MUKKABAAZ (2017), das
bedeutet Raufbold, Rabauke. Und wie der nicht mehr ganz junge
Endzwanziger Shravan, in der Gestalt von Vineet Kumar Singh, vom stürmischen Raufbold zum denkenden Boxer
wird, davon handelt Anurag Kashyaps Sportfilm, der in einer
Kleinstadt im indischen Bundesstaat Uttar Pradesh spielt. Shravan ist
einer, der lieber mit dem Kopf durch die Wand will, als brav zu
schweigen, wenn ihm etwas nicht passt. Und er hat ein Ziel. Er will
Boxer werden, sehr zum Leidwesen des Vaters, der ständig mault, der
Sohn habe eine tolle akademische Karriere sausen lassen. Bis es aus
dem Sohn in einer heftigen, aber auch lustigen, Szene herausbricht,
dass er dazu zu blöd gewesen wäre, weil er einfach nichts im Hirn
habe, und woher sollte er die Intelligenz auch geerbt haben.
Allerdings macht er in seinem Feuereifer den großen Fehler, sich mit
seinem Trainer Bhagwan Das Mishra anzulegen.
Der ist ein Gangster und
hoher Funktionär der lokalen und bundesstaatlichen Boxorganisation
in Uttar Pradesh und duldet keinen Widerspruch. Das Bollywood-Kino
ist ja seit Einzug der vermeintlich realistischeren Psychologie ein
bisschen sparsamer mit echten, unerträglichen, durch und durch
widerlichen Bösewichte geworden. Aber hier gibt es mal wieder einen,
ausgerechnet gespielt von Jimmy Sheirgill und er ist richtig gut
hassenswert. Da möchte selbst der überzeugteste Pazifist zur
tödlichen Selbstjustiz greifen. Er tyrannisiert alle um sich herum, besonders
die eigene Familie, und ganz besonders die Frauen, die er als sein persönliches Eigentum
betrachtet. Shravan fliegt also aus der Boxgruppe und Mishran hat die
Macht, ihn nirgendwo mehr boxen zu lassen. Und er nutzt diese Macht.
Aber dann waren die
Rebellion gegen und die Prügelei mit dem Trainer auch wieder gar kein
Fehler, denn es bringt Shravan endgültig die Liebe von Sunaina, der
Nichte des Trainers, ein. Denn MUKKABAAZ ist vor allem ein
Liebesfilm. Und die Liebesgeschichte steht bei all dem Boxen immer im
Mittelpunkt. Was Shravan auch tut, boxen für einen Job, arbeiten, boxen für
einen Titel, oder auch gar nicht boxen, er tut es für sie beide.
Da Sunaina stumm ist, drückt die beeindruckende filmische Neuentdeckung Zoya Hussain die Gefühle vor allem
mit den Augen aus. Und wie sie am Anfang, wo Shravan sich prügelt, erst
gewinnt und dann zusammengetreten wird, mit strahlenden Augen und
leuchtendem Gesicht vom Dach auf ihn herabschaut, da braucht es
tatsächlich keine Worte mehr. Was ihre Stummheit angeht, da kann
Kashyap übrigens noch so sehr philosophieren, dass dies das Schweigen der
Frauen in diesen Gegenden symbolisiere, so ist es doch bestimmt kein
Zufall, dass die Frau von ROCKYs Schützling CREED taub ist, weshalb
Zeichensprache auch dort eine große Rolle spielt. Und Shravan hat
mit dieser Liebe einen doppelten Feind, denn auch dieser Beziehung widersetzt Mishran
sich mit allen brutalen Mitteln.
Der ganze Film ist von
den Motiven her ein einziges Sammelsurium aus Bekanntem. Alles, was
man in Boxfilmen schon gesehen hat, scheint da irgendwo zu stecken.
Doch es kommt ja darauf an, was Kashyap daraus macht. Und es ist ein
ganz bewusst voller Film. Er ist bunt, grau, wild, lieb, witzig, grausam, emotional, sehr spannend
und sehr berührend. Dem einen oder anderen Kritiker war's zu viel des Guten, ich
find's großartig. Es ist eine Mischung aus Realismus, teilweise sehr
hartem und grauem Realismus und eben den populären Standards des
Sportfilms. Wie eine Masala-Boxfilm, nur ohne irreale
Übersteigerungen. Ein echter mainstreamtauglicher Boxfilm, nur
mitten in authentischer Amateurboxatmosphäre, ohne je die
glamourösen Arenen mit TV-Übertragung oder edle Olympia-Höhen zu erreichen. Da finden
Kämpfe statt mit mehr Funktionären als normalen Zuschauern
Und dazwischen immer
wieder stille, intime Szenen. Kashyap ist nah dran an den Figuren, für
die er sich Zeit nimmt. Aber dann auch wieder verdichtend und
distanzierter in Montageszenen mit vielen Bildern, vielen Schnitte
und dazu die Lieder des brillanten Soundtracks mit Texten, die etwas
beitragen zur Geschichte, zu den Gefühlen. Kashyap macht daraus
immer wieder etwas wie lebendige Übungen in Stil. Es sind Lieder,
die auch vom spannenden Sound her zur Szene passen. Da war zunächst eine leichte
Enttäuschung, als ich bemerkte, dass die Musik nicht vom geschätzten
Amit Trivedi ist, aber die verschwand schnell angesichts der
Kompositionen von Nucleya und Rachita Arora. Kashyap ist wirklich
brillant bei der Auswahl seiner Musik und die Musiker liefern für
ihn oft ihre besten Arbeiten. So wie Trivedi plötzlich Jazzkomponist
wurde für das verkannte Meisterwerk BOMBAY VELET (2015).
Ein erstes Drehbuch zu
MUKKAABAAZ stammt vom bemerkenswert authentisch wirkenden Hauptdarsteller Vineet Kumar Singh selbst. Kashyap hat dann einen
echten Kashyap draus gemacht, wie man es lieben muss. Hat zur perfekten Rekonstruktion Videoaufnahmen von echten Amateurkämpfen machen lassen. Hat Singh ein Jahr lang Boxen trainieren lassen. Und MUKKABAAZ ist
gefüllt mit indischen Themen und Problemen. Einmal ist es eine
Analyse der Sportwelt. Es gab ja in den letzten Jahren einige
Sportfilme über indische internationale Medaillengewinner. Rakeysh Om
Prakashas BHAAG MILKA BHAAG (2013), Reema Kagtis GOLD (2018) mit
Akshay Kumar, der leider nie auf DVD erschienen ist, und auch DANGAL
(2016) mit Aamir Khan. Aber in der Gesamtschau sieht es beim
indischen Medaillenspiegel regelmäßig nicht berauschend aus. Und
Kashyap geht an die Basis, da wo die Ursachen für die
Fehlentwicklungen liegen. Denn Sporterfolge beginnen lokal, regional,
beim Jugend- und Amateursport. Wenn das nicht gut organisiert ist,
kommen keine Talente für bundesstaatliche und zuletzt nationale
Förderung. Wie es Kashyaps Art, zeigt er Korruption und Nepotismus
ziemlich ungeschönt.
Und er schneidet Themen
an, die im Bollywood-Kino oft gar nicht mehr existieren, als gäbe es
sie nicht mehr. Es geht um Kaste und Klasse. Der Film ist da sehr
deutlich: Der Bösewicht Mishran ist eigentlich ein ganz rationaler
Bösewicht, weil er denkt, er hat ein Recht darauf. Erstens ist er
Brahmane und zweitens hat er Geld. Geld ist eben überall eine
wichtige Kaste, die selbst in Indien niedrige Herkunft ausgleichen
kann. Es ist einfach großartig, wie Kashyap bei all dem nicht den
Überblick verliert, wie kein Thema aus seinem Blickfeld gerät, wie er
Soziales, Politisches mit dem Populären, Melodramatischen und
Actionreichemn verbindet und eine aufregende Mischung abliefert,
die ruhig in Deutschland im Kino hätte laufen können. Aber ich
verstehe sowieso nicht, warum nicht jeder von Kashyaps Filmen bei uns
zumindest auf der großen kleinen Leinwand der Arthouse und
Kommunalen Kinos zu sehen ist.