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Sonntag, 28. April 2019

Nandita Das' MANTO – Autor zwischen den Welten

Nandita Das' MANTO (2018) mit Nawazuddin Siddiqui in der Hauptrolle ist kein ein ganzes Leben umfassender biografischer Film über den Urdu-Schriftsteller Saadat Hasan Manto (1912-1955). MANTO konzentriert sich auf die Zeit kurz vor, während und nach der politischen Unabhängigkeit Indiens 1947, wodurch sich das Leben des Autors grundlegend änderte und er schließlich doch nach Pakistan zog, obwohl Bombay seine Stadt war, in der er trotz aller Schwierigkeiten die glücklichsten Jahre seines Lebens verbracht hatte. Über Bombay hat er auch immer wieder geschrieben. Und dort hat er auch für die Hindi-Filmindustrie gearbeitet.

Diese glücklichen Jahre kann man nur noch am Anfang erahnen, wenn Manto im lockeren Gespräch mit Kollegen und Kolleginnen ist. Oder wenn am Filmstudio Bombay Talkies 1947 die Unabhängigkeit Indiens gefeiert wird. Und sie sind alle da: Darunter natürlich Ashok Kumar, der große Star der 40er, der Komponist Naushad, die junge Schauspielerin Nargis und ihre berühmte Mutter Jaddanbai. Der Regisseur K. Asif läuft herum und fabuliert von seinem geplanten Film MUGHAL-E-AZAM, der aber, wie wir wissen, erst 1960 Premiere haben sollte. Auch dabei ist der Star Shyam Chadda, ein sehr guter Freund Mantos, der 1951 mit nur 31 Jahren bei einem Reitunfall starb. Und die Schauspieler-Sängerin Suraiya soll laut Besetzungsliste ebenfalls von jemandem dargestellt werden, was ich allerdings nicht gemerkt habe, obwohl ich, seit ich ANMOL GHADI (1946) gesehen habe, eine Vorliebe für das Spiel und den Gesang der echten Suraiya habe. Auf dieser Feier werden die herrschenden Probleme deutlich. Bombay Talkies bekommt anonyme Drohbriefe, weil dort überdurchschnittlich viele Moslems angestellt sind. Was rein statistisch stimmt, aber Ashok Kumar, der einer der Leiter ist, kümmert das nicht. Manto nimmt es ernster und bietet sogar, um nur ja vorsichtig zu sein, seine Entlassung an.

Manto ist überhaupt sehr vorsichtig und der Film zeigt sehr schön, wie auch seine eigene Angst mitverantwortlich für diesen Grenzwechsel ist, wie sie ihn dazu bringt, ganz gegen seinen persönlichen Wunsch zu handeln, wobei natürlich hinzukommt, dass er an Frau und Kind denken muss. Er hat kein wirklich gefährliches Schlüsselerlebnis, wo sein Leben durch marodierende und mordende Massen direkt in Gefahr gewesen wäre. Es sind die kleinen Ereignisse, das, was er sieht und hört, das Aufsaugen der allgemeinen Atmosphäre, die seinen Wandel langsam herbeiführen. Er ist beispielsweise mit seiner Frau in einem Schuhgeschäft, wo er die Besitzer belauscht, von denen einer nach Pakistan will. Plötzlich werden die Türen und Fenster verrammelt, da sich eine grölende Hindu-Meute nähert. Dann wieder fühlt er sich beschämt durch den furchtlosen Hindu Ashok Kumar, der auch in Zeiten der Ausschreitungen seinen Fahrer durch ein Moslemviertel eine Abkürzung fahren lässt und tatsächlich von den Bewohnern freundlich begrüßt wird.

Doch im Film ist ausgerechnet ein Gespräch mit Freund Shyam Chadda für den Umzug ausschlaggebend, denn dieser schimpft über Moslems, nachdem ein Familienangehöriger bei der Flucht aus Pakistan ermordet wurde. Es ist Mantos Erkenntnis, dass in solchen Zeiten jeder imstande ist, aus Wut oder Rache selbst den eigenen Freund zu ermorden. Da verlässt er Bombay, aber auch mit dem Wissen, dass er diesen Zorn potentiell ebenfalls in sich hat. In Lahore vermisst er dann die Hindus, geht durch die verwüsteten Geschäftsviertel, die von neuen Bewohnern in Besitz genommen werden. Sehr unaufgeregt zeigt der Film die Atmosphäre des Hasses, indem er sich auf die psychischen Folgen und praktischen Folgeerscheinungen konzentriert statt auf spektakuläre Gewalt. Nandita Das, die bekannte Schauspielerin, hat sich ja schon vor zehn Jahren in ihrem Regiedebüt FIRAAQ (2008) diesem Thema gewidmet, wo es um die kommunalen Pogrome in Gujarat 2002 geht.

Durch die Teilung Indiens steht Manto als Autor zwischen zwei Welten, wo er doch sowieso schon ständig von der Justiz und ihrer Staatsmoral bedroht ist. Er steht zwischen zwischen dem neuen Indien und dem neuen Pakistan, zu keinem der beiden sich wirklich zugehörig fühlend. Als wäre er gespalten. Seine geistige Existenz ist sowieso schon fragil zwischen bürgerlicher, familiärer Wirklichkeit und seiner Fiktion, seinen Phantasiefiguren. Und er lebt zwischen ernster Literatur und dem juristischen Vorwurf der Obszönität sowie, für Manto persönlich noch schlimmer, dem Vorwurf des Sensationalismus. Denn Manto hatte nicht nur einen sehr persönlichen, direkten Stil, er schrieb auch meist über die düsteren Seiten der Wirklichkeit. Unzählige ausgebeutete Prostituierte bevölkern seine Geschichten. Dabei hat er aber keine Lösung anzubieten. Er stand gefühlsmäßig zwar dem Sozialismus nahe, hatte aber eine gesunde Skepsis angesichts der praktisch-politischen Ausformung, weil er mit seiner Intelligenz auch erkannte, dass der Diktatur der Ausbeutung nur eine andere Diktatur von wenigen entgegengesetzt wird, die keiner Kontrolle unterliegt. Und so stand er nicht nur in Distanz zu der staatstragenden Kultur, wo immer gerne Optimismus und etwas Erhebendes gefragt ist, sondern auch zu den fortschrittlichen Autoren, die an Veränderung glaubten, wofür aber auch Optimismus angesagt war. Und immer wieder stand Manto vor Gericht wegen Obszönität. In Pakistan wurde er dann sogar verurteilt, konnte aber die Geldstrafe bezahlen, was ihn vor dem Gefängnis bewahrte.

MANTO ist sehr genau recherchiert, sehr detailliert und dabei sehr, sehr sachlich. Viele Innenaufnahmen sind fast schon ein wenig zu perfekt eingefärbt in digitale Sepia-Nostalgie. Natürlich hat man sich Freiheiten genommen. So entwirft Manto seine berühmte ironisch-größenwahnsinnige Grabinschrift, die die Familie später durch einen harmlosen Spruch austauschen ließ, schon viele Jahre vor seinem Tod bei einem Gespräch mit der Schwester auf dem Friedhof, auf dem die Eltern begraben sind: „Hier liegt Saadat Hasan Manto und bei ihm liegen alle Geheimnisse und Mysterien der Kunst des Geschichtenerzählens. Unter einem Erdhügel ruht er und fragt sich immer noch, wer von den beiden der größere Geschichtenerzähler ist: Gott oder er.“

Es liegt eine Stimmung der Ausweglosigkeit über dem Film. Mantos Leben in Pakistan ist ein einziger Abstieg. Er verdient immer weniger Geld. Einmal rutscht es der Ehefrau raus, dass sie wegen seines Schreibens noch verhungern würden. Aber er kann nur schreiben, und er kann nicht anders schreiben. Noch ein äußerer Druck mehr. Die ganze Situation paralysiert ihn. Dort ist Bombay, hier die Familie. Freund Shyam Chadda lässt ihn verstehen, er solle zurückkommen nach Bombay, man warte auf ihn. Er reagiert nicht, als wären die Schäden in seiner Seele nicht mehr zu reparieren. Nawazuddin Siddiqui spielt Manto brillant und zurückhaltend mit ruhiger Intensität und Kontrolle, die dem Autor immer mehr entgleitet. In Pakistan trinkt er sich immer tiefer in den Abgrund. Das normale, alles andere als untypische Trinken eines Autors am Rande der Bürgerlichkeit verwandelt sich in ein krankmachendes, depressiv-selbstzerstörerisches Saufen, bei dem er den Kontakt zur Wirklichkeit verliert, was ihn zunächst in die Psychiatrie und dann mit 42 Jahren ins Grab bring.

Im Großen und Ganzen ist MANTO ein wenig überkorrekt sachlich und wird dadurch Mantos Persönlichkeit und vor allem seinem Schreiben nicht wirklich gerecht. Alle betonen in dem Film immer wieder, wie ungemütlich und verstörend seine Geschichten sind. Gleich am Anfang schon ist dies der Fall in Bezug auf die Bombay-Geschichte „Zehn Rupien“, als die Ehefrau sie liest. Und daran ändert sich nichts. Zwar verkündet der Film am Ende „Manto lebt“ – in Form seiner Geschichten – aber ein wirkliches Gefühl für sein Schreiben vermittelt der Film nicht. Zwar werden die intellektuellen und juristischen Diskussionen um seine Kunst wiedergegeben, aber diese reduzieren sich mit einer Ausnahme auf Inhalte. Natürlich haben seine Geschichten oft traurige, heftige, erotische Themen, aber es ist sein Stil, der der Düsternis entgegenarbeitet. Er erzählt präzise, einfühlsam, lebendig, auch ironisch, vor allem auch selbstironisch, da er gerne eine Figur namens Manto auftreten lässt. Seine Kunst ist poetisch und schön, und genau da versagt der Film wegen seiner durchgehenden Sachlichkeit, die vornehmlich darum bemüht ist, Zusammenhänge und Sachverhalte deutlich zu machen. Aber Manto nur als Opfer zu verstehen, greift auch zu kurz. Schließlich sollten die Geschichten auch provozieren, sollten sie manchmal ganz absichtlich obszön sein, weil diese Welt obszön sein kann. Manto wusste, was er tut. Aber wenn ein Staat solch eine Obszönität verurteilt, verurteilt er im Grunde sich selbst.

Die Sachlichkeit des Films zeigt sich auch bei den kurzen Sequenzen, die versuchen, in ein paar entscheidenden Bilder ein paar wichtige Kurzgeschichten Mantos widerzugeben. Dass diese Sequenzen sich oft übergangslos in den Film einfügen, ist passend, da sie Mantos fließende Weltsicht aus Innen und Außen zeigen, aber im Endeffekt sind es doch nicht mehr als bebilderte Inhaltsangaben, deren poetische und emotionale Lücken nur der zu füllen weiß, der die Geschichten tatsächlich gelesen hat. Das weiß Nandita Das auch, weshalb sie als Drehbuchautorin zwischendurch direkt mit Mantos Worten arbeitet. Aber trotz aller Sympathie identifiziert sich der Film nicht mit Manto. Der Blick auf ihn ist immer wieder der der besorgten Ehefrau, die gar nicht versteht, was aus ihrem netten und anständigen Mann geworden ist und die auch nichts dagegen hätte, wenn er Einträglicheres verfassen würde. Aber nichts kann einen Mann mehr umbringen als dieser besorgte Blick, weil man immer einen Vorwurf darin liest, ein Versager zu sein, der die Familie nicht ernähren kann. Weshalb Manto nur noch mehr trinkt. Aber was dem Film tatsächlich gut gelingt, das ist die Darstellung Mantos als Symbol, als ein Mann, der vor allem am Irrsinn, an der Gewalt und an den Widersprüchen der Teilung zugrunde geht. So wie die Hauptfigur in seiner Geschichte "Toba Tek Singh" über den Austausch psychiatrischer Insassen zwischen Indien und Pakistan nach Religionszugehörigkeit. Ein orientierungsloser Mann, der gar nicht weg will, bricht genau auf der Grenze zusammen.

MANTO, mit seinem großartigen Hauptdarsteller Siddiqui, ist ein gelungener, guter, aber im Endeffekt eher verdienstvoller als großer Film. Ansonsten kann ich nur jedem empfehlen: Lest Manto! Zumindest in der englischen Übersetzung. Auf Deutsch gibt es von ihm nichts. Man hat die Auswahl zwischen verschiedenen Sammelbänden: Die Geschichten in und über Bombay wurden beispielsweise vor einigen Jahren unter dem Buchtitel „Bombay Stories“ herausgebracht. Filmfans empfehle ich das wunderbare Buch „Stars from another Sky“ mit Mantos Erinnerungen an die Hindi-Filmwelt der 40er.