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Mittwoch, 24. Juli 2019

Hrithik Roshan in SUPER 30 – Der Lehrer

Das Warten hatte also endlich ein Ende. SUPER 30 (2019) kam in die Kinos. Und die Zuschauer können einen spannenden und flüssig erzählten Film entdecken, der gleichzeitig eine soziale Botschaft beinhaltet. Daher wurde er in einigen indischen Bundesstaaten von der Steuer ausgenommen. Der Film handelt von Anand Kumar, dem international bekannten Lehrer, der mittellose junge Menschen auf die Zugangsprüfung der indischen technischen Elite-Unis, ITT genannt, vorbereitet. Da die Geschichte an sich bekannt und vorhersehbar ist, bestand die Kunst also darin, es trotzdem interessant zu machen. Und da ist zu aller erst natürlich der Star, und zwar mit Hrithik Roshan einer der charismatischsten. Aber auch einer der hellhäutigsten. Über seine leichte Gesichtsbräunung rümpften manche Kritiker die Nase. Mir ist so was egal.

Woran ich mich auch nicht festbeißen werde, und auch gar nicht könnte, selbst wenn ich wollte, das ist sein Akzent, bei dem ich natürlich nicht beurteilen kann, ob er falsch klingt oder nicht. Obwohl ich durchaus höre, dass er sehr, stark ist. Aber es gab ja schon andere Schauspieler, die in der Beziehung zu viel Ehrgeiz hatten. Kim Novak hat mit ihrem unnatürlichen, verkrampften Cockney-Akzent in ON HUMAN BONDAGE (1964) ihre Regisseure zur Verzweiflung gebracht. Und so gut mir Roshan vor allem in den kämpferischen, tatkräftigen oder auch düsteren Szenen gefällt, so sehr geht er mir auf die Nerven als junger Naiver mit diesem Lächeln und den großen, großen Augen. Das erinnerte mich an seine Darstellung in KOI MIL GAYA (2003) und den Film habe ich bis heute nicht bis zum Ende geguckt.

Bei der visuellen Gestaltung schon spürt man den Willen, bei dem Thema bloß nicht dröge zu wirken, es nicht wie ein graues Sozialdrama aussehen zu lassen. Die Naturgewalten spielen eine große Rolle, steigern die Dramatik, sind aber auch symbolisch, so wie Regen und Gewitter, als die Brüder versuchen, den Vater mit dem Fahrrad zum Krankenhaus zu bringen und dann die Kette reißt. Da geht die Kamera weit nach oben in die Vogelperspektive, als guckte das Schicksal mitleidlos von oben zu. Aber dann sind es auch wieder Stationen zu dem, was im Film jedenfalls wie Kumars Bestimmung wirkt. Denn nur durch den Tod des Vaters fährt er selbst als Verkäufer herum, um die Familie zu ernähren. Und nur dadurch rutscht er in das Geschäft mit der Nachhilfe.

Der Film ist sehr temporeich, intensiv erzählt, dicht geschnitten und passt sich dem schnell denkenden Hirn der Protagonisten und der energiegeladenen Darstellung Roshans an. Dennoch habe ich mich während der Kinovorstellung immer wieder gefragt, ob der Film in der Beziehung eigentlich noch ein Film von Vikas Bahl ist oder ob Anurag Kashyap dem Ganzen sehr heftig seinen Stempel aufgedrückt hat. Oder sagen wir es anders herum: Ich hätte den Film zwar vom Thema her, aber nicht vom Stil her für einen Film von Vikas Bahl gehalten. Der ist der entspannte Regisseur der Träume, des Wirklichwerdens des Unmöglichen. Sein letzter, sehr schöner, sehr poetischer und, wenn ich mich recht erinnere, zwischendurch sehr witzige Film war ja SHAANDAAR (2015), ein unverdienter Riesenflop, den aber jetzt auf einmal alle wunderschön finden. Wo waren die Leute bloß damals im Kino? Davor hatte er mit Kangana Ranaut QUEEN (2014) gedreht, die Geschichte einer jungen Frau, die entdeckt, dass sie ein eigenes Leben haben kann. Sie realisiert sozusagen den Traum von sich selbst. Und ganz am Anfang stand der auch für Erwachsene empfehlenswerte Kinderfilm CHILLAR PARTY (2011), eine gemeinsame Arbeit mit Nitesh Tiwari, der zuletzt den Aamir-Khan-Erfolg DANGAL inszeniert hat. Wenn die armen Jugendlichen sich in SUPER 30 mit selbstgebastelten Waffen gegen einen mörderischen Angriff wehren, dann erinnert das an den Erfindungsreichtum, mit dem die solidarischen Kinder in CHILLAR 30 gegen die Eltern und die Erwachsenenwelt vorgehen. Was alle diese Filme gemeinsam haben, ist, dass sie dem Zuschauer zwischendurch Ruhe, etwas Luft zum Atmen gönnen. SUPER 30 zieht einen aber von der ersten bis zur letzten Minute unaufhörlich mit.

SUPER 30 ist vor allem ein Film über einen Lehrer und seine Schüler, die unbestreitbar intelligent sind, Wissen haben, das Lernen lieben, aber angesichts ihrer armen Herkunft zunächst mit Sperren im Kopf herumlaufen, weil sie ihre Position in der Klassengesellschaft verinnerlicht haben. Das Betreten des ITTs stellen sie sich vor als Spießrutenlaufen zwischen feinen, gut gekleideten, des Englischen fließend mächtigen Studenten. Daher besteht die Hauptaufgabe von Anand Kumar darin, ihre Köpfe frei zu machen für all die Prüfungsfragen bezüglich Logik und Zusammenhängen. Der Film zeigt sehr schön, dass er mehr als Wissen in sie hineinprügelt, dass alles vornehmlich eine Bewusstseinssache ist. Da kann er auch grausam sein, wie bei der peinlichen Schüler-Aufführung auf Englisch, bei der die Reichen sich kringelig lachen, was dann aber in ein selbstbewusstes, rhythmusbetontes Lied mündet. Ich habe mir mal die Prüfungen der letzten Jahre angeguckt und aus Spaß zwei Aufgaben in der Originalsprache Englisch herausgesucht. Wie man sieht, kann man mit den Fragen auch als Nicht-Naturwissenschaftler einiges an Gehirnjogging-Spaß haben:
1. Beispiel:
The Buddha said, “Holding on to anger is like grasping a hot coal with the intent of throwing it at someone else; you are the one who gets burnt.

Select the word below which is closest in meaning to the word underlined above.

(A)burning (B)igniting (C)clutching (D)flinging“
2. Beispiel
Among 150 faculty members in an institute, 55 are connected with each other through Facebook® and 85 are connected through WhatsApp®. 30 faculty members do not have Facebook® or WhatsApp® accounts. The number of faculty members connected only through Facebook® accounts is ______________.

(A)35 (B)45 (C)65 (D)90 

Was man übrigens nicht vergessen darf, ist, dass der Film als Rückblende erzählt wird. Einer von Kumars Schülern spricht Jahre später als erfolgreicher Wissenschaftler vor einem großen Auditorium. Und es ist bezeichnend, dass er ganz individuell von der Verbesserung der Lebensumstände seiner eigenen Familie spricht, was sich dann über Generationen hält. Das ist ein bisschen ironisch, denn wenn man erst einmal oben ist, profitiert man von dem, wogegen man als Armer gekämpft hat. Es ist also kein Film gegen die Klassengesellschaft oder für ein anderes System. Auch wenn sich durch den Aufstieg von Menschen niedriger sozialer Herkunft in die Elite von ganz alleine zumindest ein bisschen innerhalb des Systems ändert.

Es geht in SUPER 30 darum, dass jeder nach seinen Fähigkeiten leben kann. Und wenn jemand brillant und von Mathematik besessen ist, soll er das auch ein ganzes Leben lang machen dürfen. Das System, das mehrmals als "feudalistisch" bezeichnet wird, muss also durchlässig sein, was nicht von jedem gewünscht wird. Daher gibt es einen Klassenkampf im Film. Und zwar wird er von oben mit aller Härte initiiert und geführt. Das bietet Roshan Gelegenheit, seine Hero-Qualitäten im Kampf gegen das Böse unter Beweis zu stellen. Da gibt es das wirklich entlarvende Porträt eines indischen Provinzpolitikers, der sich in das einträgliche Nest des groß organisierten Nachhilfeunterrichts gesetzt hat. Und Kumar gefährdet seine Henne mit den goldenen Eiern. Außerdem geht es natürlich ums Prinzip. Jeder Studienplatz für einen Armen ist einer weniger für einen Reichen.

Donnerstag, 4. Juli 2019

Anubhav Sinhas ARTICLE 15 – Der Sumpf der Ausbeutung

Der Regisseur von ARTICLE 15 (2019) ist Anubhav Sinha, aber viele schreiben den Film gerne dem Hauptdarsteller zu, sodass von „Ayushmann Khurranas ARTICLE 15“ die Rede. Und natürlich ist er, wie ja eigentlich immer, perfekt, diesmal als sehr ruhiger, zwischendurch zweifelnder, aber im Endeffekt unerschütterlicher Polizeioffizier, der in die tiefste Provinz von Uttar Pradesh abkommandiert wird und gleich auf einen Mordfall stößt, den man schnellstens vertuschen will und daher gleich für zwei unschuldige Täter sorgt. Dabei ist es natürlich nicht irgendeine schauspielerische Leistung alleine, denn so was reicht nicht aus für einen Film. Es liegt daran, dass alles sehr schön aufeinander abgestimmt ist. Es gibt eine Einheit aus Hauptfigur, Handlung und Atmosphäre.

ARTICLE 15 ist ein ruhiger Film, der, und das ist das Interessanteste, ganz und gar auf die üblichen Spannungsmomente verzichtet, sodass die Erwartungen, die man als Zuschauer so standardmäßig hat, direkt unterlaufen werden, ohne dass es frustriert. Es ist mir auch erst hinterher aufgefallen. So wird beispielsweise immer wieder betont, wie gefährlich die Ermittlungen wären, aber der Held ist nicht ein einziges Mal wirklich in Lebensgefahr. Es gibt zwar einen Brandanschlag auf einen Polizeiwagen, aber der war nur eine kalkulierte Warnung, bei der niemand zu Schaden kommen sollte. Es fehlt sogar der charismatische Bösewicht. Das Böse ist hier ganz alltäglich. Dadurch kann man es als Zuschauer schwerer von sich selbst wegschieben.

Das Böse scheint eher in der ganzen Umgebung zu herrschen. Und da macht der Film Anleihen beim amerikanischen Thriller des US-Südens, Southern Gothic genannt. Die erste Staffel von TRUE DETECTIVE (2014) dürfte das bekannteste Beispiel der letzten Jahre sein. Man könnte auch an die ländlichen Thriller aus Korea, wie Bon Joon-hos MEMORIES OF MURDER (2003), denken, wo nichts furchteinflößender wirkt als die weiten, im Sonnenlicht strahlenden Getreidefelder. Das alles ist immer auch ein bisschen metaphorisch. Das Grauen unter der schönen Oberfläche. Oder der Sumpf des Verbrechens, der menschlichen Abgründe, als hätte Gott dies alles bedeutungsvoll in die Landschaft hinein skulptiert. 

Da ist die düster-schöne Atmosphäre aus gelb-blau-grünlichem Halbdunkel, wo alles zur Silhouette wird und darüber hängt im Gegenlicht der Nebel. Im Gegenlicht hängen auch die beiden Kinder, die irgend jemand nach mehrmaliger Vergewaltigung öffentlich zur Schau gestellt hat. Da ist der große, weite Sumpf, durch den die Suchtrupps auf der Suche nach einem dritten Kind waten müssen, um auf eine Insel zu gelangen. Überall scheint eine geheimnisvolle Bedrohung zu lauern. Und vor allem ist da der einsame Ermittler mit dem besonderen Einfühlungsvermögen, der telepathisch zu sehen, zu spüren scheint, was an einem Tatort, oder einem vermeintlichen Tatort, geschehen ist.

Aber in dieser sehr internationalen Ästhetik und Dramaturgie existieren sehr indische Probleme. Das allererste Bild zeigt zwei schreiende, verängstigte Mädchen in einem Bus. Die Opfer sind zwei Dalit-Mädchen und bei der Tätersuche kommt man immer näher an einen einflussreichen Mann, einen ausbeuterischen Unternehmer, denn in ARTICLE 15 wirkt es, als seien die religiösen Vorurteile, die man gegenüber Unberührbaren hat, heutzutage nur noch ein Vorwand sind, um eine ökonomische Ausbeutung fortzusetzen, um eine Klasse an Menschen zu haben, die sehr billig sehr dreckige und sehr gesundheitsschädliche Arbeit ausführen. In einer Szene sieht man einen Arbeiter einen Straßenabfluss reinigen. Ohne jeden Körperschutz taucht er hinab in die kackbraune Brühe. 

Aber durch einen Streik sind sie andererseits in der Lage, das gesamte zivile Leben lahmzulegen. Vereinigt sind sie stark. Das ist eine theoretische Macht, die für die Herrschenden unangenehm werden kann. Also kommen Brahmanen-Politiker und verbrüdern sich, essen gemeinsam, um die Wählerstimmen abzugraben und die Situation zu befrieden. Und natürlich tut der Film nicht so, als hätte sich gar nichts geändert in den letzten Jahrzehnten. Und es gibt ja auch Artikel 15 in der indischen Verfassung, der das „Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Religion, der Rasse, der Kaste, des Geschlechts oder des Geburtsorts“ festlegt. Aber es ist eben nicht so, als gäbe es das Problem nicht mehr, wie manche gerne glauben machen wollen.

Ganz nebenbei hat der Film einige wirklich komische Szenen, ohne dass es angesichts des Themas unpassend wirkt. Der beste Moment ist aus dem Leben gegriffen: Ganz gegen das Gesetz befragt einmal der Befehlshabende seine Untergebenen nach ihrer Kaste und wer dann über oder wer unter wem steht. Das ist eine absurd-komisch Rangordnungs-Gleichung, die da aufkommt. So tritt das ganze Gewirr eines komplizierten, kaum durchschaubaren Hierarchiegeflechts zutage, dass durch diese alltägliche Diskussion seine Absurdität offenbart. Ein System, was ursprünglich jedem einen zu ihm passenden Platz in der Gesellschaft gab, und nicht auf Geburt beruhte. Um Paramahansa Yogananda zu zitieren: „Das Kastensystem bedeutete ursprünglich keinen erblichen Stand, sondern eine Einstufung gemäß den natürlichen Fähigkeiten des Menschen.“ Irgendwann wurde es zu einem starren, vererblichen Herrschaftssystem. Aber diese erwähnte Szene ist ein gutes Beispiel dafür, wie die Kasten-Thematik in den Film integriert wird, ohne dass es öde didaktisch wird.

Da mir übrigens nicht viele populäre Filme über dieses Thema einfallen, und anderen vielleicht auch nicht, will ich mal zwei Klassiker empfehlen, interessanterweise beide von Bengalen mit zwei allerdings grundverschiedenen Ansätzen. Der eine ist der bengalische Film ERLÖSUNG (SADGATI) von Satyajit Ray, den er 1981 für den staatlichen Sender Doordarshan drehte. Om Puri und Smita Patil spielen ein Dalit-Ehepaar, das die Hochzeit der Tochter organisieren und daher einen günstigen Termin genannt haben will. Doch der zuständige Brahmanen-Priester lässt den Mann erst einmal eine unmögliche, physisch viel zu anstrengende Arbeit ausführen, bei der er stirbt. 

Wesentlich poetischer, wenn auch zwischendurch voller psychischer Grausamkeit, ist Bimal Roys SUJATA (1959) mit Sunil Dutt und Nutan. Hier wird von einem Ehepaar ein Dalit-Baby adoptiert, was allerdings schwierig wird, als diese älter wird und in das heiratsfähige Alter kommt. Eine vorurteilsvolle Tante – Lalita Pawar in einer ihrer bewundernswert grässlichen Rollen – macht das Ganze noch schlimmer. Bimal Roy mischt dieses gesellschaftliche Drama mit Märchenhaftem, da er die besondere Nähe des Dalit-Mädchens zur Natur betont, wodurch er aus ihr eine Art Prinzessin macht. Sunil Dutt als junger Mann, der sich in sie verliebt, ist der Einzige, der das erkennt.

Übrigens wirkt ARTICLE 15 auch ein bisschen wie ein autobiografischer Film über die Karriere des Regisseurs, der ja nicht gerade mit kontroversen Stoffen begonnen hat. Denn der Polizeioffizier des Films hat eine Freundin, zu der er ein etwas gespanntes Verhältnis hat, denn sie ist politische Aktivistin, während er sie zwar theoretisch unterstützt, aber selbst nicht sicher ist, ob er diese Absolutheit in seinem Leben will. Doch schließlich entscheidet er sich fürs Engagement und verbeißt sich in den Fall, kämpft unter Inkaufnahme persönlicher Schwierigkeiten auch gegen höchste bürokratische Widerstände an. Irgendwie spiegelt sich dieses Zögern in der Karriere des Regisseurs und Produzenten Anubav Sinha wieder. 

Sein bekanntester Film ist RA.ONE (2011), ganz amüsant, aber beileibe nicht der beste SRK-Film. Kein Wunder, dass ich den Regisseur damals gar nicht wahrgenommen habe. Oder er hat mit TATHASTU (2006) das eher fade Remake des Nick-Cassavetes-Films JOHN Q (2002) gedreht. Einen echt politischen Filme hat er dann 2014 zunächst nur produziert: GULAAB GANG, einen Feminismus-Film mit Madhuri Dixit und Juhi Chawla. Erst sein letzter Film war echt engagiert. MULK (2018) mit Rishi Kapoor und Taapsee Pannu über die Verfolgung einer unschuldigen moslemischen Familie, von denen ein Mitglied einen Terroranschlag verübt hat. Und jetzt eben ARTICLE 15. MULK habe ich leider nicht gesehen, aber bei ARTICLE 15 hat man das Gefühl, dass die kontroversen Themen kreative Energie freigesetzt haben. Ich bin gespannt auf die nächsten Filme.