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Sonntag, 28. April 2019

Nandita Das' MANTO – Autor zwischen den Welten

Nandita Das' MANTO (2018) mit Nawazuddin Siddiqui in der Hauptrolle ist kein ein ganzes Leben umfassender biografischer Film über den Urdu-Schriftsteller Saadat Hasan Manto (1912-1955). MANTO konzentriert sich auf die Zeit kurz vor, während und nach der politischen Unabhängigkeit Indiens 1947, wodurch sich das Leben des Autors grundlegend änderte und er schließlich doch nach Pakistan zog, obwohl Bombay seine Stadt war, in der er trotz aller Schwierigkeiten die glücklichsten Jahre seines Lebens verbracht hatte. Über Bombay hat er auch immer wieder geschrieben. Und dort hat er auch für die Hindi-Filmindustrie gearbeitet.

Diese glücklichen Jahre kann man nur noch am Anfang erahnen, wenn Manto im lockeren Gespräch mit Kollegen und Kolleginnen ist. Oder wenn am Filmstudio Bombay Talkies 1947 die Unabhängigkeit Indiens gefeiert wird. Und sie sind alle da: Darunter natürlich Ashok Kumar, der große Star der 40er, der Komponist Naushad, die junge Schauspielerin Nargis und ihre berühmte Mutter Jaddanbai. Der Regisseur K. Asif läuft herum und fabuliert von seinem geplanten Film MUGHAL-E-AZAM, der aber, wie wir wissen, erst 1960 Premiere haben sollte. Auch dabei ist der Star Shyam Chadda, ein sehr guter Freund Mantos, der 1951 mit nur 31 Jahren bei einem Reitunfall starb. Und die Schauspieler-Sängerin Suraiya soll laut Besetzungsliste ebenfalls von jemandem dargestellt werden, was ich allerdings nicht gemerkt habe, obwohl ich, seit ich ANMOL GHADI (1946) gesehen habe, eine Vorliebe für das Spiel und den Gesang der echten Suraiya habe. Auf dieser Feier werden die herrschenden Probleme deutlich. Bombay Talkies bekommt anonyme Drohbriefe, weil dort überdurchschnittlich viele Moslems angestellt sind. Was rein statistisch stimmt, aber Ashok Kumar, der einer der Leiter ist, kümmert das nicht. Manto nimmt es ernster und bietet sogar, um nur ja vorsichtig zu sein, seine Entlassung an.

Manto ist überhaupt sehr vorsichtig und der Film zeigt sehr schön, wie auch seine eigene Angst mitverantwortlich für diesen Grenzwechsel ist, wie sie ihn dazu bringt, ganz gegen seinen persönlichen Wunsch zu handeln, wobei natürlich hinzukommt, dass er an Frau und Kind denken muss. Er hat kein wirklich gefährliches Schlüsselerlebnis, wo sein Leben durch marodierende und mordende Massen direkt in Gefahr gewesen wäre. Es sind die kleinen Ereignisse, das, was er sieht und hört, das Aufsaugen der allgemeinen Atmosphäre, die seinen Wandel langsam herbeiführen. Er ist beispielsweise mit seiner Frau in einem Schuhgeschäft, wo er die Besitzer belauscht, von denen einer nach Pakistan will. Plötzlich werden die Türen und Fenster verrammelt, da sich eine grölende Hindu-Meute nähert. Dann wieder fühlt er sich beschämt durch den furchtlosen Hindu Ashok Kumar, der auch in Zeiten der Ausschreitungen seinen Fahrer durch ein Moslemviertel eine Abkürzung fahren lässt und tatsächlich von den Bewohnern freundlich begrüßt wird.

Doch im Film ist ausgerechnet ein Gespräch mit Freund Shyam Chadda für den Umzug ausschlaggebend, denn dieser schimpft über Moslems, nachdem ein Familienangehöriger bei der Flucht aus Pakistan ermordet wurde. Es ist Mantos Erkenntnis, dass in solchen Zeiten jeder imstande ist, aus Wut oder Rache selbst den eigenen Freund zu ermorden. Da verlässt er Bombay, aber auch mit dem Wissen, dass er diesen Zorn potentiell ebenfalls in sich hat. In Lahore vermisst er dann die Hindus, geht durch die verwüsteten Geschäftsviertel, die von neuen Bewohnern in Besitz genommen werden. Sehr unaufgeregt zeigt der Film die Atmosphäre des Hasses, indem er sich auf die psychischen Folgen und praktischen Folgeerscheinungen konzentriert statt auf spektakuläre Gewalt. Nandita Das, die bekannte Schauspielerin, hat sich ja schon vor zehn Jahren in ihrem Regiedebüt FIRAAQ (2008) diesem Thema gewidmet, wo es um die kommunalen Pogrome in Gujarat 2002 geht.

Durch die Teilung Indiens steht Manto als Autor zwischen zwei Welten, wo er doch sowieso schon ständig von der Justiz und ihrer Staatsmoral bedroht ist. Er steht zwischen zwischen dem neuen Indien und dem neuen Pakistan, zu keinem der beiden sich wirklich zugehörig fühlend. Als wäre er gespalten. Seine geistige Existenz ist sowieso schon fragil zwischen bürgerlicher, familiärer Wirklichkeit und seiner Fiktion, seinen Phantasiefiguren. Und er lebt zwischen ernster Literatur und dem juristischen Vorwurf der Obszönität sowie, für Manto persönlich noch schlimmer, dem Vorwurf des Sensationalismus. Denn Manto hatte nicht nur einen sehr persönlichen, direkten Stil, er schrieb auch meist über die düsteren Seiten der Wirklichkeit. Unzählige ausgebeutete Prostituierte bevölkern seine Geschichten. Dabei hat er aber keine Lösung anzubieten. Er stand gefühlsmäßig zwar dem Sozialismus nahe, hatte aber eine gesunde Skepsis angesichts der praktisch-politischen Ausformung, weil er mit seiner Intelligenz auch erkannte, dass der Diktatur der Ausbeutung nur eine andere Diktatur von wenigen entgegengesetzt wird, die keiner Kontrolle unterliegt. Und so stand er nicht nur in Distanz zu der staatstragenden Kultur, wo immer gerne Optimismus und etwas Erhebendes gefragt ist, sondern auch zu den fortschrittlichen Autoren, die an Veränderung glaubten, wofür aber auch Optimismus angesagt war. Und immer wieder stand Manto vor Gericht wegen Obszönität. In Pakistan wurde er dann sogar verurteilt, konnte aber die Geldstrafe bezahlen, was ihn vor dem Gefängnis bewahrte.

MANTO ist sehr genau recherchiert, sehr detailliert und dabei sehr, sehr sachlich. Viele Innenaufnahmen sind fast schon ein wenig zu perfekt eingefärbt in digitale Sepia-Nostalgie. Natürlich hat man sich Freiheiten genommen. So entwirft Manto seine berühmte ironisch-größenwahnsinnige Grabinschrift, die die Familie später durch einen harmlosen Spruch austauschen ließ, schon viele Jahre vor seinem Tod bei einem Gespräch mit der Schwester auf dem Friedhof, auf dem die Eltern begraben sind: „Hier liegt Saadat Hasan Manto und bei ihm liegen alle Geheimnisse und Mysterien der Kunst des Geschichtenerzählens. Unter einem Erdhügel ruht er und fragt sich immer noch, wer von den beiden der größere Geschichtenerzähler ist: Gott oder er.“

Es liegt eine Stimmung der Ausweglosigkeit über dem Film. Mantos Leben in Pakistan ist ein einziger Abstieg. Er verdient immer weniger Geld. Einmal rutscht es der Ehefrau raus, dass sie wegen seines Schreibens noch verhungern würden. Aber er kann nur schreiben, und er kann nicht anders schreiben. Noch ein äußerer Druck mehr. Die ganze Situation paralysiert ihn. Dort ist Bombay, hier die Familie. Freund Shyam Chadda lässt ihn verstehen, er solle zurückkommen nach Bombay, man warte auf ihn. Er reagiert nicht, als wären die Schäden in seiner Seele nicht mehr zu reparieren. Nawazuddin Siddiqui spielt Manto brillant und zurückhaltend mit ruhiger Intensität und Kontrolle, die dem Autor immer mehr entgleitet. In Pakistan trinkt er sich immer tiefer in den Abgrund. Das normale, alles andere als untypische Trinken eines Autors am Rande der Bürgerlichkeit verwandelt sich in ein krankmachendes, depressiv-selbstzerstörerisches Saufen, bei dem er den Kontakt zur Wirklichkeit verliert, was ihn zunächst in die Psychiatrie und dann mit 42 Jahren ins Grab bring.

Im Großen und Ganzen ist MANTO ein wenig überkorrekt sachlich und wird dadurch Mantos Persönlichkeit und vor allem seinem Schreiben nicht wirklich gerecht. Alle betonen in dem Film immer wieder, wie ungemütlich und verstörend seine Geschichten sind. Gleich am Anfang schon ist dies der Fall in Bezug auf die Bombay-Geschichte „Zehn Rupien“, als die Ehefrau sie liest. Und daran ändert sich nichts. Zwar verkündet der Film am Ende „Manto lebt“ – in Form seiner Geschichten – aber ein wirkliches Gefühl für sein Schreiben vermittelt der Film nicht. Zwar werden die intellektuellen und juristischen Diskussionen um seine Kunst wiedergegeben, aber diese reduzieren sich mit einer Ausnahme auf Inhalte. Natürlich haben seine Geschichten oft traurige, heftige, erotische Themen, aber es ist sein Stil, der der Düsternis entgegenarbeitet. Er erzählt präzise, einfühlsam, lebendig, auch ironisch, vor allem auch selbstironisch, da er gerne eine Figur namens Manto auftreten lässt. Seine Kunst ist poetisch und schön, und genau da versagt der Film wegen seiner durchgehenden Sachlichkeit, die vornehmlich darum bemüht ist, Zusammenhänge und Sachverhalte deutlich zu machen. Aber Manto nur als Opfer zu verstehen, greift auch zu kurz. Schließlich sollten die Geschichten auch provozieren, sollten sie manchmal ganz absichtlich obszön sein, weil diese Welt obszön sein kann. Manto wusste, was er tut. Aber wenn ein Staat solch eine Obszönität verurteilt, verurteilt er im Grunde sich selbst.

Die Sachlichkeit des Films zeigt sich auch bei den kurzen Sequenzen, die versuchen, in ein paar entscheidenden Bilder ein paar wichtige Kurzgeschichten Mantos widerzugeben. Dass diese Sequenzen sich oft übergangslos in den Film einfügen, ist passend, da sie Mantos fließende Weltsicht aus Innen und Außen zeigen, aber im Endeffekt sind es doch nicht mehr als bebilderte Inhaltsangaben, deren poetische und emotionale Lücken nur der zu füllen weiß, der die Geschichten tatsächlich gelesen hat. Das weiß Nandita Das auch, weshalb sie als Drehbuchautorin zwischendurch direkt mit Mantos Worten arbeitet. Aber trotz aller Sympathie identifiziert sich der Film nicht mit Manto. Der Blick auf ihn ist immer wieder der der besorgten Ehefrau, die gar nicht versteht, was aus ihrem netten und anständigen Mann geworden ist und die auch nichts dagegen hätte, wenn er Einträglicheres verfassen würde. Aber nichts kann einen Mann mehr umbringen als dieser besorgte Blick, weil man immer einen Vorwurf darin liest, ein Versager zu sein, der die Familie nicht ernähren kann. Weshalb Manto nur noch mehr trinkt. Aber was dem Film tatsächlich gut gelingt, das ist die Darstellung Mantos als Symbol, als ein Mann, der vor allem am Irrsinn, an der Gewalt und an den Widersprüchen der Teilung zugrunde geht. So wie die Hauptfigur in seiner Geschichte "Toba Tek Singh" über den Austausch psychiatrischer Insassen zwischen Indien und Pakistan nach Religionszugehörigkeit. Ein orientierungsloser Mann, der gar nicht weg will, bricht genau auf der Grenze zusammen.

MANTO, mit seinem großartigen Hauptdarsteller Siddiqui, ist ein gelungener, guter, aber im Endeffekt eher verdienstvoller als großer Film. Ansonsten kann ich nur jedem empfehlen: Lest Manto! Zumindest in der englischen Übersetzung. Auf Deutsch gibt es von ihm nichts. Man hat die Auswahl zwischen verschiedenen Sammelbänden: Die Geschichten in und über Bombay wurden beispielsweise vor einigen Jahren unter dem Buchtitel „Bombay Stories“ herausgebracht. Filmfans empfehle ich das wunderbare Buch „Stars from another Sky“ mit Mantos Erinnerungen an die Hindi-Filmwelt der 40er.

Freitag, 19. April 2019

KALANK – EWIGE LIEBE – Wunderschön anzusehen

KALANK (2019) ist wunderschön anzugucken und auch musikalisch angenehm anzuhören. Unter der Regie von Abhishek Varman ziehen die edlen Bilder zu halbklassischer indischer Musik an einem vorbei, und das macht Spaß, wenn man sich darauf einlässt und nichts anderes mehr erwartet. Nicht nur auf IMDb blühen aber momentan die negativen Rezensionen, wobei von vielen Autoren alle Elemente des Films bösartig in die Tonne getreten werden. Aber man sollte die Kirche oder den Tempel im Dorf lassen. Das Hindi-Kino der letzten Jahre war dermaßen voll von realistischen Filmen mit wenig Liedern und von nach dem dramaturgischen Regelwerk erzählten Storys, dass es mir gefällt, wenn gleich von Anfang an Lieder und prächtige Szenen in ausschweifendem Stil endlos aufeinanderfolgen. Und das alles inmitten großer, weiter Dekors, hübschen Frauen in hübschen Kleidern, in denen perfekt getanzt wird. Jedes Bild gibt einen neuen malerischen Eindruck, mal von oben, von der Seite, von unten. Und das geht lange so, oder eigentlich den ganzen Film hindurch. Einer der Höhepunkte ist ein prächtiges Dussehra-Fest, wo Alia Bhatt und Varun Dhawan vor einer brennenden Ravana-Statue stehen.

So lernt man dann zwischendurch, nach und nach, die einzelnen Figuren kennen, als sollte man daran erinnert werden, dass der Film ja auch noch etwas erzählt, aber das ist eigentlich alles eher nebensächlich. Denn bis auf ganz am Schluss, beim dramatischen Finale, hat das Formale die Oberhand und ist das Wichtigste. Und das ist doch mal eine gute Gelegenheit, um ein paar verantwortliche künstlerische Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zu erwähnen, die man sonst so schnell außer Acht lässt, als wäre ihre Arbeit selbstverständlich. Aber hier sind sie die wahren Stars. Wenn ich bei einem Film von Sanjay Leela Bhansali nicht das Bedürfnis habe, sofort nach den Verantwortlichen für Kamera oder Dekor zu gucken, dann weil alles ein Teil der Vision des Regisseurs ist. Aber da ich in KALANK keine Vision und keine Regie erkennen kann, ist das hier anders. Und da kann man übrigens nebenbei den Eindruck bekommen, dass die Macher von KALANK ganz geplant in Bhansalis Gewässern fischen wollten.

Cinematographer, also verantwortlich für die Bilder, das Licht, ist Binod Pradhan, der etwa die großartigen Filme aus den 90ern von Vidhu Vinod Chopra gemacht hat, wie MISSION KASHMIR (2000) und 1942: A LOVE STORY (1994). Aber er hat auch Bhansalis DEVDAS (2002) gemacht, hat also schon einmal Madhuri Dixit als liebende und tanzende Kurtisane ausgeleuchtet und gefilmt. Bei den Kostümen findet sich Maxima Basu, die daran auch für Bhansalis RAM-LEELA (2013) und dessen BAJIRAO MASTANI (2015) gearbeitet hat. Die Musik ist von Sanchit und Ankit Balhara, deren schöne Sounds man ebenfalls schon bei Bhansali gehört hat. Sie gehören zu denen, die für die Eleganz in dieser Dharma-Produktion Karan Johars sorgen und einen visuell übersteigerten, vergangenen Traum des nordöstlichen Indiens vor der Teilung herbeizaubern, bis am Ende alles brennt, vernichtet wird von hasserfüllten Massen.

Aber daneben gibt es noch die Mitte der 1940er im heutigen Pakistan angesiedelte Geschichte um eine sterbende Ehefrau, die ihre Nachfolge selbst regelt, ein Familiengeheimnis, einen unehelichen Sohn mit Rachegelüsten, eine würdevolle Kurtisane und Bordellbesitzerin. Und dann auch noch etwas verworrene Politik um den Kampf der einzelnen Schmiedehandwerker gegen die Industrialisierung, um die Auseinandersetzungen für und gegen die Teilung Indiens, als viele eiligst für vollendete Tatsachen durch die gewaltsame Vertreibung der jeweiligen Minderheiten sorgten. Und da hüpft der Film von einem Thema zum nächsten, ohne sich wirklich für eines von ihnen zu interessieren. Und irgendwie im Mittelpunkt ist eine Dreiecksbeziehung, die mit dem Fluss der Bilder so dahintreibt. Alia Bhatt ist elegant und spielt routiniert. Varun Dhawan ist gut im Zornigsein. Aditya Roy Kapoor ist der scheinbar unerschütterliche Geschäftsmann-Intellektuelle. Da haben es die älteren Stars besser. Sanjay Dutt und Madhuri Dixit haben eine überlebensgroße Leinwandpräsenz, die Bhatt oder Dhawan trotz aller Qualitäten noch nicht haben. Die immer würdevolle Madhuri Dixit braucht nur da zu sein und alles bekommt irgendwie Bedeutung. Erst als die Story auf das große Finale zusteuert, kommt der Film dramaturgisch und emotional etwas besser in Schwung, aber das wiederum ist vor allem dem Schnitt zu verdanken, also Shweta Vekant.

Was an KANKAL von Anfang an auffällt, ist die Angst, den Zuschauer zu verlieren, ihn nicht aus dem Bann der Bilder zu lassen. Das ist das genaue Gegenteil von Abhishek Varmans 2 STATES (2014), einer kleinen sympathischen Familienkomödie mit Alia Bhatt und Arjun Kapoor über Freud und Leid der Beziehung zwischen einer Tamilin und einem Punjabi. In diesem Regiedebüt war vieles gedehnt, langatmig, und das kann man bei einer teuren Großproduktion nicht zulassen. KALANK geht also sofort in die Vollen, als misstraute man der Wirkung der Geschichte an sich. Vor dem Vorspann gibt es sogar mehrere Szenen von den späteren filmischen Höhepunkten, wie eine Art verwirrender Minitrailer. Dann erzählt Alia Bhatt auch noch plötzlich zehn Jahre später einem Reporter ihr Leben, ganz unvermittelt, und nur in ein paar Szenen. Allerdings frage ich mich da, ob der Film ursprünglich anders aufgebaut oder noch länger war, ob da mehr Zusammenhang in den Einzelteilen war. Hat Produzent Karan Johar im Endeffekt dieses zur Abstraktion tendierende Destillat aus Höhepunkten zu verantworten? Hat er seinem Regisseur das Heft aus der Hand genommen? Spekulation, unmöglich zu sagen. 

Jedenfalls beruht KALANK auf einem alten Projekt seines Vaters Yash Johar. Es ist der letzte Film, an dem dieser vor seinem Tod 2004 gearbeitet hat. Aber es ist immer etwas problematisch, die Vision eines anderen zu verwirklichen. Das erklärt vielleicht auch, warum der Film im Formalen stehenbleibt und so wenig echte Innerlichkeit hat, was für eine Johar-Produktion dieser Art ungewöhnlich ist. Da ist so vieles, was unzusammenhängend wirkt. Ganz am Ende spricht Varun Dhawans Figur auch noch einen Satz aus dem Grab, warum auch immer. Und dann folgen noch ein paar weise Kalendersprüche mit einer sonnenbeschienenen seligen Alia Bhatt, woraufhin der Zuschauer mit einer prätentiösen Frage über „Liebe oder Zerstörung?“ in den Nachspann entlassen wird. Die Panik eines Misserfolgs liegt in diesen Methoden. Ich habe absolut nichts gegen Seifenopern, aber in solch einem Film, der eigentlich etwas Anderes, Größeres, Ernsteres will, sind ihre Mittel unpassend. Aber, wie gesagt, KALANK ist wunderschön anzugucken. Da sollte niemand auf die vielen berufsnegativen Stimmen im Netz hören und sich etwas anderes einreden lassen.

Samstag, 13. April 2019

Gelesen: Filmfare April 2019

Einen großen Teil der April-Ausgabe von Filmfare nehmen die „Tea Valley Filmfare Glamour & Style Awards“ ein, wozu es haufenweise Fotos und eine endlose Präsentation der Gewinner gibt. Hübsch anzugucken, schnell von mir durchgeblättert, und die kurzen Texte habe ich gar nicht erst gelesen. Irgendwie ist das Internet so voll von Bildern, dass ich bei einer Zeitschrift am liebsten echte Informationen und längere Texte habe. Aber die gibt es natürlich auch. Das Interessanteste diesmal sind drei Interviews, die hintereinander im Heft sind. Einmal die beiden, getrennt geführten, mit den auf einer Erfolgswelle reitenden Alia Bhatt und Varun Dhawan, die ganz „Heiß! Heiß“ Heiß“ auf dem Titelblatt zu sehen sind, weil die Premiere der Großproduktion KALANK – EWIGE LIEBE (2019) vor der Tür steht. In diesem Schwarzweißstil mit ölig-nassen Haaren sind auch die anderen Bilder. Ich find's eher niedlich als heiß, aber das bedeutet vermutlich bloß, dass ich nicht zur Zielgruppe gehöre. Also keine weiteren Kommentare dazu. Direkt danach kommt ein Interview mit Govinda, einem großen Star der 90er mit Karriereproblemen.

Für das Interview mit Alia Bhatt hat sich Chefredakteur Jitesh Pillaai höchstpersönlich an die Arbeit gemacht. Ein interessantes Gespräch über die letzte arbeitsintensive Zeit mit drei Filmen gleichzeitig, wobei sie sich wie ein Roboter gefühlt hat. Danach Plauderei über Privates, immerhin ist sie mit Ranbir Kapoor zusammen, der ja schwierig sein soll, wie Pilaai laut vermutet. Aber da kommt die schöne Antwort: „Ranbir ist nicht schwierig. Er ist ein Juwel.“ Und geheiratet wird erst mal nicht. Sagt sie. Übrigens gibt es schon im Vorwort von Pilaai ein Loblied auf Bhatt und Dhawan und ihre Entwicklung. Ich frage mich, ob er den beiden damit wirklich einen Gefallen tut. Und ich frage mich auch in dem Zusammenhang, ob es vielleicht genau dieses Heft ist, was wieder einmal den Zorn von Kangana Ranaut erregt hat. Bekanntlich regt sie sich an sich gerne auf und beschimpft und kritisiert Kollegen aus der Industrie, vermutlich in der Hoffnung, dass sie zurückschimpfen. Jetzt hat sie wieder einmal das Verhätscheln von Filmindustrie-Kindern beklagt. Dass Filmfare das mit diesem Heft tut, kann man nicht leugnen. Das war schon in der letzten Ausgabe mit Sara Ali Khan auf dem Titel so. Andererseits schreibt Filmfare genauso begeisterte, honigsüße Artikel über andere, die die Redaktion mag. In der Februar-Ausgabe war das Vidya Balan, die nun wirklich kein Film-Kind ist. Aber wie dem auch sei, warum nur macht Ranaut gleichzeitig Alia Bhatts Leistung in Zoya Akhtars GULLY BOY (2019) als „mittelmäßig“ nieder? Und was heißt überhaupt Leistung in dem Zusammenhang, als wäre es messbar? Natürlich ist es keine grandiose Ich-spiele-alle-anderen-an-die-Wand-Leistung. Alia Bhatt stellt sich hundertprozentig in den Dienst des Films. Sie ist absolut perfekt, ist natürlich, überzeugend und ohne falsches Ego. Und was „overacting“ ist, weiß sie gar nicht. Das hat sie gar nicht in ihrem System. Und deshalb ist sie in GULLY BOY großartig. Wäre ich Regisseur, ich würde mit ihr arbeiten wollen, und das sehen auch die Großen in Indien so, darunter zwei meiner Lieblingsregisseure, Bhansali und Rajamouli. Ich freu mich drauf.

Eine Sache über Alia Bhatts Karriere, die ich bisher nicht wusste, erfährt man im Interview mit Varun Dhawan, der vor Energie überzuquellen scheint und unendlich viel vor hat, sowohl im Bereich Massenunterhaltung, dem Arbeiten mit digitaler Technik als auch bei anspruchsvollen Filmen. Die beste Nachricht für mich: Er wird wieder mit Sriram Raghavan arbeiten. Er macht aus seinem Herzen grundsätzlich keine Mördergrube. Und da erwähnt er, dass Karan Johar tatsächlich gezweifelt hat, ob er Alia Bhatt für STUDENT OF THE YEAR (2012) nehmen sollte, aber Dhawan war sich sicher, dass aus dem Mädchen mal etwas Großes werden würde. Ganz ehrlich, ich hab es nicht gesehen. In STUDENT OF THE YEAR war einmal Sidharth Malhotra, der ganz offensichtlich ein guter Schauspieler war und ist, wenn auch vielleicht nicht der große Massenheld. Und bei Bhatt und Dhawan hatte ich einfach nur das Gefühl, sie wären nach Typ besetzt worden. Bei ihr musste erst Imtiaz Alis HIGHWAY (2014) kommen, damit ich meine Meinung änderte. Bei ihm war es Sriram Raghavans BADLAPUR (2015).

Direkt danach, und das ist passend, ein Interview mit Govinda, der einen Haufen Filme mit Varuns Papa David gedreht hat und diesem einst sogar zum Durchbruch verholfen hat. Jetzt dreht der sich weg, wenn er seinen alten Star sieht. Es ist interessant, ein Interview zu lesen mit einem Star im Karrieretief, so direkt nach den Gesprächen mit Zweien, bei denen nicht abzusehen ist, wie weit es noch nach oben gehen könnte, wenn es denn weiter nach oben geht. Bei Govindas letztem Film gab es Schwierigkeiten, und er und der Regisseur vermuten, dass es kein Zufall, sondern eine Intrige war, dass die Zensurbehörde erst einmal die Freigabe verweigerte und es dann nicht genug Leinwände gab, um das Werk unter die Leute zu bringen. Das vierte und letzte große Gespräch ist mit Badhshah, dem Musiker und Sänger, der schon viel für Filme gearbeitet hat und Schauspielambitionen hat, auch wenn er bis jetzt alle Angebote abgelehnt hat, auch eines von Karan Johar, mit dem er sich immer über Mode unterhält. Ein nettes Interview, wo ich dann mal systematisch gleichzeitig die Songs, die erwähnt werden, kontrolliert habe auf YouTube und immer wieder bei bekannten Videos und Filmbildern dachte: Ach, das Lied ist von dem ...

Natürlich gibt es wie in jeder Filmfare-Ausgabe auch News, etwas Beziehungsklatsch, neue Projekte, das meiste war schon im Internet. Deshalb picke ich nur eine Sache raus, die mich am meisten freut: Bhansali wird ein Biopic über Sahir Ludhianvi drehen, den großen Urdu-Dichter, dessen bekannteste Arbeit die Texte zu den Liedern in Guru Dutts PYAASA (1957) ist. Ludhianvi hatte eine komplizierte Beziehung zu Frauen, und war andererseits seiner Mutter eng verbunden. Abhishek Bachchan wird ihn höchst wahrscheinlich spielen. So, und zum Schluss mal wieder ein paar unqualifizierte Bemerkungen zu den Mode-Seiten. Was offensichtlich in ist, sind unsymmetrische Kleider, also schiefe. Macht mich aber nervös, wenn ich hingucke. Auch wenn der Inhalt aus Deepika Padukone oder Priyanka Chopra besteht. Aber offensichtlich fühlen sie sich selbst sehr wohl darin. Und das ist ja die Hauptsache. Eine ganze Seite Stars in Denim, für mich immer noch Jeans, und dazu weiße Oberbekleidung. Als hätte man es schon mal gesehen und die Redaktion ein altes Foto recycelt. Dann gibt es noch witzige bunte Handtaschen, Sonnenbrillen und die immer elegante Sonam Kapoor. Ihr Styling bedeutet viel, viel Arbeit und Zeitaufwand, was sie auch mal in einem Interview ausgeführt hat. Vielleicht sollte man Filmfare Awards für geduldige Ehemänner von modisch ganz besonders bewussten Stars vergeben. Ihr Ehemann müsste den ersten erhalten.

Donnerstag, 4. April 2019

Mohanlal in LUCIFER – Das Böse besiegt das Böse

Es ist schön, wenn ein Film genau das hält, was der Trailer verspricht. So ist es bei LUCIFER (2019), dem neuen Malayalam-Film aus dem südindischen Bundesstaat Kerala, mit Superstar Mohanlal in der Hauptrolle. Regie geführt hat mit Prithviraj Sukumaran ein jüngerer Starschauspieler, und das zum ersten Mal. Der Film ist ein visuell ansprechendes, dicht erzähltes Polit-Gangster-Drama zwischen. Und natürlich gibt es Massenszenen und Action, Kämpfe Mann gegen Mann, und dann mit Vorliebe Mohanlal gegen einen ganzen Haufen. Aber größtenteils besteht der Film aus Dialogen, aus verbalen Auseinandersetzungen, aus der einfachen Konfrontation von Menschen. Gelegenheit für markante Sätze. Und das fast volle drei Stunden lang in einem ordentlichen Tempo, in dem die Handlung vorangetrieben wird. Da werden keine Konzessionen an Menschen mit träger Auffassungsgabe gemacht.

Das Drehbuch stammt von Morali Gopy, der als Journalist angefangen hat. Da wundert es nicht, dass die Story eingeleitet wird von einem unabhängig arbeitenden Enthüllungs-Journalisten, der in seinem Live-Vlog die Ausgangsvoraussetzungen der Story erzählt: Da ist ein toter, mächtiger Politiker, Ministerpräsident von Kerala und unbestrittener Chef in seiner Partei. Und dann sind da die Menschen, die unter Umständen Anspruch auf seine Nachfolge haben. Wie ein einleitender Erzähler im Theater berichtet der Reporter dies alles. So geht keine Zeit verloren und es geht schnell mitten rein ins Geschehen. Die große Unbekannte bleibt eine Zeitlang ein gewisser Stephen in der Gestalt von Mohanlal, den man versucht, von den Trauerfeierlichkeiten fernzuhalten.

Das Schöne an überlebensgroßen rächenden Helden ist die Tatsache, dass die Wirklichkeit in ihrer ganzen möglichen Grässlichkeit dargestellt werden kann, ohne beim Zuschauer Depressionen auszulösen, denn es kommt ja jemand, um aufzuräumen, um zu retten. „Das ist die größte Komödie der Welt. Indische Politik.“, sagt der Sohn des verstorbenen Politikers, der erst mal durch die Maske musste, um seinem Vater zu ähneln. Eine fertige Rede hat man auch schon für ihn. Eine Welt des Scheins, des Marketings und der Lügen. Aber wenn das nur alles wäre, doch im Mittelpunkt steht der graue Backstage-Bereich der Kerala-Politik. Und Macht gibt es natürlich selten ohne Geld und Korruption. Mit Geld kauft man sich die Polizei, die Jusiz, auch die Medien, die sogenannte freie Presse. Dass die Finanzierung der Politiker und Parteien durch dunkle Kanäle wie illegale Immobilien- und Grundstücksgeschäfte erfolgt, ist nichts Neues. Aber in diesem Film kommt als große Bedrohung das Drogengeld dazu. Und da geht nichts ohne die Russenmafia. Doch für solche Probleme ist der mysteriöse Stephen ja zur Stelle, der Luzifer des Filmtitels, der mythische Ex-Engel Gottes. Denn das Böse kann man nach seiner Logik nur mit dem Bösen bekämpfen. Deshalb wird er gebraucht. Und zur Abwechslung gibt es hier mal keine Anspielungen auf die indischen Epen, sondern aufs Christentum. Denn in Kerala lebt ja eine stattliche christliche Minderheit. Sogar der Gegensatz Barabbas-Jesus wird hier herangezogen, als Stephen durch eine Fake-News-Intrige kurzzeitig im Gefängnis sitzt.

Regisseur Prithviraj konzentriert sich ganz darauf, innerhalb dieser inhaltsreichen Story einen Mythos aus gut und böse zu inszenieren. Denn natürlich benutzt Stephen alle Mittel, ist aber auch ein Wohltäter für die Opfer, finanziert ein Haus für einsame schwangere Frauen. Und so spielt Mohanlal ohne viele äußere Gefühlsregungen, sehr konzentriert, und nie mit übereilten Bewegungen. Er hat es nicht nötig, künstlich Aufmerksamkeit zu erzeugen. Er spielt keine Gefühle, keine Gedanken, sondern absolute Souveränität. Und man muss kein Mohanlal-Fan, mit einem Gepäck von früheren Filmen im Kopf, sein, um das zu genießen. Die Regie unterstützt das sehr bewusst und geschickt. Wenn Mohanlal seine Solo-Auftritte hat, scheint der Film in eine andere Dimension zu wechseln. Es ist amüsant, dass Regisseur Prithviraj selbst den präzise agierenden obersten Gangster-Gehilfen der Mohanlal-Figur spielt. Eine Anspielung auf seine Hauptfunktion. Denn es ist eben sein gelungener Hauptjob gewesen, Mohanlal ins rechte Licht zu setzen, sodass dieser den ganzen Film hindurch entspannt bleiben kann. Der Gegenspieler ist Vivek Oberoi als schleimiger Schurke ohne jede gute Eigenschaft. Er macht die Stieftochter sogar absichtlich mit zu starkem Marihuana krank und willenlos und missbraucht sie sexuell.

Trotz der Länge gibt es fast keine Lieder in dem Film. Das erste ist mit "Varika Varika" ein nationalistisches Marschlied für die Massen aus der Zeit der Unabhängigkeit und wird passenderweise im Gefängnis angestimmt. Und dann gibt es gegen Ende ein zweites. Und während ich da im Kino saß und mich noch wunderte über diese so gar nicht in den gedämpften Stil des Films passende grell-bunte Item-Nummer in einer Bar mit ein paar leicht bekleideten Damen, während ich also innerlich etwas irritiert maule, werde ich schnell eines Besseren belehrt, dass das alles Sinn macht. Denn parallel dazu gibt es den nächtlichen, stark ästhetisierten Schlusskampf. Die Straßen, in denen geprügelt und getötet wird, sind genauso neonbunt erleuchtet. Darüber die hämmernden Beats. Sex und Gewalt. Spekulativ? Na klar, aber nur ein bisschen, und es ist schön und wirkungsvoll. Dann finden draußen und drinnen zusammen, wenn Mohanlal die Bar mit den Tänzerinnen betritt. Das war also keine Fantasy-Musiknummer, wie sie manchmal in Filme eingeschoben werden. Auch in Bezug auf etwas anderes wird hier populäres Kino regelrecht theoretisiert. Einmal sagt Mohanlal, dass es bei Prügeleien auf die Härte der Schläge ankomme, nicht auf die Anzahl, worauf man im Norden so viel Wert lege. Und wer kennt sie nicht aus Bollywood-Filmen, diese ewigen Prügeleien, wo sich auch nach dem was weiß ich wievielten Schlag der Gegner noch aufrecht halten kann.Das ist hier anders. Ein harter Treffer und der Feind liegt tot auf dem Boden.