven Wrestling-Kampf eingestiegen, aber er hat die Gegner nicht wie in einem Wirbelsturm weggefegt. Er wollte einfach sich und anderen beweisen, dass er ein echter Wrestler ist.

Dabei will ich gar nicht sagen, dass TOOFAAN ein schlechter Film. Er hat seine Augenblicke und technisch ist er perfekt und hübsch anzugucken. Es ist kein B-Film. Und Akhtar scheint es ernst zu sein mit der Rolle, bei der er gleichzeitig subtil arbeitet und schwitzend schauspielert. Vor dem Film wurden seine muskelbildenden Trainingseinheiten in der Presse ja auch genügend ausgeschlachtet. Was den Film als Ganzes angeht, so kommt es mir übrigens vor, als hätte man sich gesagt: „Wir haben das Geld für einen großen Boxfilm und Material für drei. Bringen wir unter, was wir können. Und dann bringt man wirklich alles unter, was irgendwie geht und wo Akhtar vor allem seine Starqualitäten und das Training ausstellen kann.

Es wird in TOOFAAN eben so viel der Reihe nach abgehakt, was in so einem Film alles passieren kann. Es gibt eine problemlose Loslösung vom alten Gangsterjob, denn der Gangster ist ein echter Ersatzpapa. Die Frau, die er kennenlernt, ist natürlich die Tochter seines Trainers, was er erst ganz spät herausbekommt. Und der Trainer mag zufälligerweise keine Moslems, zumindest nicht in seiner Familie, wegen des Todes seiner Frau bei einem Terroranschlag. Und dann folgen Bestechung, Sperre, Comeback: Der Boxer darf Jahre später und noch älter erneut mal trainieren und bei Wettbewerben kämpfen. Da gibt es Schiedsrichterbetrug, aber der wird ausgerechnet vom Moslemhasser-Papa aufgedeckt. Ein echtes Märchen. Masala in Realismus-Verpackung. Aber wir sind ja noch nicht durch. Ich hatte vergessen, dass die Frau des Boxers in einer Massenpanik stirbt und er jetzt alleinerziehender Vater ist.. Man müsste ja denken, dass angesichts all dieser Ereignisse zumindest eine gewisse Intensität geschaffen wird. Vorherrschend ist aber eine übervolle Langsamkeit, die irgendwann ganz einfach Langeweile erzeugt. Mit seiner Länge von 162 Minuten hat man sich aber auch wirklich keinen Gefallen getan.

Freitag, 10. September 2021

Amit Masurkars SHERNI – Vidya Balan im Dschungel

Filmregisseur Amit V. Masurkar war für seinen Hindi-Film Film SHERNI (2021) also erneut im Dschungel. Und diesmal ist diese Wildnis mehr als ein angeblich bedrohliches Versteck für Terroristen, vor denen der unfreiwillige Wahlhelfer Rajkummar Rao in Masurkars NEWTON (2017) lange Zeit zittert. Der Dschungel in SHERNI ist nicht nur Zentrum des Geschehens, er ist der Mittelpunkt, um den sich alles dreht. Denn auch wenn die Handlung um von einem Tiger getötete Landbewohner und um die versuchte Rettung eines weiteren Tigers die eigentliche Spannungs-Story ausmacht, hat die von Vidya Balan gespielte Hauptfigur einer leitenden Wildhüterin es mit sämtlichen komplexen Problemen des durch den Menschen in seiner Existenz und Substanz bedrohten Dschungels zu tun. Für Viehzucht und Getreideanbau, aber auch für die Ausbeutung von Bodenschätzen, was riesige Löcher in die Erde reißt, werden die dicht bewaldeten Flächen immer kleiner und auch unzusammenhängender, flickenteppichartig, was die Bewegung von Tieren einschränkt.

Und der Dschungel bestimmt auch die Struktur und den Stil des Films, der aus vielen Fragmenten, Mosaiksteinen besteht, um so nach und nach den Zuschauer mit dem, was der Dschungel bedeutet, fürs Klima, für die Tiere, für die Menschen, vertraut zu machen. Dabei geht es ganz explizit nicht um die menschliche Vorstellung vom Dschungel, etwa den mystischen, bedrohlichen oder – wie in Bimal Roys MADHUMATI (1958) – den märchenhaften Dschungel. Auch wenn es sehr schöne Bilder wie etwa Kleintiere in Großaufnahme, dazu auch düster poetische Nachtaufnahmen, gibt, steht der Dschungel in seiner biologischen, ökologischen und ökonomischen Funktion im Mittelpunkt.

Vom Menschen konstruierte Mystik entsteht allenfalls durch den unsichtbar bleibenden Blick des Tigers, der überall sein kann. Es fällt der Satz, dass, wenn man einmal einen Tiger sieht, er einen vorher schon 99 Mal gesehen hat. Doch im Ganzen demystifiziert Masurkar außer dem Dschungel auch den Tiger, der einfach nur die richtigen Lebensumstände braucht, um für die an der Peripherie lebenden Menschen keine Gefahr zu sein. Aber die Gesellschaft ergeht sich lieber in Tigerpanik, in Menschenfresserhysterie. Hier wird der Film kurz sehr böse und satirisch, was ja die Stärke von NEWTON war: Die Bilder schütten Verachtung und Hohn über die bewusst und mit offensichtlicher Freude Panik verbreitenden TV-Sender aus, die damit wie gewohnt ihre Quoten in die Höhe treiben wollen. Die ganze Nation sitzt davor und lässt sich mit wohligem Schauder manipulieren.

Die von Vidya Balan gespielte Wildhüterin ist für den Tigerbestand verantwortlich. Ein Tiger hat Dorfbewohner getötet. Man weiß nicht genau, um welches Tier es sich handelt. Der Film besteht aus den folgenden, kein Ende nehmenden Konflikten um das Tigerproblem. Balan spielt ihre Figur mit konzentrierter Innerlichkeit. Sie ist Beamtin und zeigt nicht so leicht Gefühle. Sie befiehlt mit sanfter Autorität, wird nie verbissen. Aber man spürt, dass ihre Arbeit ihr am Herzen liegt. Der Ehemann arbeitet woanders, was sie offensichtlich gut verschmerzen kann. Eine der Qualitäten des Films ist das Dokumentarische, das beispielsweise die Wildhüter einfach nur bei der Arbeit zeigt. Masurkar interessiert sich für jedes kleinste Detail der technischen Aufspürung von Tigern. Da folgt die Kamera auch mal zwei unwichtigen Nebenfiguren, um ihre Tätigkeit visuell festzuhalten.

Und es geht in SHERNI um die Bürokratie, die die Dinge oft nur komplizierter macht, selbst wenn sie mal Gutes im Sinne hat. So müssen die Bewohner eines Dorfes gezwungenermaßen zur Fütterung von Tieren auf den gefährlichen Dschungel ausweichen, weil aus dem alten Feld eine Teak-Baum-Plantage wurde. Allerdings erfüllte man damit nur einen Regierungsauftrag, nach dem pro Jahr 100.000 Bäume gepflanzt werden müssen. Deshalb kann man Balans Figur auch dabei sehen, wie sie mit Dorfbewohnern an Projekten arbeitet, die sie unabhängiger vom Dschungel machen sollen. Für klassische Spannung sorgt ein wild gewordener Jäger mit seiner Besessenheit, einen Tiger zu töten. Die Genehmigung hat er natürlich. Privilegierte bekommen alles. Überall. Erst ganz am Ende verliert die Beamtin die Selbstkontrolle, wird gegenüber Vorgesetzten immer deutlicher, fordernder und nicht zuletzt vorwurfsvoller und sorgt so natürlich für eine Versetzung ins Nirgendwo.

Der Film hat zwar ein heimliches Happy End für zwei kleine Tiere. Aber da wir hier nicht bei Disney sind, erspart Masurkar uns nicht einen ironisch pessimistischen, deprimierend muffig riechenden Schluss, bei dem alle Lichter über einer toten, ausgestopften Erinnerungswelt ausgehen. Falsche Hoffnung wird hier nicht geweckt. Und bis zum Schluss bewahrt der Film seine Ruhe und sein Gleichgewicht. Eine Kritikerin hat SHERNI vorgeworfen, das Drehbuch sei „unflashy“, also unauffällig, unaufdringlich. Wo doch gerade darin die große Qualität des Films besteht. SHERNI gehört zu den besten Hindi-Filmen des Jahres.

Mittwoch, 30. Juni 2021

LIFE AND MESSAGE OF SWAMI VIVEKANANDA – Bimal Roys Montage-Doku

 

Der aus Bengalen stammende große Hindi-Regisseur Bimal Roy hatte eine Freizeitbeschäftigung zu Hause. Auf seinem 16-mm-Projektor schaute er sich immer wieder seine Kopie von Eisensteins PANZERKREUZER POTEMKIN (1926) an. Für seine kleinen Kinder ein schauerlicher Horrorfilm mit Maden im Fleisch, aber für ihn offensichtlich eine unerschöpfliche Inspirationsquelle. Die deutlichste Spur, die dieser sowjetische Film in seinem Werk hinterlassen hat, ist natürlich das berühmte Rikscha-Rennen in DO BIGHA ZAMIN (1953) mit seiner ausgefeilten, immer schneller werdenden Montagesequenz. Aber ansonsten ist Bimal Roys Kino ein sehr ruhiges, poetisches Kino, das sich meist mit sozialen Themen verbindet. Die Verbindung aus Poesie und Politik ist zwar eine der bemerkenswertesten Eigenschaften des sowjetischen Kinos. Aber direktes Montagekino findet man bei Roy ansonsten allenfalls mal zwischendurch in kurzen Sequenzen.

Doch der Dokumentarfilm LIFE AND MESSAGE OF SWAMI VIVEKANANDA (1963) für das staatliche Dokumentarfilminstitut Films Division zwang ihn direkt, auf die Montage-Methode in einem ganzen Film zurückzugreifen, denn bewegtes Archiv-Filmmaterial stand hierfür fast gar nicht zur Verfügung. Stattdessen baute man den Film auf auf „Relikten, alten Aufnahmen, Malereien, Fotografien“. Und so versammelte er viele aus seinem normalen Team. Salil Chowdhury schrieb die Musik. Kamal Bose an der Kamera und Madhu Prabhawalkar verantwortlich für den Schnitt. Die gemalten Bilder, die die Geschichte erzählen, wurden extra für den Film angefertigt. Mit Kamera, Schnitt, Ton entstand so ein echter Bimal-Roy-Film, der abwechslungsreich eine spirituelle, soziale, poetische Geschichte erzählt.

Die Doku beginnt mit aktuellen Bildern zur 100-Jahrfeier von Vivekananda (1863-1902), mit einer Prozession, einer Veranstaltung in einem Theater, Reden von Nehru und dem Staatspräsidenten vor einer großen Menge. Das verdeutlicht die Bedeutung, die der große Mönch immer noch, wie auch heute, in Indien hat. Die Lebensgeschichte dann beginnt mit Vivekanandas Rückkehr aus dem Westen und dem triumphalen Empfang durch Würdenträger und Menschenmassen. Dann wird sein Leben von Kindheit bis zum Tod aufgerollt, wobei das Spirituelle nicht vernachlässigt wird, aber gerade eine große Betonung auf die soziale Arbeit gelegt wird, die die Doku als Vivekanandas größte Leistung erscheinen lässt.

Hier am Anfang zeigen sich schon die Mittel, die diese Doku über den vorwiegend informativen Durchschnitt der üblichen Dokumentarfilme herausheben. Ganz entscheidend für die Lebendigkeit von LIFE AND MESSAGE OF SWAMI VIVEKANANDA ist die innere Montage, wenn die Bilder von Vivekanandas Stationen gefilmt werden. Die Kamera bleibt, während der Off-Sprecher erzählt, nicht starr auf dem Bild, sondern macht gleichsam ständige Fahrten und Bewegungen, wodurch jede Statik verhindert wird. Und Kamal Bose sorgt für echte, ausgeklügelte Abwechslung: Schwenks, Zooms ins Bild und heraus, Schnitte, Überblendungen, vertikale, horizontale, diagonale Kamerabewegungen. Und das alles auf kleinstem Raum. Zwischen den gemalten Bildern gibt es immer wieder Inserts mit kurzen realen Filmaufnahmen wie die von einem Feuerwerk. Aber es gibt in Form von Schockmontagen auch Fotos von ausgemergelten Dorfarbeitern. Von ganz nah wird ein Denkmal für solche Arbeiter mit Gestalten aus Haut und Knochen gefilmt, als sollte man das Elend als Zuschauer spüren können. So weit geht Roy in seinen Spielfilmen nicht. Gleichzeitig wird später das Poetische nicht vernachlässigt. Wenn es um Vivekanandas Wanderungen durch Indien geht, zeigt Roy wunderschöne Bilder von Städten, vom Ganges, vom Sonnenuntergang und auf einem Bild, das man erst für ein Foto hält, bewegt sich plötzlich der Schatten einer Wolke auf der Straße ganz leicht nach vorne, woraufhin sofort ein Schnitt folgt. Das hat eine seltsame Wirkung. Einen Moment hat man sich auf diese Sogwirkung eingelassen, die aber sofort unterbrochen wird.

Auch der Sprechton spielt, neben der Musik, eine große Rolle. Denn durch die Verteilung der Textarten auf verschiedene Sprecher entsteht eine Dramatisierung, die den Storycharakter der Doku unterstreicht. Vivekananda und auch andere haben eine eigene Stimme. Die gelungenste Sequenz in der Beziehung ist die, in der Vivekananda den Gesang und Tanz einer Hofsängerin verschmäht, weil sich dies nicht für einen Mönch zieme. Getroffen singt sie ein religiöses Lied. An einer Wand sieht man den Schatten eines auf dem Boden sitzenden Mannes, der nach Ende des Liedes demütig um Verzeihung bittet.

Und jetzt müsste die Films Division nur noch den zweiten Dokumentarfilm von Bimal Roy ins Netz stellen: GAUTAMA, THE BUDDHA (1967). Wobei ich nicht weiß, inwiefern er diesen Film noch vollständig kontrollieren konnte, denn 1966 ist der Mann gestorben, der für mich immer noch der beste aller Hindi-Regisseure ist. Filme wie DEVDAS (1955), MADHUMATI (1958) oder SUJATA (1959) sollte jeder Filminteressierte kennen.

G. V. Iyers SWAMI VIVEKANANDA – Gotteserfahrung und Dienst am Menschen

SWAMI VIVEKANANDA (1998), G.V. Iyers biografischer religiöser Spielfilm, endet mit der Ankunft des unter dem bürgerlichen Namen Narendranath Datta (1863-1902) in Kalkutta geborenen Mönchs in Südindien. Er hat gerade einen vierjährigen Aufenthalt 1893-1897 im Westen hinter sich. Beginnend mit seinem phänomenalen Erfolg beim „Internationalen Parlament der Weltreligionen“in Chicago, hielt der Advaita-Vedanta-Anhänger Vorträge und gab Unterricht in indischer Religion und Spiritualität und setzte sie in Verhältnis zum westlichen Denken. Zum ersten Mal wurde der Westen in systematischer Weise mit den vier Wegen des Yoga – Karma, Jnana, Raja, Bhakti – vertraut gemacht. In dieser Zeit entstanden auch seine vier bekannten Yoga-Bücher, die zum Teil aus seinen Reden bestehen. Bis zu seinem Tod war Vivekananda danach noch sehr aktiv, arbeitete etwa für die internationale Ausweitung der von seinem Guru Ramakrishna initiierten Ramakrishna-Mission, deren Grundlage Karma Yoga in Form von Dienst am Menschen ist, wobei man sich besonders für das Elend der unteren Klassen und Kasten einsetzt, denn „Menschen mit leerem Bauch braucht man nicht mit Religion zu kommen“.

Und dennoch beendet Iyer vorzeitig seinen Film mit einem politisch-religiösen Satz, der wie eine Programmerklärung zur modernen konservativen Rehinduisierung Indiens klingt. Drei Mal wird der Satz wiederholt: „Lieber die alte Orthodoxie als das westliche Modell.“ Nicht, dass ich etwas gegen den Satz an sich oder Rehinduisierung hätte, aber es scheint mir problematisch,Vivekananda überhaupt auf einen einzigen Satz festzulegen und hier das Bild einfrieren zu lassen, als wäre der Satz die Essenz seines Lebens. Andererseits passt es zu einem Film, der die sehr persönliche Sicht des Regisseurs auf die legendäre Gestalt des Vivekananda wiedergibt.

Iyer lässt es also mit diesem Triumph enden, bei dem sich zeigte, dass Vivekanandas Wirken im Westen auf Indien zurückgestrahlt hatte. Verehrt wird er nicht zuletzt für seinen allgemeinen Beitrag zur geistig-spirituellen Wiederbelebung Indiens, die nach all den Überfällen und Einflüssen fremder und fremdartiger Mächte nötig war. Und trotz seines nationalistisch inspirierten Wirkens konnte Vivekananda ins Grübeln kommen, was denn Nationen überhaupt für eine Bedeutung haben, aus konsequent spiritueller Sicht. Vivekananda war eben ein Mensch mit vielen Facetten. Seine Texte und Reden zeichnet neben den klar erklärten Grundlagen des Hinduismus eine pathetische Verkündigung von der Gemeinsamkeit aller Religionen, nicht nur der Hindi-Sekten, aus, und dazu kommt ein überwältigender, mitreißender Optimismus, der sicher einiges zu seinem Erfolg beigetragen hat.

SWAMI VIVEKANANDA besteht aus zwei Teilen. Der erste ist der einheitlichste und beste und umfasst seine Kindheit, seine Ausbildung und dann seine Begegnung mit seinem Guru Ramakrishna. Da prallen dann zwei Welten aufeinander. Auf der einen Seite der rationale, intellektuelle, brillante Student, dem eine große Zukunft prophezeit wird, ganz in den Fußstapfen seines Vaters, eines Richters. Aber er hat auch seine Zweifel, ist durch die Erziehung der Mutter religiös geprägt. Doch reicht ihm Gauben nicht, er will Gott erfahren und sehen. Also macht er sich auf die Suche, doch bleibt erfolglos. Bis er Ramakrishna begegnet, der ihm bestätigt, dass er Gott so klar sehe wie ihn, dass man Religion erleben und leben könne. Passiver Glaube wird hier als nicht ausreichend betrachtet. Doch kann der Intellektuelle sich trotz allem zunächst gar nicht richtig begeistern für einen einfachen Analphabeten, denn er misst weltlicher Bildung noch einige Zeit lang zu viel Wert zu. Auch die intellektuelle Hochnäsigkeit muss er aufgeben. Aber nach und nach tritt ein Wandel ein. Schön ist auch das Aufeinandertreffen der Stimmungen, denn der angehende Schüler hat überhaupt keinen Humor, während Ramakrishna es liebt, Scherze mit ihm zu machen. Mithun Chakraborty schafft es, die spirituelle, erleuchtete Seite und das weltlich-humorvolle Ramakrishnas glaubwürdig und einheitlich zu verbinden. Nicht zufällig gab es dafür den nationalen Filmpreis für die beste Nebenrolle. Aber auch Sarvadanam D. Banerjee als Vivekananda ist mit seinem sparsamen und innerlichen Spiel eine ausgezeichnete Besetzung. Ein wichtiges Mittel, das die steigende Verbindung von Guru und Schüler zeigt, sind Lieder und die Musik von Salil Chowdhury. Das gibt dem Film eine kontinuierlich religiös-poetische Stimmung, eine Verbindung aus Klassischem und Populärem.

Im zweiten Teil des Films wird alles gedrängter, verkürzter. Gezeigt werden die entscheidenden Phasen: die jahrelangen Wanderungen durch Indien, hier bevorzugt durch einsame Gegenden. Das unterstreicht das Kräftezehrende, ist aber auch rein produktionstechnisch geldsparend. Da nimmt Vivekananda zum ersten Mal deutlich Notiz vom Elend der arbeitenden Kasten oder Klassen. Nicht fehlen darf die berühmte Bild-Anekdote mit dem Fürsten, der sich über Götterbilder mokiert und aufgefordert wird, sein eigenes Bild anzuspucken. Aber nirgendwo bleibt Vivekananda lange. Dieser Teil des Films fällt einerseits durch fehlenden Zusammenhang stückwerkartig etwas auseinander, überzeugt aber andererseits immer wieder durch überzeugende Ideen, die Dinge zusammenzufassen oder auf den Punkt zu bringen, ohne sie direkt zeigen zu müssen. So ist der ausgehungerte Mönch bei einem Mann zum Essen eingeladen, bei dem ein Bettler vorbeikommt: In der Folge hat Vivekananda eine tranceartige auditive Vision von erbärmlich schreienden hungernden Massen. Immer wieder verdeutlicht er den Herrschenden, denen er begegnet, ihre Verantwortung für diese Menschen. Die vier Jahre im Westen werden verkürzt auf die Zitate aus der umjubelten Eingangsrede auf dem Weltreligionen-Kongress und man sieht am Schluss Vivekakandas Gesicht in Großaufnahme mit einem dankbaren Lächeln, während historische Fotos der Menschen eingeblendet werden, die ihm in all der Zeit geholfen haben.

Die wenig begeisterten Kritiken damals und der fehlende Erfolg an den Kinokassen täuschen leicht darüber hinweg, dass SWAMI VIVEKANANDA ein sehr schöner Film ist. Aber gerade in der zweiten Hälfte hilft es doch, wenn man zumindest ansatzweise vertraut ist mit seinen Schriften und seinem Leben. Veredelt wird der fast dreistündige Film übrigens durch Kurzauftritte von Shammi Kapoor, Shashi Kapoor, Mammootty oder auch Anupam Kher.

Montag, 28. Juni 2021

Mari Selvarajs KARNAN – Die Bushaltestellen-Rebellion

Es ist ein ebenso traurig realer wie seltsam surrealer Beginn. In der ersten Sequenz von Mari Selvarajs Tamil-Film KARNAN (2021) mit Dhanush in der Hauptrolle liegt ein junges Mädchen mitten auf der Straße und hat etwas, was wie ein epileptischer Anfall aussieht. Die Autos rasen links und rechts gefährlich nahe vorbei. Niemand hält, auch kein Bus. Die Kamera geht senkrecht nach oben, verliert sich in der extremen Vogelperspektive in Unschärfe, um die inzwischen reglose Gestalt nach einiger Zeit wiederzufinden. Es geht wieder nach unten und dort liegt ein Wesen mit Göttinnenmaske. Von nun an ist die Tote eine Mischung aus schützendem Dorfgeist und zur Rache anfeuernder Dorfgöttin, die immer wieder zu sehen ist und wie aus dem Nichts aus dem Untergrund auftaucht. So beschert sie ihrem Großvater eine nächtliche Vision darüber, dass sie Geld für die Hochzeit der Schwester gesammelt und in der Hütte der Familie vergraben hat.

KARNAN ist Mari Selvarajs zweite Regiearbeit. Vorher war er Assistent bei Regisseur Ram. Das Regiedebüt PARIYERUM PERUMAL (2018) wurde vom neuen Produktionshaus des erfolgreichen Regiekollegen Pa. Ranjith produziert. Das Debüt war spannend, wirkte aber noch ein wenig angestrengt und konstruiert, etwas zu direkt in seiner Botschaft. Der soziale Realismus von KARNAN hingegen wird mit der toten Schwester gleich eingebettet in einen mythischen Kontext. Dazu kommt das Visuelle: sehr viele Totalen, Zeitraffer der Wolken, Aufnahmen gegen die Sonne, besonders Steinhügel im Gegenlicht. All das verwandelt die Gegend immer wieder in eine ewig, unerschütterlich wirkende und Kraft spendende Landschaft.

Neben dem Mythischen steht das Archaische: Mit dem „Karnan“-Lied folgt am Anfang des Films eine zweite Sequenz, die die Grundprinzipien des Films stimmungsmäßig festlegt. Es ist ein rhythmisches Rebellenlied vor dunklem, nachtschwarzem Hintergrund, erleuchtet durch Fackeln in zeitloser, archaischer Ästhetik. Man sieht von Karnan sowohl Zeitungsfoto als auch eine Rauchzeichnung auf Felswand, wie eine moderne Steinzeitmalerei. Dazwischen Großaufnahmen der Schauspieler und der Rhythmusgruppe hoch oben auf einem Felsen. Im Anschluss daran wird ein Gefangener in einem Bus von Polizisten zusammengeschlagen. Dabei kann es sich nur um den besungenen Rebellenhelden Karnan handeln.

Es folgt eine lange Rückblende, Hauptteil des Films, eingeleitet mit der ungefähren Zeitangabe „vor 1997“. Es geht um ein abgelegenes Dorf, das an der nächst gelegenen Hauptstraße, zu der man durch die Felder gelangt, keine eigene Bushaltestelle hat. Man ist gezwungen, entweder lange auf eine Mitfahrgelegenheit zu warten oder zum größeren Nachbardorf zu gehen, wo man aber schnell tyrannisiert und gedemütigt wird. Überhaupt will man beim großen Nachbarn das ganze unterkastige Dorf weiter von sich abhängig und dadurch entwicklungsunfähig halten. Zum eigenen Vorteil natürlich. Und obwohl die Dorfbewohner von Hinz zu Kunz gelaufen, Eingabe um Eingabe gemacht haben, bekommen sie keine Haltestelle. Das bringt beispielsweise Probleme für regelmäßigen Schulgang, besonders für Mädchen, die im Nachbardorf besonders leicht belästigt und bedrängt werden. Hauptperson ist der, von Dhanush gespielte, nicht übertrieben viel arbeitende Karnan, der einen Hang zu Wutausbrüchen hat und sich nichts gefallen lassen will. Das stößt bei vielen der Dorfbwohner, die Angst um den erreichten Status quo haben, auf Widerstand, bis alle begreifen, dass es die einzige Möglichkeit ist, nicht in alle Ewigkeit auf demselben Stand festgefroren zu bleiben, während die Welt draußen sich verändert. Nach und nach reißt er die anderen mit im Kampf gegen die Unterdrückung.

Der Beginn des Kampfes wird symbolisiert durch Karnans Erfolg in einem alten Ritual, wo er über einem Teich, im Sprung, einen Fisch genau in der Mitte mit einem Schwert zerteilt. Dieses Ritual war schon fast aus der Mode gekommen. Damit gewinnt er auch das Schwert und, ohne es zu ahnen, Verantwortung. Aus dem Spiel wird Ernst. Dhanush macht diese allmähliche Änderung Karnans subtil natürlich, ohne künstlichen Heroismus deutlich. Aber nicht alles ist Kampf hier. KARNAN ist auch ein sehr schöner Film über ein Dorf mit vielen Figuren und einigen sehr energischen Frauen. Karnan ist viel mit dem Großvater unterwegs, der ihn in seinen Ausbrüchen immer beruhigen will. Da gibt es nebenbei kleine berührende Szenen, wie die zwischen Großvater und Schwägerin, die immer darauf gewartet hat, dass er sie, nach dem Tod der Schwester, heiratet. Oder eine Beerdigung, wo der Großvater plötzlich bei einem heiteren Tanzlied in eine Klage über den Choleratod seiner Frau vor 30 Jahren umschlägt. Und Karnan bekommt eine Freundin, obwohl er mit dem zukünftigen Schwager ständig im Streit liegt.

Zum Dorf gehören aber auch die Tiere. War in PARIYERUM PERUMAL die Hundesymbolik etwas zu überdeutlich, geht Selvaraj hier subtiler zu Werk. Die Tiere sind auch sehr konkret und nicht nur reduziert auf Symbolcharakter. Sie sind Teil des Alltags. Manchmal beobachtet Selvaraj sie wie zufällig. Wie die Katze, die durch alle kaum denkbaren und undenkbaren Öffnungen schleicht. Oder der Hund, der immer irgendwie im Bild ist. Das Füttern der Tiere, der Schweine, der Kühe. Nur ein Esel ist hier das eindeutige Symboltier. Dessen Vorderbeine sind zusammengebunden, damit er nicht weit laufen kann, und der immer sehr verloren wirkend durch die Gegend schleicht. Karnan löst schließlich die Fesseln des Tieres als Vorbereitung auf die wütende Zerstörung eines Busses, was den Beginn der Rebellion darstellt und am Ende zu einem Kampf auf Leben und Tod, um Zerstörung oder Weiterexistenz wird. KARNAN ist auch eine Geschichte über dörfliche Solidarität in der Stunde der Not, über Opfermut bis zum Tod. Wobei das Tragische darin liegt, dass das alles überhaupt nötig ist.

Was den Film durchzieht, sind die Parallelen zum Epos der Mahabharata. Karnan ist dort der Sohn des Sonnengottes, wächst aber bei einem einfachen Ehepaar auf und gehört zur unteren Kaste. Er schafft es zwar nach oben, bekommt sogar ein Königreich zugeteilt, und dennoch hat er nicht alle Rechte. So wird ihm der Unterricht im Bogenschießen verwehrt. Man kann, wenn man will, nach konkreten inhaltlichen Parallelen suchen, aber entscheidend sind hier vor allem die abstrakten Bezüge und eine Art Anti-Epik. Denn die letzte Eskalationsstufe des Krieges mit der Staatsmacht findet nicht mehr statt wegen der Bushaltestelle, sondern weil der befehlshabende Polizist wütend ist über die königlichen Namen aus den Epen und die selbstbewusste Haltung der Bewohner. Auf der Wache schlägt er alte Männer halbtot. Es folgt die von Karnan angeführte Verwüstung der Polizeistation und die Befreiung der Schwerverletzten. Im Schlusskampf reitet Karnan mit dem Schwert in der Hand ins Dorf hinein. Das ist Epik, neu erzählt, von unten sozusagen.

Freitag, 25. Juni 2021

Mohanlal in DRISHYAM 2 – Familie unter Druck

 

DRISHAYAM 2 (2021), wieder unter der Regie von Jeethu Joseph, ist der zweite Teil des Malayalam-Erfolges von 2013 mit Superstar Mohanlal in der Hauptrolle. Dass der erste Teil über Indien hinaus bekannt ist, liegt dann aber eher an dem gleichnamigen Hindi-Remake (2015) mit Ajay Devgn. Regie bei dieser Neuverfilmung führte der vor einiger Zeit verstorbene Nishikant Kamat. DRISYHAM ist ein intensiver, genau getimter Thriller, in dem ein Ehemann und Vater mit Intelligenz, stiller Energie und präziser Planung seine Familie vor der Justiz rettet. Die Hauptfigur ist Kabel-TV-Unternehmer, der in seinem Büro pausenlos Filme guckt, angespeichertes Wissen, das ihm nun im Notfall hilfreich ist. Er hat eine Frau und zwei Töchter. Die Ältere wird von einem perversen Nachbarsjungen wegen eines heimlich aufgenommenen Duschvideos erpresst. Es kommt dazu, dass sie ihn mit einer Eisenstange totschlägt. Der Vater lässt die Leiche verschwinden. In der Folge nun muss der Vater den Ermittlungen der Polizei immer einen Schritt voraus sein, was ihm auch gelingt trotz heftigen, grenzüberschreitenden Polizeiterrors.

Der Erfolg von DRISHYAM 2 jetzt liegt darin, dass Jeethu Joseph gar nicht erst versucht, sich in präziser Spannung selbst zu übertreffen. Er hat die überzeugende, konsequent durchgeführte Entscheidung getroffen, genau den anderen Weg zu wählen. In der meisten Zeit passiert überhaupt nichts Spektakuläres. Vor allem ist es ein Film über die Folgen des Geschehens für die Familie, die Schwierigkeit, ja die Unmöglichkeit, solch eine Erinnerung abzuschütteln, wo sie doch allein schon in Alpträumen jederzeit wieder auftauchen kann. Es geht einfach um das Weiterleben in einer Kleinstadt voller Gerüchte und bösem Klatsch. Das Privatleben wird unweigerlich davon bestimmt. Gezeigt werden viele Szenen aus dem Familienleben, das man so normal wie möglich zu führen versucht.

Am schlimmsten getroffen hat es die psychisch erkrankte ältere Tochter, die die ganzen Erlebnisse zur Epileptikerin, wenn sie einen Schock erlebt, gemacht haben. Die Ehe leidet, denn die Frau wünscht sich mehr Vertrautheit von ihrem verschlossenen Mann, der schließlich als Einziger den wahren Ort der Leiche kennt. Die jüngere Tochter hat, wie die Frau mit ihrer Nachbarin, einen Vertrauten, dem man auch Geheimnisvolleres erzählen kann. Das wiederum ist gefährlich, denn Nettigkeit und Verständnis müssen nicht automatisch authentisch sein. Der Vater währenddessen, der inzwischen erfolgreicher Kinobesitzer ist, hegt seltsame Träume vom aktiven Filmgeschäft und schreibt mit einem professionellen Autor in Chennai seit Jahren an einem Drehbuch. So ist DRISHAYM 2 ein Familiendrama, ein stilles, intimes Porträt einer Familie, das das Damoklesschwert in Gestalt von jederzeit erneut zuschlagen könnenden Behörden über sich hängen fühlt und das gleichzeitig Schuld und Trauma als Last mit ich trägt.

Jeethu Joseph hält diese Ruhe bis zum Schluss durch, arbeitet mit einer unterschwelligen Spannung, die sich nach und nach immer mehr konkretisiert, bis sie sich manifestiert. Alles hier ist lange Zeit scheinbar alltäglich, auch wenn der Film von Anfang an das Gefühl einer sich herannahenden Bedrohung vermittelt, symbolisiert durch die Alpträume der Töchter und Ahnungen der Mutter. Man spürt die die Familie beherrschende Beklemmung. Und auch wenn sich die Schlinge am Ende zuzieht, und die Thrillerelemente zunehmen, und es auch einige überraschenden Wendungen gibt, bekommt die Geschichte dadurch kein völlig anderes Gesicht, wird sie nicht umgedreht oder entwertet, sondern wird nur um eine zweite Ebene reicher. Jeethu Joseph opfert seine Figuren in keinem Moment für einen Effekt. Und trotz der Spannung und einiger ausgeklügelter Ideen bleibt es im Kern ein Film über Schuld, Rache, Vergebung und dem Wunsch nach Abschluss mit einer traumatischen Vergangenheit, soweit das irgendwie möglich ist.

Dienstag, 22. Juni 2021

Salman Khan in RADHE: YOUR MOST WANTED BHAI – Aber Jackie Shroff war lustig

 

Vielleicht ist Jackie Shroff ja der Einzige, der kapiert hat, wie RADHE, der neue Hindi-Film mit Salman Khan, hätte gerettet werden können. Ganz einfach durch konsequent bekloppte, selbstironische, selbstparodistische Komödie. Shroff ist der Einzige, der hier als Polizei-Vorgesetzter, der gerne betont, dass er gefährlich sei, aber bloß einen destruktiven Krieg gegen sein eigenes Smartphone führt, nicht total deplatziert wirkt. So witzig hätte unter Umständen alles werden können, und am Anfang hat man ja sogar den Eindruck, dass Salman Khan hier eine echte Selbstparodie vorlegt. Er wirkt, als hätte er bloß seinen geklonten Avatar geschickt, der ein paar Standardgesichter aufsetzt. Wahnsinn kann ja Methode haben. Aber dann hätte man das Drogenthema fallenlassen und auf verlogene Betroffenheit verzichten müssen. Indiens Ober-Bhai kann dann doch nicht aus seiner Haut. Aber es wäre eigentlich die Aufgabe von Regisseur Prabhu Deva gewesen, das alles unter einen Hut zu kriegen. Konnte er nicht. Knallend an der Aufgabe gescheitert. Und eigentlich nehme ich ja gerne Salman Khans Filme in Schutz vor all den schlechten und sogar hasserfüllten Kritiken. Aber diesmal ist das unmöglich.

Leider zünden irgendwann selbst die Witze nicht mehr, da sie vom Schwarzen Loch des unwitzigen Witzes, den der Film selbst darstellt, sofort aufgesogen werden. Überhaupt wüsste ich gerne, ob man für den Salman-Khan-Tapferkeitsorden in Frage kommt, wenn man den Film bis zum Ende durchgehalten hat. Lieblos und lustlos hingesch* ist das alles. Anders kann man es nicht ausdrücken. Da liefert der Staatsphilosoph SK und Bigg-Boss-Boss seine weisen Sprüche ab, wie den über Angst. Denn wenn man vor ihr weglaufe, komme sie nach. Salman Khan hat ganz offensichtlich panische Angst, sein Publikum zu verlieren, wenn er nicht immer dasselbe bietet. Dabei hat er sich diesmal selbst ins Knie geschossen. Das Ganze basiert übrigens auf dem koreanischen Gangsterfilm THE OUTLAWS (2017). Für diesen Popelfax hat man also allen Ernstes Rechtegeld ausgegeben!? Auweia, auweia. (Der Hahn legt keine Eier, hätte ich jetzt fast hinzugefügt.) So eine Story hätte jeder unterbeschäftigte Bollywood-Drehbuchautor dankbar für ein Taschengeld fix zusammengestückelt. Die Produktionsfirma kann demnächst auch gerne mich fragen. Ich meine, schlimmer kann's nicht werden.

Schauspielerisch gibt es hier Randeep Honda, dem man es gönnt, dass er so seine Rechnungen bezahlen kann. Er liefert eine routinierte langhaarige Bösewichtnummer. Und Disha Patani verkörpert eine weibliche Kunstfigur, der man für manche Szenen eine Kleiderspende zukommen lassen möchte. Nach ihrer ganzen Arbeit mit Salman Khan und Tiger Shroff sollte sie übrigens versuchen, mal irgendwas anderes zu machen, sonst erinnert sich die Filmgeschichte an sie als "diese spärlich Bekleidete" – „ich hab jetzt den Namen vergessen“ – die „in diesen Actionfilmen mit ständig oben ohne rumlaufenden Männern zu sehen war“.

Dabei belassen wir es jetzt. Denn der Film ist so was von tot. Total tot. Töter als tot. Und über Tote soll man nicht schlecht sprechen. Jedenfalls nicht zu lange.

Montag, 31. Mai 2021

Chaitanya Tamhanes THE DISCIPLE – Der Schüler, der Guru und das Ideal

 

In Venedig nahm der Marathi-Film THE DISCIPLE / DER SCHÜLER (2020) von Chaitanya Tamhane am Wettbewerb teil und gewann den Kritikerpreis. Verdient, denn es ist ein schöner, äußerst vielseitiger Film über klassische indische Musik, über Ideal und Praxis, über den jetzigen Zustand der klassischen Musik in Indien. Regisseur Tamhane kommt eigentlich vom Theater und hat davor schon den Kurzfilm SIX STRANDS (2012) und den Spielfilm COURT (2014) gedreht.

SIX STRANDS ist eine legendenhafte Erzählung über eine allein lebende Teeplantagenbesitzerin, die besessen ist von ihrem besten Produkt: Moonlight Thurston. Er wirkt einen Monat lang, funktioniert auf mehreren ekstatischen Geschmacks- und Wirkungsebenen und da ist sie auch wieder jung. Danach hingegen ist sie wieder allein mit ihren Erinnerungen. Aber in diese Mystik der Teeherstellung mischt sich die Tagespolitik in Form einer unterdrückten Arbeiterrebellion mit 80 verhungerten Familien. Schon viele Merkmale von Tamhanes zwei Spielfilmen sind hier zu sehen. Die ruhige Beobachtung. Die Liebe zu Leerstellen. Das Uneindeutige. Und das inszeniert Dokumentarische.

COURT (2014) ist ein Film über die Justiz mit einer sehr starken dokumentarischen Note, obwohl eben alles sorgfältig inszeniert ist. Ein alter Volkssänger wird, wegen eines seiner Lieder, der Anstiftung zum Selbstmord angeklagt. In langen Sequenzen kann man die sich hinziehende Gerichtsprozedur beobachten, die wegen neuer Beweislagen immer wieder verlängert wird. Und das trotz des hohen Alters des Angeklagten, dem wegen seines früheren rebellischen Verhaltens keine Kaution gewährt wird. Gezeigt wird auch, wie sich das System in einen freigesprochenen Angeklagten mit neuen Vorwürfen verbeißen kann, denn dahinter stecken Karrieren, die sich beweisen wollen. So kann es unter Umständen ein ewiger Prozess werden.

Was aber auch im Mittelpunkt steht, ist die private Beobachtung von Anwalt und Staatsanwältin. So verschieden sie sind, es sind zwei Seiten einer Medaille. Der Menschenrechtsanwalt aus einer steinreichen Familie, der ständig mit seinen Eltern streitet, sitzt zu Hause müde vor dem Fernseher, geht mit Freunden in eine edle Bar und hat privat keine Verbindung zu den Menschen, die er verteidigt. Die Staatsanwältin lebt in einer bescheidenen Bleibe mit Mann und zwei Kindern, Sie hat den Drang nach oben, zum Richteramt. Da ist aber auch die schlecht versteckte Verachtung für die vor allem aus dem Süden zugewanderten Unterkastigen. Die Angeklagten erscheinen als reine Treppenstufen auf dem Weg nach oben. Am Ende gibt es einen Gruppenausflug mit mehreren Familien in ein Strandressort, wo man sich kräftig anstrengt, sich zu amüsieren. Am Ende liegt über allem bloß eine ungeheure Müdigkeit.

Tamhane hat eine Vorliebe für große und halbe Totalen, lange Einstellungen, die genau durchkomponiert, choreographiert sind. Es ist der schon erwähnte Scheindokumentarismus, bei dem er genauestens die Bewegungsabläufe und die Bedeutungen kontrolliert. Nichts wird dem Zufall überlassen. Gleichzeitig wirken seine Filme in alle Richtungen offen, verschreiben sich der Mehrdeutigkeit statt der Vermittlug einer Botschaft. Dieser Detailreichtum in Totalen macht Tamhanes Filme aber eigentlich auch zu echten Kinofilmen für die große Leinwand. Auch THE DISCIPLE hat viele ruhige Einstellungen, ist aber weit weniger statisch, da ja auch weniger bürokratisch, als COURT. THE DISCIPLE ist fließender, beweglicher, durch die eine Hauptperson, auf der der Schwerpunkt liegt, auch einheitlicher.

THE DISCIPLE beginnt mit der Aufführung eines klassischen Konzerts im kleinen Rahmen und durch einen langsamen Zoom, vorbei am Sänger, nähern wir uns dem Spieler einer Tanpura oder eines ähnlichen Instruments. Der Musiker wirkt glücklich, freut sich über jede gesangliche Wendung seines Gurus. Das Jahr ist 2006. Der junge Mann, Sharad Nerulkar, gespielt vom Debütanten Aditya Modak, ist 24. Der Film zeigt die Entwicklung dieses jungen Mannes bis in die Gegenwart. Neben seinem alten, etwas kränkelnden Gesangs-Guru spuken ihm aber noch zwei andere Lehrmeister im Kopf herum. Der Vater, zu dem es einige Rückblenden gibt, den er aber am liebsten aus seinen Gedanken verbannen möchte und der ihn in der Kindheit in die Musik herein gezwungen hat. Und dann die nur wenig bekannte legendäre Sängerin Maai, von der er geheime Aufnahmen von Vorträgen hat und deren höchste spirituelle Ideale er wie einen Schatz für sich allein behält. Als wären sie der allein selig machende Weg zum seelentiefen Singen und zum Erfolg. Und so geht er auch brav zum Yoga, hält sich von allem Weltlichen fern. Wiederholt zeigt der Film seine nächtlichen Motorradfahrten in Zeitlupe, die Welt um ihn herum gleitet an ihm vorbei, aber er nimmt sie nicht wahr. Er lebt in der Welt des Ideals. Nur dass sich dies nicht auf seine praktischen Gesangfähigkeiten auswirkt. Sein Leben, seine Selbstsicherheit geraten aus dem Gleichgewicht, als er in einem Gesangswettbewerb nicht einmal unter die ersten drei kommt.

Er ist vor allem auch ein Fan klassischer Musik, ein wandelndes Lexikon, das sich gerne beklagt, dass die anderen alle keine Ahnung haben. Und das sind fast alle anderen. THE DISCIPLE ist nicht nur ein Film über die Musik, sondern auch über die dahinter steckende Infrastruktur mit ihren Auftrittsmöglichkeiten, Veranstaltungen. Der Film spielt in der Welt der kleinen Konzerte, kleinen Säle, vor teilweise privatem, auserlesenem Publikum. Es ist nicht immer voll, und die Gage reicht oft nicht mal für die Reise. Auf der anderen Seite gibt es die Gegenwelt der Masse, für jede Art von Musik. Konzerte heißen da Events, man braucht Sponsoren. Und sexy sein, das ist angesagt, in Indien bevorzugt man gerne das Wort „hot“, als wäre das weniger geifernd. Und man muss im Netz gefallen, kommunizieren, sich beliebt machen, so wie seine ehemalige Mitschülerin. Sharad hingegen wird im Netz wenig beachtet, erregt bloß Desinteresse, allenfalls Sympathie und Mitleid.

Das einzig Übernatürliche, was er erlebt, das ist die Stimme der Sängerin Maai, die ihm wie in einer Vision die verdrängte Wahrheit über sein Verhältnis zu seinem Guru und über sein fehlendes Talent sagt. Aber er will sich das Ideal nicht nehmen lassen, trotz der brutalen Geschichten eines zynischen Musikgeschichtlers, der jede Illusion verloren hat. Sharad hat am Ende ein eigenes Label für alte Aufnahmen. Und tritt somit in die Fußstapfen seines Vaters, dem ebenfalls gescheiterten Sänger, der Bücher über die Art von klassischer Musik geschrieben hat, die es in der Gegenwart nicht mehr gäbe. Die Frage, die sich stellt, ist bloß, ob es dieses verwirklichte Ideal jemals in kompromissloser Reinform gegeben hat oder ob es ein luftig-spiritueller Traum der Erbverwalter ist.

Sonntag, 30. Mai 2021

Vetrimaarans ASURAN – Die Kunst des Krieges gegen Dämonen

 

Es geht sofort mitten hinein ins Geschehen in den 1980ern. Vetrimaarans ausgezeichneter Tamil-Film ASURAN (2019) beginnt mit der nächtlichen Flucht einer Familie durch den Dschungel. Aber es ist eine getrennte Flucht, um die Chance zu erhöhen, dass jedenfalls die Hälfte der Familie überlebt. Vater und Sohn gehen mitten durch den Fluss, um keine Spuren zu hinterlassen. Die Mutter schleicht mit Tochter und Onkel durch Wald und Feld. Auf einer einsamen Landstraße taucht plötzlich ein Polizeiwagen auf. Die drei verkriechen sich, denn die Staatsmacht arbeitet für den Feind, der sie alle tot sehen will. Der Erzählfaden, der sich nun von Anfang bis Ende durch den Film zieht, ist diese Jagd auf eine Familie, dieser Kampf ums Überleben. Den Grund hierfür erfährt man andeutungsweise. Der Sohn hat einen Großgrundbesitzer mit der Hacke erschlagen. Nur – welcher Sohn? – fragt man sich angesichts des ungeschickten jungen Mannes, der ständig Fehler macht. In der folgenden Rückblende, die die Vorgeschichte erzählt, ist da denn auch tatsächlich ein zweiter Bruder, älter, mächtig wild und zornig.

ASURAN ist ein realistisches Land- und Dorfporträt, die Geschichte einer unterkastigen Bauernfamilie und die eines Großgrundbesitzers, der eine Zementfabrik errichten und das Land haben will. Eine bekannte Geschichte, in der Wirklichkeit wie im Kino. Vetrimaaran erzählt aber keine Story mit Botschaften, will auch nicht einfach nur schlimme Zustände darstellen. Ihn interessieren die großen und individuellen Zusammenhänge. Gewalt wird erlitten, Gewalt wird zurückzugeben. Aber wirklich gewonnen ist damit für die Schwachen nichts. Doch die Idee der Gewalt ist ständig präsent, in den Figuren und im Film. Und wer sie nicht anwendet, muss sich dazu zwingen, friedlich zu bleiben. Denn eigentlich möchte man Dämonen – Asuras – töten, wenn sie Schaden anrichten. Gleichzeitig ist es ein äußerst spannender, angespannter und visuell intensiver Thriller und Jagdfilm mit Action, Kämpfen und sogar einigen Bombenexplosionen.

Aus der Haltung zur Gewalt folgt ein brodelnder Generationenkonflikt, der nicht zu besänftigen ist und überkocht. Auf der einen Seite der versöhnliche, weich wirkende, saufende Vater Sivasaami, gespielt vom großartigen Südstar Dhanush; auf der anderen Seite der zornige ältere Sohn Chidambaran, verkörpert von Ken Karunas; dazu der jüngere Sohn, der den großen Bruder als Vorbild nimmt, weil er den Vater verachtet. Die Schlüsselszene dieses Filmteils ist ein toter Hund, der mitten in einem unter Hochspannung gesetzten Zaun des Großgrundbesitzers stirbt, eine Elektrifizierung, die dieser nicht angekündigt hatte. Der gibt danach zum Ausdruck, dass es ihm auch völlig egal wäre, wenn die einfachen Bauern oder ihre Angehörigen darin sterben. Sie sind nichts wert für ihn. Und so kommt es beim Kampf um Wasser zu Konflikten. Mordopfer wird der ältere Sohn. Ein grässlicher Kollektivmord mit Erhängen und Durchbohren mit dem Speer. Später findet man mitten auf einem Feld eine grausam verstümmelte Leiche, die nicht endgültig als älterer Sohn identifiziert werden kann, was zu einem Familienleben in Agonie führt. Und da greift ausgerechnet der junge Sohn zur mörderischen Hacke.

Im Mittelpunkt der Fluchtszenen steht die Vater-Sohn-Beziehung. Da gibt es Missverständnisse, unter der Oberfläche die stille Verachtung für die Passivität des Vaters. Aber der jüngere Sohn ist naiv und macht Fehler wie den, im Dunkeln Feuer anzuzünden oder die wichtige Machete im Schlaf wegrutschen zu lassen. Um die beiden herum ist die raue Kraft der Natur, der Landschaft, in der Sivasaami sich traumwandlerisch bewegt. Es sind Szenen epischer Breite bei dieser Flucht, in den steilen Hügelketten und in dem riesigen, sandigen Wald, von dem eine Luftaufnahme mit umgekehrtem Zoom die labyrinthische Gleichheit jeden Quadratmeters offenbart. Es folgt eine extreme Kampfszene des Vaters gegen eine menschliche Übermacht, die voller wilder Brutalität ist. Selbst der Sohn ist erstaunt und fast entsetzt über den gewalttätigen Vater, der sich im letzten Augenblick in dem wilden Kampf auf der sandigen Lichtung zurücknimmt und nicht tötet.

Durch die zweite Rückblende zurück in die jüngeren Jahre des Vaters, gespielt jetzt von Ken Karunas, erhält der Film eine breitere episch-komplexe Form. Drei Mal meldet sich in ASURAN ein Erzähler aus dem Off, der die Dinge kurz zusammenfasst. Der Film beruht ja auf dem Roman „Vekkai“ von Autor Poomani, wobei dieser sich wiederum von dem Kilvenmani-Massaker im Jahre 1968 hat inspirieren lassen. Es beginnt Ende 1950er, Anfang der 60er, schließt sich gewissermaßen an Bimal Roys DO BIGHA ZAMIN (1953), den großen indischen Filmklassiker über Zamindarausbeutung und Landenteignung an. Der Vater arbeitet als junger Mann als Bootlegger für einen Landbesitzer und macht sich die dumme Illusion, er wäre akzeptiert. Er fühlt sich irrigerweise als Teil der Oberwelt, dabei wird er nur als lukratives Werkzeug gebraucht. Im Grunde wird er genauso verachtet wie alle anderen, gilt nicht als Mensch, sondern als Sklavenmaterial.

Eine scheinbar alltägliche, aber gleichzeitig schreckliche und authentische Alltagsszene verdeutlicht dies perfekt. Das Verbot des Tragens von Slippern ist ein kleines, aber widerwärtiges Mosaiksteinchen im demütigenden Machterhalt der herrschenden Kaste. Aber in seiner Naivität missachtet Sivasaami diese Regeln. Es ist eine niedliche Liebesgabe für die Verlobte, damit sie nicht mehr in Dornen tritt. Doch der Buchhalter seines Bosses verprügelt sie und treibt sie durchs Dorf mit den Slippern auf ihrem Kopf. Als Sivasaami nach einer Revanche seinerseits vom Chef auf seinen Platz verwiesen wird, wird ihm seine wahre Position überdeutlich. Der Landbesitzer macht reinen Tisch, will den Widerstand durch ein Massker brechen. Sivasaamis völlig verbrannte Verlobte kann ihm in Agonie noch ein paar Worte zuflüstern. Die Dorfbewohner wurden in Hütten gesperrt, die die Täter anzündeten. Sivasaami tötet auch und flüchtet. Wie durch ein Wunder erhält er eine zweite Chance, gründet eine Familie. Man sieht an dieser Zusammenfassung, wie viel in diesem Film passiert und wie doch alles ruhig und übersichtlich erzählt wird. Alles dient auch zum Veranschaulichen der mal perfide subtilen, mal brutal mörderischen Machtmechanismen, die Herrschaft absichern sollen. Demütigungen sollen von innen heraus entmenschlichen, damit der Kopf der Masse unten gehalten wird. Wenn das nicht hilft, folgt physische Vernichtung.

Alle Figuren in ASURAN sind mehr oder weniger auf einen gewissen Charakter festgelegt, aber der von Dhanush so brillant gespielte Vater hat mehrere Facetten, und Dhanush vereint sie alle, ohne dass es künstlich wirkt oder Widersprüche hervortreten. Dhanush und sein Regisseur holen aus der Figur des Vaters das gesamte Spektrum heraus. In der Verleugnung seines wütenden Wesens ist er versoffen, weich, hilflos. Und dann ist er von einer ungeheuren zerstörerischen Gewalttätigkeit. Und dann wieder ist er ungeheuer klar, friedlich, versöhnlich, benutzt einfach seine Intelligenz, um die Familie überleben zu lassen.

Am Schluss geht Sivasaami für den Sohn ins Gefängnis. Und hier gibt es die einzige deutlich ausgesprochene Botschaft des Films, einen Auftrag eines Vaters an seinen Sohn. Und es hat nichts mit Gewalt zu tun, ist jenseits davon. Die Antwort auf das Elend ist Lernen, Bildung, ein einflussreicher Job. Es geht ja in ASURAN auch um den legalen Kampf gegen die Großgrundbesitzer, die sich langsam in unser modernes agrarisches Groß- und Globalkapital verwandeln. Prakash Raj spielt den zentralen Anwalt der Story. Die Gesetze sind ja da. Sie müssen nur vertreten, angewendet und durchgesetzt werden. Und der Sohn hat begonnen, den Vater zu begreifen. ASURAN ist ein ebenso direkt wirkender wie fast abstrakter Film über einen Lernprozess, an dessen Ende das Verstehen der eigenen Situation und das daraus folgende richtige Verhalten steht.

Freitag, 28. Mai 2021

SANT DNYANESHWAR – Die große Bhakti-Vereinigung

SANT DNYANESHWAR (1940), eine Prabhat Films Produktion von Vishnupant Govind Damle und Sheikh Fattelal, ist ein Marathi-Heiligenfilm über Dnyaneshwar Vitthal Kulkarni (1275-1296). Dessen große Tat liegt vor allem in der Übersetzung der Bhagavad Gita in zeitgemäßes Marathisch. Dazu verfasste er einen ausführlichen, leicht verständlichen Kommentar, dessen Besonderheit darin besteht, dass er sich nicht in abstrakter Gelehrsamkeit ergeht, sondern den Dialog zwischen Krishna und Arjuna kongenial fortführt, ausweitet, beschreibt. Selbst die erhältliche Übersetzung in modernem Prosa-Englisch gibt noch einen guten Eindruck von der Einfachheit, Klarheit und Anschaulichkeit dieses Kommentars.

SANT DNYANESHWAR ist ein vor allem auf der Legende Dnyaneshwars beruhender Film. Die theoretischen Hintergründe seines Denkens wie die Nathi Yogi Sekte werden außen vor gelassen, was dem Film aber in seiner direkten spirituellen Wirkung gut tut. Es ist gleichzeitig ein sehr engagierter, teilweise heftiger Film gegen gefühlloses Brahmanentum, gegen tote Wort-Orthodoxie. Doch daraus wird schließlich ein Film der großen Versöhnung, der alle Volksgruppen umfasst. Gemeinsam singen sie ein Bhakti-Lied, was einfach gesagt bedeutet: ein Liebeslied an Gott, an Krishna. Überhaupt handelt es sich um einen Film mit vielen wunderbaren Songs mit der Musik von Keshavrao Bhole.

Die erste Sequenz zeigt den kleinen Dnyaneshwar, der mit einem vertrauensvollen religiösen Lied durch sein Dorf geht und Almosen sammelt in Form von ein bisschen Getreide in einer Stofftasche. Er wirkt wie ein Abbild von Unschuld, Hingabe und Glaube, aber er wird misshandelt. Überall wird er weggescheucht, beleidigt, man beschwert sich über seinen Schatten. Die Almosen werden im Sand verstreut von einem bösen Brahmanen. Der erste Teil des Films ist eine reine Passions-Geschichte, eine Zeit fürchterlichen Leidens für die vier Kinder von in gesellschaftlicher Ungnade lebender Eltern. Die Ursache findet sich in der Biografie des Vaters, der vier Tage als Sanyasi, als der Welt entsagender Asket, lebte und dann unerlaubterweise zur Familie zurückkehrte. Jetzt hat die Familie ihren Brahmanen-Status verloren, wurde aus dem Dorf gejagt. Sie sind damit Ausgestoßene und leben in Armut und Verzweiflung.

Im Brahmanen-Rat findet man in den Schriften keine Antwort darauf, wie der Vater sein Vergehen sühnen soll. Sein Fall ist nicht vorgesehen. Nur der Tod könnte die Sünde auslöschen. Es folgt eine düstere nächtliche Szene in tiefstem Schwarz, wenn der Vater aufsteht, um sich umzubringen. An Dnyaneshwars Bett legte er ein Exemplar der Bhagavad Gita und dazu eine kleine Flamme. Es ist die Hoffnung des Vaters, dass Dnyaneshwar seinen Wunsch, die Inhalte der Gita für alle Marathen zu verbreiten, wahr machen kann, wenn er tot ist. Dann springt er mit seiner Frau in den Fluss.

Das Leiden der Waisen wird nun in mehreren herzzerreißenden und empörenden Sequenzen überdeutlich gemacht. Zunächst einmal suchen sie verzweifelt ihre Eltern, bis sie langsam die Wahrheit begreifen. Besonders qualvoll wird es bei einem langen, endlosen Marsch durch eine menschenleere Gegend in die Stadt Paithan zum höchsten Brahmanen-Rat. Es geht durch die Wüste, durch steinige Gegenden. Sie quälen Hunger, Durst, Erschöpfung, müssen sich schützende Blätter um die wunden nackten Füße binden. Die Wanderung bringt sie fast um. Nach Bitte um Hilfe werden im Brahmanen-Rat die Schriften herangezogen. Ein riesiger Stapel eingepackter Papierbündel, die geöffnet, studiert, gelesen werden. Es zieht sich endlos hin, dazwischen geschnitten immer wieder Dnyaneshwars erwartungsvoller Blick, der aber immer hoffnungsloser wird. Erneute Begründung: So ein Fall ist nicht vorgesehen, also kann nicht entschieden werden. Dnyaneshwar hingegen spricht von der göttlichen Seele in allen Lebenden, worauf die Brahmanen mit Verachtung reagieren. Aber auch das Büffelwunder, wo ein Büffel unter Dnyaneshwar Einfluss einen religiösen Text zu Ende spricht, das in Paithan die Gelehrten beeindruckt, wird bei ihm zu Hause verlacht. So groß ist der Hass.

Die Kinder gehen fort und begegnen auf dem Weg einem Bauern auf seinem Büffelkarren. Er nimmt sie mit. Wie eine Befreiung vom Elend wirkt das heitere Lied des Bauern, der das Thema Religion auf nach den Tod verschoben hat. Er ist agnostisch, weil da ja nichts für Leute wie ihn da ist. Das Lied hüpft direkt im Rhythmus der Fahrt, zum Klirren des Glöckchens, zum sich drehenden Wagenrad. Also wendet Dnyaneshwar sich jetzt an die einfachen Leute, und mit seinen Vorträgen gewinnt er ihre Herzen und Seelen. Er findet über die Jahre immer mehr Zuhörer über die Bhagavad Gita im verständlichen Marathisch. Zunehmend größere Mengen kommen zu seinen Vorträgen. Hier gibt es dann durch einen einfachen Schnitt im Rednerstuhl, umgeben von der Menge, den Übergang zum älteren Dnyaneshwar, gespielt von Shahu Modak.

Die Brahmanen-Gegner versuchen mehrere Attacken, wogegen Gott schützend durch Wunder hilft. So das Feuerwunder in einer Hütte, bei dem ein großes Feuer von göttlichem Atem ausgeblasen wird. Oder die Überwindung des letzten Gegners, eines mächtigen, viel zu stolzen Yogi, der mit peinlichem Bombast durch die Gegend zieht und aus seinen übernatürlichen Kräften Schauwerte für die Masse macht. Durch einen Flug auf einem großem Felsen schlägt Dnyaneshwar ihn mit seinen eigenen Mitteln. Mit diesen überzeugenden Trickaufnahmen und den Massenszenen, den realistischen Bauten, zeigt sich der immense Aufwand dieser schönen Produktion.

Schließlich ist eine riesige Bhakti-Menge zusammengekommen, alle singen gemeinsam. Dnyaneshwar hat sein Werk vollendet. Er ist bereit für den endgültigen Samadhi, den Trancezustand im Superbewusstsein, in dem der Yogi totale Kontrolle hat, auch über den Körper und dazu gehört auch der Sterbevorgang, der auf diese Weise korrekt vor sich gehen kann, sodass die Seele mit Sicherheit aus dem Wiedergeburts-Zyklus austreten kann. SANT DNYANESHWAR ist mehr als ein Film über Bhakti. Er ist durch die vielen Lieder und die von Dnyaneshwar ausgehende Sanftheit und Liebe zu Gott selbst Bhakti. Und ich nehme an, dass die Menschen ihn damals im Kino auch so gesehen und gefeiert haben.

Mittwoch, 26. Mai 2021

KAVALTHURAI UNGAL NABAN – Alptraumort Polizeistation

Es beginnt markerschütternd und unübersichtlich. Aber eindeutig qualvoll. Man hört in dem Tamil-Film KAVALTHURAI UNGAL NABAN (2020) von Regisseur und Autor RDM zunächst das Geschreie und Gestöhne eines Mannes. Das ist so eindringlich, dass ich schnell den Ton heruntergedreht habe, damit nicht im nächsten Moment verschreckte Nachbarn vor der Tür stehen. Dazu sieht man verstaubt goldbraune Bilder aus einer voll gestellten Garage, einer zugerümpelten Werkstatt. Langsam und nur schwer beginnt man, eine Gestalt zu identifizieren, die in einer brutalsten Folterstellung auf einem Hocker zusammengebunden wurde. Der Rücken ist bis zum Brechen nach hinten durchgebogen, die Hände in Bodennhähe an den Fersen festgebunden. Keine Möglichkeit, die Haltung zu ändern. Ganz eindeutig: Das waren Folterprofis. Weggepackt, weggestellt wie Müll. Man weiß also Bescheid: In diesem bewusst politisch radikalen Film passiert Grässliches. Als Zuschauer kann man also nicht sagen, man wäre nicht gleich zu Anfang gewarnt worden.

Die erste halbe Stunde widmet sich dem Privatleben des jungen Ehepaares Prabhu und Indhu mit allen Höhen und den kleinen unvermeidlichen Tiefen, wenn er den ersten Hochzeitstag vergisst und auch noch schlechte Laune an den Tag legt. Man hat wenig Geld, aber jeder hat einen Job – Büro und Essen ausfahren. Nachwuchs hat sich angekündigt und die Zukunft liegt vor ihnen. RDM lässt sich Zeit für dieses private Portrait, sehr intim, echt, gut besetzt mit Suresh Ravi und Raveena Ravi, bei der es wirklich schade gewesen wäre, hätte sie ihr ganzes Leben als Synchronsprecherin verbracht. Sie leben ohne Familienrückhalt, die Hochzeit fand gegen den Willen der Familie statt. Dann eines Abends lässt er sie nach Feierabend in ihrem Büro warten, holt sie nicht ab und sie fährt allein nach Hause. Auf der letzten Strecke zu Fuß muss sie durch einen dunklen Weg, wo sie überfallen und unsittlich begrabscht wird.

Das Paar macht sich mit dem Motorrad auf den Weg zur Polizei und gerät in eine korrupte Polizeikontrolle. Statt Hilfe zu bekommen, werden sie tyrannisiert. Denn er tritt fordernd auf, lässt es an der nötigen Demut fehlen, die die Polizisten von armen Leuten erwarten, denn für die sind sie ja nicht in erster Linie da. Mit denen bessern sie gerade ihr spärliches Gehalt auf. Er wird verhaftet, angeblich war er zu schnell, betrunken, beleidigend, hatte keine Papiere. Dann beginnen die kammerspielartigen Szenen in der Polizeistation.

Der Fall hier ist natürlich extrem. Der Inspektor ist ein von Mime Gopi gespielter echter Psychopath mit Freude an der Gewalt. Er ist nicht nur tyrannisch-korrupt, sondern auch voller Wut und Zorn, dass Polizisten neuerdings mit Kamera und Handys auf die Finger geschaut wird. Immer wieder wird die Polizeistation von außen in einer Totalen gezeigt. Sie sieht aus wie viele andere im Land, doch dahinter verbirgt sich zumindest in diesem Fall der Schrecken. Er ist ein Rückzugsort für Polizisten, der letzte Ort, wo sie sie selbst sein können und sich ausleben dürfen.

Der Film bleibt im Prinzip im Alltagsrealismus. Das hier kann grundsätzlich jedem passieren, wenn er nicht Geld oder irgendwelche Beziehungen zu Mächtigen hat. Es ereignet sich kein Wunder. Kein moralischer Polizist greift ein. Es gibt sie zwar, aber im Endeffekt können sie nur hilflos zuschauen. Es kommen bloß, wie aus dem dunklen Nichts, Schattenpolizisten, um Drecksarbeit zu verrichten. Man muss also auf einen reinigenden Gewaltausbruch wie im Mainstream-Kino verzichten, einer, der tatsächlich hilfreich wäre und für dauerhafte Befreiung von Ungerechtigkeit sorgen könnte, aber eigentlich ja nur Blitzableiter für angestaute Alltagsungerechtigkeit ist.

Das Warten, die Schläge, das Eingesperrtsein, das Vertröstetwerden. Es wird immer entwürdigender und schmerzhafter für Prabhu, um ihm zu zeigen, wer hier für wen da ist. Bürokratische Erledigung ist ein Gnadenakt, für den man dankbar sein muss. Die Kamera beobachtet sehr ruhig das Geschehen. Der Film ist also hart, aber kein emotional aufpeitschender Immersionsfilm, der den Zuschauer einzig und allein sadistisch mitleiden lassen will. Das verhindern die grotesk-brutalen Übersteigerungen und etwas künstlichen Höhepunkte aus der magischen Kiste des kommerziellen Kinos vor allem am Ende des Films. KAVALTHURAI UNGAL NABAN ist gleichzeitig aber auch ein analytischer Film über Verhaltensweisen und Mechanismen. Arme können sich nicht für jeden Polizeibesuch einen Anwalt leisten. Körperhaltung und Stimme müssen glaubwürdig die Ehrerbietung für den Staatsdiener ausdrücken. Auf jede kleine Spur der Ironie, Verachtung, Rebellion wird hier mit Brutalität reagiert.

Und so wirkt KAVALTHURAI UNGAL NABAN wie eine intimere, alltagskonzentriertere Version des bekannten und erfolgreichen Tamil-Films VISARANAI / THE INTERROGATION (2015). Regisseur Vetrimaaran, der KAVALTHURAI UNGAL NABAN übrigens präsentiert hat, zeigt nicht bloß die Mechanismen, sondern ein ganzes System mit seinen dysfunktionalen, absurden Entartungen – von ganz unten bis nach ganz oben. Vier arme, nette, ehrliche Tamil-Arbeiter, die bloß ein bisschen Geld verdienen wollen im Nachbarbundesstaat Andhra Pradesh sollen gezwungen werden, ein Geständnis zu unterschreiben, damit ein Inspektor unter Druck von oben einen Fall abschließen kann. Aus der Sache kommen sie nach vielen physischen Wunden heraus. In der zweiten Hälfte geraten sie aber vom Regen in die Traufe, sitzen fest in einem Politthriller um Bestechung, Korruption und anstehende Wahlen. Ein .Film voller starker Bilder des Entsetzens: Die Großaufnahme des Gesichts eines desillusionierten Inspektors, während die Helfershelfer weiter hinten in seinem Rücken versuchen, die verzerrten Arme eines zu Tode gefolterten Mannes in die richtige Position zu bringen, damit es wenigstens ein bisschen wie Selbstmord aussieht, wenn die Leiche in seiner Wohnung an den Ventilator gehängt wird.

In KAVALTHURAI UNGAL NABAN eskalieren die Ereignisse langsam bis zur Katastrophe. Prabhu sieht sein Leben und seine großen Pläne dahinziehen. Er wird immer stiller, brütender. Indhu beschwört ihn trotz allem, einfach an sie beide zu denken. Aber er denkt an Rache, die natürlich hinterher nur ein Opfer haben kann: ihn selbst. Das sagt auch etwas über verletzte Männlichkeit, Unfähigkeit, trotz allem besser mit der Schulter zu zucken, vielleicht woanders hinzuziehen, auf den Pass für die Auslandsarbeit zu verzichten. Das Ende ist voller stummer Tränen, fühlt sich leer an wie ein Schluss mit Auslassungspunkten. Zurück bleibt, vor der Polizeiwache stehend, eine in Tränen aufgelöste junge Frau, die bloß in Zweisamkeit glücklich sein wollte.

Montag, 24. Mai 2021

WILD DOG – Keine Gefangenen

 

Yasin Bhatkal ist ein, vom pakistanischen Geheimdienst ausgebildeter, Mittäter und Drahtzieher einer Reihe von islamisch motivierten Terroranschlägen in Indien in den Jahren 2006-2012, wobei viele Menschen starben. Als sich das Netz der Ermittlungen um ihn enger zog, setzte er sich nach Nepal ab, während das Gerücht herumging, er sei schon in Pakistan. Doch er wurde in Nepal gesehen. Unter viel bürokratischen Schwierigkeiten folgte ihm inoffiziell eine indische Spezialeinheit und schaffte ihn 2013 zurück über die Grenze. Nach einem langen Prozess wurde er 2016 zum Tode verurteilt. Etwas anonymisiert wurde über diese nepalesische Aktion von P.R. Ramesh unter dem Titel „Thankless India“ in der Zeitschrift „Open – The Magazine“ (online: 11.9.2014) ausführlich berichtet.

Und sollte sie jemandem jetzt irgendwie bekannt vorkommen, dann hat er vermutlich Raj Kumar Guptas INDIA'S MOST WANTED (2019) gesehen. Man kann aber bei dem Telugu-Film WILD DOG (2021) nicht von einem Remake reden, denn es handelt sich formal betrachtet einfach nur um die zweite Verfilmung desselben Stoffes, doch kann man auch nicht so tun, als gäbe es den vorherigen Film nicht. Denn es wirkt im Ganzen, als hätte man bei WILD DOG bewusst den entgegengesetzten Weg gewählt, um jeden näheren Vergleich überflüssig zu machen.

Guptas Film beruht auf Realismus und Authentizität, vor allem in Nepal, wo die Agenten als angebliche Urlauber streng von der Polizei überwacht werden und keine Waffe tragen dürfen. Der Reiz des Films besteht gerade darin, wie man einen gefährlichen Terroristen ohne jede Waffe dingfest macht. Aber in dem Artikel heißt es ja auch ausdrücklich: „ohne einen Schuss“. In WILD DOG ist das anders. Kaum sind die Agenten in Nepal, gehen sie auf den Waffenschwarzmarkt, und decken sich ordentlich mit schwerer Artillerie ein, die auch kräftig benutzt wird. Keine Gelegenheit für Action wird ausgelassen. Guptas Film hingegen beruht vor allem auf den Figuren und der Mise-en-scène, der Inszenierung, und dann des Schnitts, was auf elegante und präzise Weise sowohl innere als auch äußere Spannung erzeugt. INDIA'S MOST WANTED ist ein ausgezeichneter Film eines ausgezeichneten Regisseurs.

Das über WILD DOG zu behaupten, wäre eine mächtige Übertreibung, aber es ist interessant, sich anzugucken, wie der Originalstoff verarbeitet wurde. Allein schon die beiden so unterschiedlichen Hauptdarsteller sorgen für ganz unterschiedliche Filme. Gupta wählte mit Arjun Kapoor einen Hauptdarsteller mit einer gewissen Schwere, von dem man keine rasante Action erwartet, wo kein Fan deshalb unzufrieden nach Hause geht. John Abraham, der ja sonst auf intelligente Politthriller spezialisiert ist, wäre beispielsweise eine absolut falsche Besetzung gewesen. Nagarjuna in WILD DOG ist schon vom Alter her ein ganz anderer Typ Hauptdarsteller als Kapoor. Er ist, wenn auch schon fast ein Veteran, beweglicher, agiler, für schnelle Action geeignet. Er hält den Film zusammen, verkörpert glaubwürdig den bodenständigen und intelligenten Agenten, dessen harte Philosophie aus Nagarjunas Mund ganz nüchtern wirkt und einfach auf Tatsachen, auf Erfahrungswerten beruht: „Wenn du sie nicht tötest, töten sie dich.“ Dämonen muss man sofort vernichten, sonst fressen sie einen aus dem Hinterhalt auf.

Und eine solche Anti-Terror-Aktion nach dem Motto „Keine Gefangenen“ gibt es gleich zu Anfang des Films. Die Vorgesetzten hadern damit, denn offizielle Politik darf das ja nicht sein, aber man braucht Leute wie den "Wilden Hund". Die erste Stunde liefert eine perfekte, gut funktionierende Ermittlung, bei der sich leider zwei Behörden gegenseitig behindern, sodass der Oberterrorist nach Nepal entschlüpfen kann. WILD DOG arbeitet mit einem sehr vereinfachten Feind-Bild. In Nepal beispielsweise ist man nur von Feinden umgeben, wo die Aktion doch ohne nepalesische Kooperation nicht möglich gewesen wäre. Erfunden hat man auch Action-Szenen gegen maoistische Naxaliten, hinter denen sicher die Gulag-Kommunisten aus China stecken, sodass auch der zweite Gegner Indiens identifiziert ist und weiß, dass er mehr als einen auf die Finger bekommt, wenn er sich nicht benimmt.

Und WILD DOG ist absolut desinteressiert an den echten Details der Nepal-Aktion. Der Terrorist in Nepal hatte natürlich seine wilde Frisur gekürzt, war überhaupt ein Verwandlungskünstler. Hier muss man ihn nicht lange identifizieren, denn er sieht aus wie vorher. Hauptsache, man hat Szenen als Voraussetzung für Action. Die einzelnen Charaktere der Spezialeinheit, als individuelle Menschen, treten bei all dem völlig in den Hintergrund. WILD DOG hat aber trotz all dieser Schwächen einen sympathisch-einmalguckenswerten B-Film-Charme. Dem kann man man sich nicht entziehen. Vorausgesetzt, man mag es, wenn es kräftig kracht im Kampf gegen das Böse. Und wenn man das Denken herunterdrehen kann, während die nicht inspirierte, aber durchweg solide Regie von Asishor Salomon ihren einen wichtigen Kampfauftrag erfüllt: Immer nach vorne. Und am Ende sogar ausnahmsweise mal mit einem lebendigen Gefangenen.

 

Weiterlesen (die wahre Geschichte):

"Thankless India", in: Open Magazine (online) 11.9.2014

Freitag, 30. April 2021

Die Filme von Adoor Gopalakrishnan – Spiritueller Realismus aus Kerala

Der 1941 geborene Filmregisseur Adoor Gopalakrishnan aus dem indischen Bundesstaat Kerala hat, rein quantitativ betrachtet, eine bescheidene Filmografie vorzuweisen. Einer der besten und bedeutendsten Filmemacher des Weltkinos hat in den 44 Jahren 1972-2016 nur elf Spielfilme, fast ausschließlich auf Malayalam, gedreht. Er selbst bezeichnet sich da schon mal entschuldigend als einen faulen Menschen, den seine inzwischen verstorbene Ehefrau zum nächsten Film oft anschieben musste. Aber seine Filme sind auch keine Filme, die man einfach mal macht. Dafür sind sie zu persönlich und genauestens kontrolliert. Mit scheinbar einfachen Mitteln tauchen sie ein in die gezeigte Welt und in die Seelen der handelnden Figuren. Sie sind voller Leerstellen, Andeutungen, mitunter wie nicht Ausformuliertes, als hörte jemand mitten im Satz auf zu reden, und doch wirkt alles ganz glasklar in diesem reinen Realismus, der sich durch Gopalakrishnans Stil hin zu einem faszinierenden spirituellen Realismus erweitert. Auf eine subtile Art hat hier alles Bedeutung, ohne dass extra darauf hingewiesen wird. Die Tonspur wird ebenso sorgfältig geschnitten wie der Film selbst. Dafür zieht der Regisseur nach den Dreharbeiten persönlich erneut hinaus und macht selbst die benötigten Aufnahmen. Kleine Laute können in diesen Filmen, die oft ohne oder mit nur sehr eingeschränktem Musiksoundtrack arbeiten, eine große Wirkung haben. Auf den Zuschauer hat das Zusammenspiel all dieser Elemente eine sogartige Wirkung, derer man sich gar nicht richtig bewusst ist.

Die geistigen und technischen Grundlagen des Filmemachens erlernte Gopalakrishnan am Filminstitut von Pune. Er wollte eigentlich Stücke schreiben, am Theater arbeiten, ging dann mit falschen Vorstellungen zur Filmschule und wurde plötzlich gepackt von den Möglichkeiten der Filmkunst, für die er sich vorher nur als passiver Zuschauer interessiert hatte. Er ist zwar ein Filmkenner, ein Cinephiler mit Filmbüchern im Büro, aber er ist kein demonstrativ cinephiler Regisseur. In seinen Filmen gibt es Intellektuelle, Schriftsteller, aber keinerlei Zitate aus anderen Filmen oder gar Anspielungen auf die Filmindustrie. Was ihn nicht davon abhält, mit echten Filmstars wie Mammootty zu arbeiten, wenn sie ihm als perfekte Besetzung erscheinen. Ein Schauspieler sei ein Schauspieler, egal, wie populär er sei. Dass er dafür von ideologisch korrekter Seite getadelt wurde, kümmerte ihn nicht. Nach seinem Abschluss in Pune war er aktiv als Gründer einer Kerala Film Society, was auch die Herausgabe einer Zeitschrift, das Halten von Vorträgen und die Veranstaltung eines Filmfestivals mit einschloss. Seine aktive Filmkarriere begann in den 1960ern als Dokumentarfilmregisseur. Seit 1995 hat er auch eine Reihe von Dokus über klassische Theater-, Musik- und Tanzformen aus Kerala gedreht. Mit diesen Künsten ist er groß geworden als Sohn einer Großgrundbesitzerfamilie, die traditionell auch Künstler finanziell unterstützte. In seinen Filmen, die oft in der Vergangenheit spielen, beschränkt er sich auf die Zeit, die er selbst erlebt hat und die mit dem späten Feudalismus beginnt, worauf der Zerfall durch die Unabhängigkeit folgte. Und er betrachtet die weitere Entwicklung der Gesellschaft mit ihren verschiedenen Umbrüchen. Alle seine Filme spielen in und um Kerala.

Gopalakrishnans Regiedebüt SWAYAMVARAM / ONE'S OWN CHOICE (1972) ist der erste Malayalam-Film mit Originalton, was großen Einfluss auf das Kino in Kerala hatte. Auch erste Experimente mit dem Ton gibt es hier, wenn auch noch sehr auffällig und expressiv, wenn etwa beim Tod eines Menschen laute Geräusche aus einem Sägewerk zu hören sind. Es beginnt ganz alltäglich. Ein vor der Familie geflüchtetes junges Pärchen sitzt in einem Bus. Sie sind, aus welchem Grund auch immer, nicht verheiratet. Mehr erfährt man als Zuschauer nicht. Allein die erste Sequenz, die lange Busfahrt mit dem echten Ton des Motors, dem Reden der anderen Passagiere muss in Kerala filmrevolutionär gewirkt haben. Es folgt das Ankommen im Hotel, dann glückliches Beisammensein wie in einem populären Film. Gopalakrishnan filmt es ein bisschen wie ein glückliches Songvideo am Wasser. Als spielte das Pärchen Kino und sie glaubten an eine strahlende Zukunft. Der wahre Weg aber führt kontinuierlich nach unten. Gopalakrishnan Absicht, gegen die Storys und die Wirklichkeit des Mainstreamfilms anzuschreiben, wird ein bisschen musterhaft überdeutlich. Der junge Mann ist Autor, sein abgelehnter Roman heißt „Ekstase“, und so spielen die beiden zu Beginn auch Ekstase, ohne die materielle Grundlage für eine Existenz zu haben. Sie enden in einer schmierigen, halbseidenen Umgebung. Ehe und Arbeit sind ein ewiger Kampf in einer rechtlosen Welt. Der Arbeitgeber des Mannes, ein Schuldirektor, steht aber selber kurz vor Pleite, sein Wagen ist kaputt, da bleibt nur Saufen. Statt in Ekstase endet alles in Agonie. Zwischendurch marschieren protestierende Arbeiter durchs Bild, aber zu denen gehört der Bürgerliche nicht. Er muss sich ganz individuell durch sein eigenes Elend quälen, allein und weder mit Familien- noch mit Klassenrückhalt.

KODIYETTAM / THE ASCENT (1977), ebenfalls noch in Schwarzweiß, war das Debüt des später so berühmten Schauspielers Bharat Gopy. Es ist eine Erwachsenwerden-Geschichte mit Verspätung, denn die Hauptfigur ist der schon 32-jährige Sankarankutty mit kindlichen Vorlieben. Er spielt mit den Kindern, holt ihnen ihre Drachen von den Bäumen und treibt sich mit Vorliebe auf den Jahrmärkten der Umgebung herum, immer hoffend, dass ihm jemand etwas bezahlt. Verwöhnt von der Schwester ist er in einem kindartigen Zustand geblieben. Er heiratet, ändert aber sein Verhalten nicht, sodass die Ehefrau mitsamt Kind zur Mutter zurückzieht. Realismus des Provinzlebens zeichnet KODIYETTAM aus, aber ohne aufgesetzte Düsternis. Die Düsternis des wahren Lebens schimmert immer nur vage durch, und Sankarankutty beobachtet sie mit einer gewissen Naivität, doch irgendwann fällt sie ihm durch den Selbstmord einer Frau, die ihm immer geholfen hat, zum ersten Mal deutlich auf. Dann kümmert er sich doch um einen Job, sieht das Doppelleben seines Trucker-Chefs mit Familie und Geliebter. KODIYETTAM ist einer der wenigen Filme Gopalakrishnans mit schönem Ende. Es gibt eine Wiederannäherung mit der Ehefrau und vor allem dem Kind, das jetzt vielleicht doch noch einen Vater bekommt.

Gopalakrishnans erster Farbfilm, und gleichzeitig sein erstes großes Meisterwerk, ELIPPATHAYAM / THE RAT TRAP (1981) spielt im stattlichen Anwesen eines Landbesitzers, der dort mit zwei Schwestern wohnt. Alles dreht sich um den Mann, der im Privaten noch Feudalismus spielt, obwohl dessen Zeit längst vorbei ist. Die ältere Schwester Rajammi macht die ganze Arbeit und wird dabei immer kränker. Die Jüngere denkt an die Moderne da draußen außerhalb des Dschungels und vor allem in der Luft, in Form von Flugzeugen. Eines Tage ist sie einfach fort mit einem jungen Mann. Der Film handelt aber nicht, wie das klassische Melodrama-Kino es machen würde, vom deprimierenden Leiden einer ausgebeuteten Frau, die der Bruder nicht heiraten lässt. Denn die verheiratete dritte und älteste Schwester bringt Widerstand herein, will den ihr zustehenden Anteil am Erbe. Vor allem ist ELIPPATHAYAM ein Männerporträt, aber nicht das klischeehaft autoritäre, wie man es eher gewohnt ist, sondern das eines Mannes, der lethargisch, wie geistig tot ist, gar nicht existiert, weich, passiv, nicht überlebensfähig. So wie eine gejagte Ratte sich in einer Ecke oder einem Loch versteckt, so verkriecht er sich am Ende vor der Wirklichkeit und ihren Anforderungen in seinem Haus. Das Rattenmotiv zieht sich durch den Film. Am Anfang werden bildliche Ausschnitte aus Haus und Gegend gezeigt, durchbrochen von panischem Geschrei wegen einer angeblichen Ratte. Der im Bett liegende Mann fühlt sich gebissen. Er muss bemuttert werden.Von da an werden drei Mal, wie in einem Ritual, Ratten im Käfig zum Ghat gebracht und dort ersäuft. Es gibt viele Szenen im Dunkel. Gopalakrishnan filmt ganz abstrakt Licht und Schatten, die Natur, die Elemente, vor allem den Regen, den man nicht nur fallen sieht, sondern auch durch das Geräusch zu spüren meint. Gopalakrishnan trifft bei allem Visuellem eine präzise Auswahl, ohne gewollt bedeutsam zu wirken. Da gibt es Einstellungen wie die des verlassenen Bruder im Regen, der wie ein Schleier zwischen ihm und der Kamera steht, als wäre er jetzt eine ertrinkende Ratte. Eine Vorahnung auf das Bad, das ihn am Ende erwartet.

In MUKHAMUKHAM / FACE TO FACE (1984), den ich nicht gesehen habe, kommt ein alter Kommunist nach vielen Jahren zurück in seine Heimat, die er wegen staatlicher Verfolgung verlassen hatte. Doch aus dem einstigen Arbeiterhelden ist ein heruntergekommener Trinker geworden. Um die Legende aufrecht zu halten, töten ihn seine ehemaligen Genossen. Der Film erregte bei der schon immer bös empfindlichen Linken viel Aufregung.

ANANTARAM / MONOLOGUE (1987) ist ein Film über eine psychische Grenzerfahrung, irgendwo zwischen Krankheit und Fantasiewelt. Erzählt wird die Geschichte eines Waisenjungen. Es beginnt mit einem weinenden Baby, das adoptiert wird von einem Arzt, der alleinstehend ist mit einem von Mammootty verkörperten, Medizin studierenden Sohn. Dann wird die Geschichte in zwei Versionen erzählt, und es scheint zunächst so, als sei die erste Version reine Fiktion, ein reiner Wunschtraum, sodass es mit den tatsächlichen Begebenheiten von vorne beginnt. Aber auch das ist nicht wirklich sicher. Nichts ist sicher in diesem Film außer einer rein subjektiven Sichtweise, die nicht objektiviert wird, um einen distanzierten, den Zuschauer beruhigenden Überblick zu verschaffen. In der ersten Version ist der Junge ein fantastischer Schüler, ein Einzelgänger, weil er so ein ausgestoßener Überflieger ist. Eine Schwägerin kommt ins Haus und sie erwidert seine Liebe. Dann sieht man Leute vor dem Collegezimmer des Jungen, was auf einen Selbstmord hindeuten könnte. Nun geht es von vorne los mit ihm als kleinem Kind, mit dessen Fantasie drei Hausangestellte ein paar fantastische Scherze zu viel treiben, denn er ist sehr empfänglich für deren Gruselmärchen und den Verdrehungen der Wirklichkeit, sodass er hinterher nichts mehr auseinanderhalten kann. Und wieder taucht die unerreichbare Schwägerin auf in Form einer Liebesgeschichte zur Collegezeit, als er immer auf sie im Bus gewartet hat. Das ist sehr poetisch, aber vielleicht ist hier in Wirklichkeit überhaupt nichts wirklich.

MATHILUKAL / WALLS (1989) beruht auf einem Roman von Vaikom Muhammad Basheer. Mammootty spielt einen bekannten Schriftsteller, der wegen Verrats zu 2,5 Jahren in britisch-indischen Gefängnissen verurteilt wurde. Er ist immer freundlich, lächelnd und versucht, es alles auf duldsame Art zu nehmen, hat guten Kontakt zu Wärtern, Mitgefangenen. Viele kennen und mögen seine Bücher. Aber er trifft auch auf weniger Privilegierte, auf Unschuldige, die im Gegensatz zu ihm gar nicht wissen, warum sie da sind und nun im Gram über Ungerechtigkeit geistig und körperlich verfallen. Da sind die langen Gänge an scheinbar endlosen Mauern, begleitet von seitlichen Kamerafahrten. Auf der anderen Seite spielt sich in seiner Zelle und im Garten vor der Zelle ein einsames Kammerspiel ab. Er hat Sehnsucht nach Schönheit. Seine Hand geht zu einem gelben Schmetterling. Und er pflanzt Rosen, spricht sogar mit der einen Rose, die nicht blüht. Und die Zeit vergeht. Die ewige Gefängnis-Routine wechselt mit einigen außergewöhnlichen Augenblicken wie dem nächtlichen Zubereiten des letzten Tees für einen zum Tode Verurteilten. Darauf folgt eine durchwachte Nacht für diesen Todgeweihten. Er wandert den Gang an den Zellen auf und nieder, und sein Lächeln ist nicht mehr so natürlich. Eine Amnestie für Politische betrifft ihn nicht. Allein bleibt er zurück und verfällt in eine Depression. Er freundet sich an mit einer weiblichen Stimme hinter der hohen Mauer, wo das Frauengefängnis liegt. Sie verabreden ein Treffen. Gerade jetzt wird er jedoch entlassen und ist plötzlich unendlich traurig. Tränen stehen in seinen Augen.

In VIDHEYAN / THE SERVILE (1993) verkörpert Mammootty das genaue Gegenteil seiner sanften Rolle aus MATHILUKAL. Wie in ELIPPATHAYAM geht es um einen heruntergekommenen Landbesitzer, der die Zeichen der Zeit nicht erkennt. Aber diesmal ist es kein Weichling, sondern ein sehr aktiver, mörderischer Dämon, der seine Umgebung mit Unheil und Tod überzieht. Mammootty ist beängstigend überzeugend in der Rolle dieser durch und durch abstoßenden Figur. VIDHEYAN ist allerdings weit mehr als ein Film über die Untaten eines brutal-sadistischen Landbesitzers, der sich so benimmt, als sei es seine Pflicht. Erzählt wird vor allem ein Herr-Knecht-Verhältnis aus der Sicht des Letzteren. Wie Hass auf den Mann, der seine Frau vergewaltigt und sie sich als Geliebte nimmt, umschlägt in Servilität und Abhängigkeit. Erst will der Diener den Herrn nach der Vergewaltigung in Stücke schneiden, doch dann gibt es Gunstbeweise und er wird in das Leben des Herrn hineingezogen. Die Folge ist die totale Identifizierung. VIDHEYAN ist ein Film mit viel tiefem Schwarz, finsteren Nachtszenen, in denen sich auch die Rituale des Bedienens, des ewigen Arrakh-Einschenkens, wiederholen. Der Landbesitzer mag nichts Gutes, Unschuldiges, Heiliges um sich. Allein deshalb bringt er seine sanfte Ehefrau um, was seinen Untergang herbeiführt. Aber vielleicht war es das, was er immer gesucht hat. Düsteres göttliches Vorzeichen ist der missglückte Dynamitanschlag auf die heiligen Fische im Dorfteich. Nach dem gewaltsamen Tod des Herrn steht der Diener allein da. Eine der letzten Einstellungen zeigt ihn als schwarzen Schatten gegen den blauen Himmel, als wäre er einen Moment lang gar nichts ohne seinen Herrn. Dann läuft er nach Hause, für den Moment zumindest freudig, zu seiner Frau.

In KATHAPURUSHAM / THE MAN OF THE STORY (1995) erzählt Gopalakrishnan zum ersten Mal auf epische Weise über einen längeren Zeitraum hinweg. Die Jahre 1937-1977 umfassen den Feudalismus, die Unabhängigkeit, kommunistische Agitation und den nationalen Ausnahmezustand Indira Gandhis. Man verfolgt den Weg eines Jungen zum Mann. Er ist, das muss man so sagen, als Kind ein fürchterliches Weichei und eine echte Heulsuse. Der strenge Lehrer macht sein Stottern beim Alphabet-Aufsagen aber auch nicht besser. Das Mädchen Meenakshi, Tochter der Köchin, ärgert ihn, bemuttert ihn aber auch. Er wächst auf in einem geborgenen Feudalismus, gemeinsam mit den Bediensteten herrscht eine familiäre Atmosphäre. Der Schulweg in Begleitung des Hausdieners durch die monsungrünen Felder und Wälder Keralas in großen Totalen, das gehört zu den Bildern, die man sofort mit dem Film verbindet. Verdunkelt wird sein Leben durch die Abwesenheit des Vaters und die bettlägerige Kränklichkeit der Mutter. Es gibt in KATHAPURUSHAN eine Reihe von Männern, die ihre Familie im Stich lassen oder vernachlässigen. Er selbst kommt zum Tod der Mutter, der Großmutter und auch des abwesenden Vaters zu spät. Seine dumm-idealistische Unterstützung der Naxaliten hat fast böse Folgen, aber er wird vor Gericht freigesprochen. Von Politik hat er nun genug. Die klassenlose Gesellschaft setzt er jetzt lieber im Privaten um. Und dies führt zu einer der unvergesslichen Szenen des Films, wo er endlich Meenakshi aufsucht, die sich allen Versuchen, sie zu verheiraten, widersetzt hat. Sie sieht müde aus, hat dunkle Ringe unter den Augen. Ihre Mutter und Schwester gehen still ins Haus. Meenakshi bricht in Tränen aus, in Tränen der Erleichterung, der Freude: „Du hast uns doch nicht vergessen!“ Nur der saufende Vater will eine Mitgift, denn Alkohol gibt es nirgendwo auf der Welt kostenlos. Sie verkaufen das große Anwesen und ziehen in ein kleines Haus mit Garten, wo er schreibt. Gerade im Moment des Erfolges greift der Staat wieder ein und verbietet das Buch. Da muss er lachen, das Stottern ist weg, und gemeinsam mit Frau und Kind singt er das Alphabet, was er in der Schule nie geschafft hat. KATHAPURUSHAM ist Gopalakrishnans berührendster, emotionalster und intimster Film. Es ist kein autobiografischer Film, aber in der Atmosphäre und sicher in vielen Details voll von Autobiografischem. So kann man hier beispielsweise das Geburtshaus des Regisseurs sehen.

NIZHALKUTHU / SHADOW KILL (2002) ist kein Film, der grundsätzlich gegen die Todesstrafe ist. Es geht vielmehr darum, dass die ethischen und religiösen Diskussionen über die Todesstrafe in einer korrupten Welt überflüssig sind. Wer in dieser Welt für die Todesstrafe ist, der ist so dumm, dem Staat und der Justiz zu trauen. Der Breitwandfilm spielt auf dem Land, zum größten Teil auf dem abgelegenen Anwesen eines Henkers im Jahre 1941 in einem Fürstentum im heutigen Kerala. Zwischen den Momenten, wo er gerufen wird, um sein Amt auszuüben, trinkt er viel und betätigt sich als Heiler mit der Asche des Stricks, der im Gebetsraum für die Göttin Kaali hängt. Und das funktioniert, er kann sogar böse Geister austreiben. Er rätselt selbst darüber, warum es funktioniert, vollzieht viele Reinigungen. Gerade ist seine Tochter Frau geworden, und die Feierlichkeiten werden begangen. Bis dahin wirkt es wie ein fatalistischer Film über den Kreislauf von Tod und Leben. Doch zwischendurch gibt es Gespräche über die vielen Fehlurteile, dass sowieso nur unschuldige arme Leute hingerichtet werden, dass alles eine korrupte Scheinjustiz ist. Gopalakrishnan benutzt kontrapunktische Musik mit harten, metallischen Rhythmen, wenn drei mittelalte Damen sich beim Baden über die Wirkung der Strickasche unterhalten. Der Henker geht derweil immer mehr zugrunde, verbrennt regelrecht von innen, als spürte er den Alkohol und das Feuer des Stricks. All die vielen Rituale können nicht die Tatsache verhindern, dass Unschuldige hingerichtet werden. Die Geschichte eines solchen unschuldig Hingerichteten vermischt sich in seiner Phantasie mit der eigenen Familie. Gopalakrishnan arbeitet mit den Geräuschen der Natur bei der Geschichte um einen Flötenspieler, einer unschuldigen Liebe, ruiniert durch einen Vergewaltiger und Mörder. Der alte Henker stirbt mit diesen Gedanken. Und die grausame Ironie ist, dass dessen Sohn als Anhänger von Gandhi und Gewaltlosigkeit die Arbeit des Vaters zu Ende bringen muss.

Es folgen zwei Episodenfilme, direkt hintereinander gedreht, nach den Erzählungen von Thakazi Sivasankara Pillai. Gesehen habe ich allerdings nur NAALU PENNUNGAL / FOUR WOMEN (2007). Es ist ein schöner Film, aber nicht ganz so großartig wie gewöhnlich, denn Gopalakrishnan-Filme brauchen eine gewisse Zeit, um sich zu entwickeln, sich beim Zuschauer einzuschleichen. Und bei einer Länge von 20-30 Minuten pro Episode geht diese Wirkung natürlich teilweise verloren. Hier geht es vor allem um Beobachtung, Präzision und Pointe. 2008 folgte sofort ORU PENNUM RANDAANUM / A CLIMATE FOR CRIME (2008), den ich aber nicht kenne.

Sein bisher letzter Film PINNEYUM / ONCE AGAIN (2016) zeichnet ein düsteres Bild von der Geldgier, die das Schlimmste aus ganz normalen, gut bürgerlichen Menschen herausholen kann. Es ist eine Familiengeschichte. Ein Familienvater kann nach Jahren des Versagens einen guten Job in Dubai ergattern. Das bringt Geld, Anerkennung, eine höhere soziale Rolle innerhalb seiner Kaste. Und jetzt hat er Blut gerochen und leider in seinem Leben zu viele klassische Kriminalromane gelesen. Also hat er sich das perfekte und komplett idiotische Verbrechen, einen Versicherungsbetrug, ausgedacht. Am Ende sind Onkel und Schwiegervater im Gefängnis. Und der nette Schwager bleibt bis zum Tod verkrüppelt von der Polizeifolter. Dabei war er absolut unschuldig. Zwei Szenen bleiben besonders in Erinnerung. Vor allem natürlich das brutale Erdrosseln eines Mannes, der dringend zu seiner Frau ins Krankenhaus muss. Und dann nach vielen Jahren die nächtliche Rückkehr des Familienvaters zur Frau, die er mitnehmen möchte. Sie weigert sich. Mehrmals schleicht er nachts durch den dicht zugewachsenen Garten an ihr Fenster. Als sie es sich, für die als Kind eines Mörders gesellschaftlich ausgestoßene Tochter, anders überlegt, ist es zu spät. Mit einem Toten in einem Motelzimmer hatte der Film begonnen. Damit endet er. Und jetzt weiß man, um wen es sich bei diesem Selbstmörder handelt. Sein Pseudonym war das des Mordopfers.