Es beginnt markerschütternd und unübersichtlich. Aber eindeutig qualvoll. Man hört in dem Tamil-Film KAVALTHURAI UNGAL NABAN (2020) von Regisseur und Autor RDM zunächst das Geschreie und Gestöhne eines Mannes. Das ist so eindringlich, dass ich schnell den Ton heruntergedreht habe, damit nicht im nächsten Moment verschreckte Nachbarn vor der Tür stehen. Dazu sieht man verstaubt goldbraune Bilder aus einer voll gestellten Garage, einer zugerümpelten Werkstatt. Langsam und nur schwer beginnt man, eine Gestalt zu identifizieren, die in einer brutalsten Folterstellung auf einem Hocker zusammengebunden wurde. Der Rücken ist bis zum Brechen nach hinten durchgebogen, die Hände in Bodennhähe an den Fersen festgebunden. Keine Möglichkeit, die Haltung zu ändern. Ganz eindeutig: Das waren Folterprofis. Weggepackt, weggestellt wie Müll. Man weiß also Bescheid: In diesem bewusst politisch radikalen Film passiert Grässliches. Als Zuschauer kann man also nicht sagen, man wäre nicht gleich zu Anfang gewarnt worden.
Die erste halbe Stunde widmet sich dem Privatleben des jungen Ehepaares Prabhu und Indhu mit allen Höhen und den kleinen unvermeidlichen Tiefen, wenn er den ersten Hochzeitstag vergisst und auch noch schlechte Laune an den Tag legt. Man hat wenig Geld, aber jeder hat einen Job – Büro und Essen ausfahren. Nachwuchs hat sich angekündigt und die Zukunft liegt vor ihnen. RDM lässt sich Zeit für dieses private Portrait, sehr intim, echt, gut besetzt mit Suresh Ravi und Raveena Ravi, bei der es wirklich schade gewesen wäre, hätte sie ihr ganzes Leben als Synchronsprecherin verbracht. Sie leben ohne Familienrückhalt, die Hochzeit fand gegen den Willen der Familie statt. Dann eines Abends lässt er sie nach Feierabend in ihrem Büro warten, holt sie nicht ab und sie fährt allein nach Hause. Auf der letzten Strecke zu Fuß muss sie durch einen dunklen Weg, wo sie überfallen und unsittlich begrabscht wird.
Das Paar macht sich mit dem Motorrad auf den Weg zur Polizei und gerät in eine korrupte Polizeikontrolle. Statt Hilfe zu bekommen, werden sie tyrannisiert. Denn er tritt fordernd auf, lässt es an der nötigen Demut fehlen, die die Polizisten von armen Leuten erwarten, denn für die sind sie ja nicht in erster Linie da. Mit denen bessern sie gerade ihr spärliches Gehalt auf. Er wird verhaftet, angeblich war er zu schnell, betrunken, beleidigend, hatte keine Papiere. Dann beginnen die kammerspielartigen Szenen in der Polizeistation.
Der Fall hier ist natürlich extrem. Der Inspektor ist ein von Mime Gopi gespielter echter Psychopath mit Freude an der Gewalt. Er ist nicht nur tyrannisch-korrupt, sondern auch voller Wut und Zorn, dass Polizisten neuerdings mit Kamera und Handys auf die Finger geschaut wird. Immer wieder wird die Polizeistation von außen in einer Totalen gezeigt. Sie sieht aus wie viele andere im Land, doch dahinter verbirgt sich zumindest in diesem Fall der Schrecken. Er ist ein Rückzugsort für Polizisten, der letzte Ort, wo sie sie selbst sein können und sich ausleben dürfen.
Der Film bleibt im Prinzip im Alltagsrealismus. Das hier kann grundsätzlich jedem passieren, wenn er nicht Geld oder irgendwelche Beziehungen zu Mächtigen hat. Es ereignet sich kein Wunder. Kein moralischer Polizist greift ein. Es gibt sie zwar, aber im Endeffekt können sie nur hilflos zuschauen. Es kommen bloß, wie aus dem dunklen Nichts, Schattenpolizisten, um Drecksarbeit zu verrichten. Man muss also auf einen reinigenden Gewaltausbruch wie im Mainstream-Kino verzichten, einer, der tatsächlich hilfreich wäre und für dauerhafte Befreiung von Ungerechtigkeit sorgen könnte, aber eigentlich ja nur Blitzableiter für angestaute Alltagsungerechtigkeit ist.
Das Warten, die Schläge, das Eingesperrtsein, das Vertröstetwerden. Es wird immer entwürdigender und schmerzhafter für Prabhu, um ihm zu zeigen, wer hier für wen da ist. Bürokratische Erledigung ist ein Gnadenakt, für den man dankbar sein muss. Die Kamera beobachtet sehr ruhig das Geschehen. Der Film ist also hart, aber kein emotional aufpeitschender Immersionsfilm, der den Zuschauer einzig und allein sadistisch mitleiden lassen will. Das verhindern die grotesk-brutalen Übersteigerungen und etwas künstlichen Höhepunkte aus der magischen Kiste des kommerziellen Kinos vor allem am Ende des Films. KAVALTHURAI UNGAL NABAN ist gleichzeitig aber auch ein analytischer Film über Verhaltensweisen und Mechanismen. Arme können sich nicht für jeden Polizeibesuch einen Anwalt leisten. Körperhaltung und Stimme müssen glaubwürdig die Ehrerbietung für den Staatsdiener ausdrücken. Auf jede kleine Spur der Ironie, Verachtung, Rebellion wird hier mit Brutalität reagiert.
Und so wirkt KAVALTHURAI UNGAL NABAN wie eine intimere, alltagskonzentriertere Version des bekannten und erfolgreichen Tamil-Films VISARANAI / THE INTERROGATION (2015). Regisseur Vetrimaaran, der KAVALTHURAI UNGAL NABAN übrigens präsentiert hat, zeigt nicht bloß die Mechanismen, sondern ein ganzes System mit seinen dysfunktionalen, absurden Entartungen – von ganz unten bis nach ganz oben. Vier arme, nette, ehrliche Tamil-Arbeiter, die bloß ein bisschen Geld verdienen wollen im Nachbarbundesstaat Andhra Pradesh sollen gezwungen werden, ein Geständnis zu unterschreiben, damit ein Inspektor unter Druck von oben einen Fall abschließen kann. Aus der Sache kommen sie nach vielen physischen Wunden heraus. In der zweiten Hälfte geraten sie aber vom Regen in die Traufe, sitzen fest in einem Politthriller um Bestechung, Korruption und anstehende Wahlen. Ein .Film voller starker Bilder des Entsetzens: Die Großaufnahme des Gesichts eines desillusionierten Inspektors, während die Helfershelfer weiter hinten in seinem Rücken versuchen, die verzerrten Arme eines zu Tode gefolterten Mannes in die richtige Position zu bringen, damit es wenigstens ein bisschen wie Selbstmord aussieht, wenn die Leiche in seiner Wohnung an den Ventilator gehängt wird.
In KAVALTHURAI UNGAL NABAN eskalieren die Ereignisse langsam bis zur Katastrophe. Prabhu sieht sein Leben und seine großen Pläne dahinziehen. Er wird immer stiller, brütender. Indhu beschwört ihn trotz allem, einfach an sie beide zu denken. Aber er denkt an Rache, die natürlich hinterher nur ein Opfer haben kann: ihn selbst. Das sagt auch etwas über verletzte Männlichkeit, Unfähigkeit, trotz allem besser mit der Schulter zu zucken, vielleicht woanders hinzuziehen, auf den Pass für die Auslandsarbeit zu verzichten. Das Ende ist voller stummer Tränen, fühlt sich leer an wie ein Schluss mit Auslassungspunkten. Zurück bleibt, vor der Polizeiwache stehend, eine in Tränen aufgelöste junge Frau, die bloß in Zweisamkeit glücklich sein wollte.