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Dienstag, 18. Juni 2019

Aashiq Abus VIRUS – Gemeinsamer Kampf gegen den Tod

Aashiq Abus neuer Malayalam-Film VIRUS (2019) beruht auf wirklichen Ereignissen des vergangenen Jahres. 2018 brach in einer nördlichen Region des südindischen Bundesstaates Kerala der Nipah-Virus aus. 17 Menschen starben. Die Symptome des Nipah-Virus, der in Indien eine durchschnittliche Sterblichkeitsrate von 75% hat, sind Kopfschmerzen, Schwindel, Fieber und Übergeben. Das erste Mal ist dieser Virus 1998 in Malaysia aufgetreten. In Indien gab es 2001 und 2007 Ausbrüche in Westbengalen. Man hatte in Kerala also keine Erfahrung mit dieser speziellen Bedrohung. Die ergriffenen Maßnahmen sorgten aber schließlich für eine totale Eindämmung. 

VIRUS ist entstanden mit Unterstützung der Regierung und ihrer beteiligten Ministerien. Denn in der Bekämpfung der Epidemie haben sich ja alle Institutionen als funktionsfähig erwiesen. Und angesichts der vielen Kinofilme mit gangsterähnlichen korrupten Politikern, die nur an das eigene und nicht das allgemeine Wohl denken, ist es schön, auch wieder einmal so etwas zu sehen. Daher ist VIRUS trotz der ständigen Anwesenheit von Krankheit und Tod im Endeffekt ein positiver Film, der den Erfolg kollektiver Anstrengungen unter völliger Zurückstellung der eigenen Person feiert.

VIRUS beginnt ganz alltäglich mit ein paar jungen Männern, die abends Fußball spielen, nach Hause fahren. Dann sieht man einen von ihnen am nächsten Morgen bei der Arbeit als Arzt in einem überfüllten, hektisch betriebsamen Krankenhaus mit dem entsprechenden Durcheinander und der Einlieferung schwerer Fälle. Mal kann man ein Leben retten, mal nicht. Und dann wird auch noch gerade gestreikt, weil den Arbeitern seit sechs Monaten keine Löhne mehr gezahlt wurden. Versinnbildlicht wird diese Existenz an der Belastungsgrenze durch eine Mauer von nicht abtransportierten Müllsäcken an der Rückseite des Gebäudes. Sie steht da wie eine erstarrte riesige Welle, die droht, das Gebäude zu verschlingen. 

In diese stressige Routine kommt ein seltsamer Fall, der Aufsehen erregt. Es gibt weitere solche Fälle in anderen Krankenhäusern. Man testet im Labor, bis man sicher ist, dass es der Nipah-Virus ist. Es beginnt die intensive Behandlung und Isolierung und Quarantäne von Kranken und Kontaktpersonen, die emsige Nachforschung über die Ursache, aber auch die politische Diskussion. Denn findet man keine natürliche Ursache, kann es auch ein Terroranschlag sein. All das findet gleichzeitig statt und der Film folgt genauso gleichzeitig allen Maßnahmen in allen Richtungen. Erschreckend, aber nicht ungewöhnlich ist am Ende dann die Erkenntnis, dass die größte und schnellste Ausbreitung in einem Ambulanzfahrzeug und dann im Krankenhaus stattfand. Bekanntlich kann man sich ja nirgendwo so schnell mit etwas Gefährlichem anstecken wie in einem Hospital.

VIRUS ist, von der ersten bis zur letzten Minute, ein konsequenter Ensemblefilm. Der Film wiederholt so im Prinzip das, was die Eindämmung des Virus erst möglich gemacht – die funktionale Einordnung ins Kollektiv. Natürlich riskiert hier keiner der Darsteller sein Leben, so wie es bei den realen Beteiligten der Fall der Fall war. Und natürlich spielen bekannte Schauspieler die Menschen an den zentralen Stellen der Maßnahmen und sind somit im Laufe des Films öfter als andere zu sehen. Auf einem der Filmplakate werden ja auch drei Gesichter hervorgehoben, aber alle verrichten ihre Arbeit unspektakulär und sachlich, sodass sie sich völlig in das große Ganze integrieren. Allesamt verkörpern sie auf zurückhaltende Weise Alltagsmenschen, die eine Aufgabe verrichten, weil sie kein anderer machen kann oder würde. Niemand reißt sich darum. Denn die meisten haben ein Privatleben, Verantwortung für Angehörige.

Denn es handelt sich bei VIRUS eben nicht nur um ein rein sachliches Doku-Drama, das die Ereignisse wiedergibt. Die Drehbuchautoren haben ein solides, detailversessenes Gerüst geliefert, dass Regisseur Abu aber wirkungsvoll mit Leben füllt. Die 150 Minuten vergehen ohne jede Leerstelle. Und das allein schon ist ein Qualitätsmerkmal. Das liegt daran, dass der Film eben auch auf Wirkung hin gemacht wurde. Es gibt reichlich Emotionen, nicht nur durch die bedrohliche Tod-Leben-Situation, sondern auch auf einer ruhigeren Ebene durch die kurzen, aber wirkungsvollen und völlig ausreichenden Einblicke in das Privatleben der Beteiligten, sodass man sie kennenlernt. Auch dadurch schafft der Film trotz seines weit umfassenden Ansatzes eine Intimität und Nähe zum Zuschauer, die seine größte Qualität ausmacht. 

Es geht aber auch um die allgemeinen Auswirkungen auf die ganze Gesellschaft, um die Panik, um das doppelte Leid von moslemischen Hinterbliebenen, wenn sie die Leiche nicht ausgehändigt bekommen, weil sie sofort verbrannt werden. Das Problem wird dann übrigens nach dem Vorbild von Bangladesch durch Tiefenbegräbnisse gelöst. Es gibt ausreichend Spannung wie in einem Detektivfilm durch die Nachforschungen nach der Ursache. Da ist der Film wie ein klassischer Whodunit, wo man auf der Suche nach dem Mörder ist. Und auch wenn Aashiq Abu jeden Sensationalismus vermeidet, hat diese wahre Geschichte natürlich auch etwas von einem Horrorthriller, wo fast unerträglich viel gehustet und gekotzt wird. Das Gruselige verstärkt der Film ganz bewusst in mysteriösen Szenen, wenn etwa in einem Schockmoment aus einem tiefen Brunnen plötzlich Fledermäuse nach oben jagen. Der Film spinnt mit Mitteln wie kurzen Rückblenden oder effektvollen Parallelmontagen ein so feines, immer weiter sich ausdehnendes Netz, das man sich unmöglich alle Namen merken kann und manchmal glaubt, den Anschluss verloren zu haben, um ihn aber immer wiederzufinden. Im Ganzen entseht so ein großes und emotional aufgeladenes Gesamtbild.

Schön und beängstigend in ihrer Stille und Friedlichkeit ist dann am Ende die kurze Epilog-Szene, die den Beginn der Übertragung in Kerala auf den Menschen zeigt. Da weiß man ja, was folgen wird. Und dadurch ist die scheinbare Ruhe infiziert, so wie die kleine Fruchtfledermaus, von der vermutlich alles ausging. Aber gleichzeitig ist diese tierische Ursache der Epidemie ja selbst bloß offensichtlich krank und ein stilles, ratloses Opfer von etwas Unbekanntem, Rätselhaftem, Zerstörerischen. Und Anfang Juni 2019 wurde ein neuer Nipah-Fall in Kerala gemeldet.

Mittwoch, 12. Juni 2019

Salman Khan in BHARAT – Ein indischer Alltagsheld

Eine einzige Prügelszene Salman Khans gegen eine Übermacht aus einem Haufen böser Rowdys gibt es gegen Ende des von Ali Abbas Zafar inszenierten und geschriebenen Films BHARAT (2019). Und da ist die von Salman Khan gespielte Hauptfigur gerade 70 Jahre alt geworden. Wenn man das mal als Ansage auf die nächsten fünfzehn, zwanzig Jahre des 53 Jahre alten Bollywood-Superstars nimmt, dann kann man ahnen, dass er tatsächlich noch viel vor hat. Aber ansonsten bleibt es in BHARAT überwiegend friedlich.

Mit grauem Vollbart, grauen Haaren und Brille spielt Khan diese gealterte Version seiner Filmfigur, die mit „Bharat“ auch gleich heißt wie eine aus dem Sanskrit stammende Bezeichnung des indischen Staates. Solche nicht allzu subtilen Symbole und Bedeutungen durchziehen den ganzen Film. Aber es passt zu der sehr einfachen Handlung ohne große Überraschungen, die ein privates Ereignis, verbunden mit einem geschichtlichen Abschnitt innerhalb der Zeit von 1947-2010, an das nächste reiht.

Es beginnt mit Unabhängigkeit und Teilung: Eine Familie, stellvertretend für unendlich viele ähnlicher Fällen, wird in dem ganzen mörderischen Chaos auseinandergerissen. Mutter, Schwester und Bharat schaffen es nach Indien. Der Vater und die zweite Tochter, deren Hand Bharat auf dem Dach eines Zuges nicht festhalten konnte, bleiben zurück in Pakistan, aber auch nicht gemeinsam. Ort des angestrebten Wiedersehens ist ein Laden in Bombay, der dem Onkel und der Tante gehört, wo man erst einmal unterkommt. Bharat übernimmt es, sich anstelle des Vaters um die Familie zu kümmern. Und das heißt vor allem natürlich, Geld zu verdienen. Und so geht es über wirtschaftlichen Aufschwung, Krise, wirtschaftliche Liberalisierung bis ins moderne, ökonomisch global integrierte Indien.

BHARAT ist ein Familienfilm als nationaler Film, der eine ganz geglückte Mischung aus Pathos und Komödie liefert. Vor allem ist es ein durch und durch positiver Fortschrittsfilm über Indien, ein bisschen so, wie man einen Lebenslauf schreibt, wo man das Unangenehme möglichst weglässt oder zumindest kleinschreibt. Die Ursachen der Teilung liegen schon etwas tiefer, als dass ein paar Männer im Hinterzimmer dachten, die Menschen wären dann glücklicher. Indira Gandhis Ausnahmezustand in den 70ern ist plötzlich zu Ende, aber ich kann mich nicht erinnern, dass er im Film irgendwann beginnt. Und auch wenn die Teilung im Mittelpunkt steht, existieren hier weder Krieg noch Terrorismus. 

Ganz am Anfang gibt es eine Szene, die diese Methode symbolisiert: Ein kleiner Junge entdeckt einen ganzen Zug voller brutal abgeschlachteter Leichen. Schnell muss es gegangen sein, denn viele sitzen blutverschmiert noch auf ihren Plätzen. Der Vater eilt hinzu und hält eine Hand vor die Augen des Kindes. Das Schlimmste wird dem Zuschauer in der Folge eben auch nicht gezeigt. Es soll halt ein Familienfilm, ein die ganze Nation umfassender Wohlfühlfilm sein, der niemandem wehtut, und das Kalkül scheint angesichts der ständig über die sozialen Medien verkündeten Einspielergebnisse ja aufzugehen. Und es ist ein außerordentlich sympathischer Film, den anzugucken ganz einfach Spaß macht. Und es gibt keinen echten Bösewicht in dem Film, der die Handlung künstlich dramatisiert. Es sind die ganz einfachen Widerstände des Alltags, gegen die man hier ankämpfen muss.

Bharat ist ein Alltagsheld. Er kümmert sich um die Familie, verdient Geld, riskiert sein Leben als Motorradfahrer im Zirkus, scheut keine harte Arbeit, schuftet auf den nahöstlichen Ölfeldern, arbeitet gefährlich unter Tage, rettet seine Kumpel und sich vor dem unterirdischen Erstickungstod. Und er wagt eine der ersten unehelichen Beziehungen Indiens, die von der Mutter abgesegnet wurde. Eine Pionierleistung fürwahr. Das gibt es nicht mal im bunten Hindi-Kino der Mitsechziger. Und er bewältigt heroisch und mit Selbstüberwindung den Sprung in die Moderne, den Wandel von der heimeligen Basargasse ins moderne Einkaufszentrum, auch wenn sein Schwager dafür sorgt, dass die Grund- und Ladenbesitzer nicht alles den internationalisierten Raubgeiern der Großinvestition überlassen.

Bharat neigt zu pathetischen patriotischen Reden. Einmal wird dies ironisiert. Schließlich ist man nicht im Kino. Aber dann kommt es doch zum kollektiven Singen der Nationalhymne. Schließlich ist man im Kino. Das Bollywood Leben retten kann, zeigt auch die Episode mit den somalischen Operettenpiraten, dessen Anführer lieber Amitabh-Bachchan-Songs tanzt und singt, als das Schiff auszurauben. Überhaupt gibt es noch mindestens zwei andere Anspielungen auf Amitabh Bachchan. Und jetzt kennen wir alle auch den Ursprung der berühmten Ei-Szene in Manmohan Desais AMAR AKBAR ANTHONY (1977), übrigens auch eine Lost-and-found-Geschichte, hier über drei in der Kindheit voneinander getrennte Brüder mit verschiedenen Religionen. Mit der originalen Filmmusik von BHARAT, besser gesagt den Songs, sieht es nicht so überragend aus. Da sind drei, vier Lieder, daran erinnere ich mich. Aber die Lieder selbst sind nicht sonderlich erinnerungswürdig.

Ali Abbas Jafar führt funktional und handwerklich sicher Regie. Dabei wird hauptsächlich der wie immer routiniert und sympathische agierende Hauptdarsteller in Szene gesetzt. Khan weiß, wie man das Publikum auf seine Seite bekommt, und als Erzähler kommuniziert er auch noch auf einer weiteren Ebene direkt mit dem Zuschauer. BHARAT ist, nach SULTAN (2016) und TIGER ZINDA HAI (2017), jetzt schon die dritte Zusammenarbeit von Jafar und Khan. Und schon wieder erfolgreich. Und erneut bewegt sich Zafar in den von Regisseur Kabir Khan vorgegebenen Bahnen.

War der Tiger-Film die völlig ironiefreie harte Action-Fortsetzung des geistreichen Spionagefilms EK THA TIGER (2012), wirkt BHARAT wie eine im Ganzen doch etwas weniger subtile Version von BAJRANGI BHAIJAAN (2015), einem der schönsten und besten Filme der letzten Jahre. Es ist eine Indien-Pakistan-Geschichte mit dem Thema Familienzusammenführung, inklusive erfolgreich tränentreibender Szenen an der Grenze. Im Mittelpunkt steht ein kleines Mädchen in Gestalt der kleinen Schwester, die für ein paar Szenen Gestalt annimmt in Form eines anderen kleinen Mädchens. Dass er niemals lügt, wird ersetzt durch das Versprechen an den Vater, sich um die Familie zu kümmern. Und da ist der etwas naive und begriffsstutzige Familienmensch, der eine ihm geistig und von der Bildung und dem Karriereerfolg her überlegene Ehefrau bekommt, diesmal in Gestalt von Katrina Kaif.

Und eigentlich ist Katrina Kaif das Beste an dem Film. Ihre Figur hebt BHARAT hinaus über den eindimensionalen und auf nur ein Ziel gerichteten Tunnelblick der Hauptfigur, den das Trauma der Teilung, besonders in Visionen der damals in der Menge verschwindenden Schwester, nicht loslässt. Kaif fordert Salman Khan als Bharat heraus, ironisiert sein Verhalten auch mal. Ein Filmpaar, dem das Nichtglamouröse und Alltägliche sehr gut steht. Und irgendwie spürt man, dass die beiden auch im echten Leben ein großes stilles Einverständnis verbindet. Bis 2010 waren sie ja sogar ein wirkliches Paar und sind immer noch gut befreundet. Aber ich will mich jetzt nicht in Biografisches hineinsteigern. Und überhaupt hat Salman Khan ja noch gerade öffentlich verkündet, dass er nicht an die Ehe als Institution glaubt. Dazu passt ja, dass es für ihn und Kaif auch im Film ganz und gar unehelich bleibt.

Mittwoch, 5. Juni 2019

Suriya in NGK – Revolte gegen die Alten

Es fängt so paradiesisch und positiv an in dem tamilischen Film NGK (2019). Nandha Gopala Kumaran, der NGK aus dem Filmtitel, verbreitet unter den Bauern die Prinzipien des ökologischen Landbaus. Dafür hat er seinen gut bezahlten Bürojob, für ihn sowieso nur eine bezahlte Version von Gefängnis, sausen lassen. Eine ganze Schar junger Leute hat er als idealistische Sozialarbeiter hinter sich versammelt. Er ist populär, gilt als wichtig, sodass er auch in einer bürokratischen Angelegenheit um Hilfe gebeten wird. Aber erst ein Freund mit politischen Verbindungen kann die Sache regeln. Er alleine wird von Beamten aus dem Gebäude getragen. Und dann schlagen die ökonomischen Profiteure der Verseuchung und Ausbeutung der Böden zu, lassen sich diese Einmischung in ihre Geschäfte nicht lange gefallen. Felder werden vergiftet und auf lange Zeit unbrauchbar gemacht. Das geht an die nackte Existenz, und eine weinende Mutter bittet Kumaran, mit seinem Engagement aufzuhören. Ihr Sohn habe sich umgebracht. Und erneut muss er lernen, dass man politische Beziehungen braucht bei solchen Problemen.

Aber da es Gefallen nicht umsonst gibt, muss er in eine Partei eintreten mit den 500 jungen Männern in seinem Gefolge. Und da entwickelt der Film eine Menge satirischen Humors. Obwohl es schon vorher amüsant war, etwa wenn die Mutter es nicht aushält, dass das jung verheiratete Paar vor ihren Augen in der Küche flirtet. Und als Kumaran der Gattin ein Eis reicht, an dem sie gar nicht aufhören will, herumzuschlecken, da wird es der Mama endgültig zu viel. Doch das ist ja alles sehr liebevoll. Die böse Satire beginnt mit der Politik, deren Mechanismen man dafür in ihren Einzelteilen auseinander nimmt. Da befindet sich Kumaran in der organisierten Masse, über deren kontrolliert spontane Begeisterung sich ein Redner unsagbar freut, während neben diesem ein Mann steht, der sich an die Nase, ans Ohr fasst, um damit Reaktionen der Menge, wie eine bestimmte Art des Rufens, zu erzeugen.

Das alles ist Theater, Kino, Schauspiel, Schmierentheater, eine perfekt inszenierte Show, was ja an sich nicht schlimm wäre. In den USA ist auch immer so vieles bis ins Detail inszeniert. Aber da funktioniert im Großen und Ganzen das System. Doch hier verschleiert es nur das Nichtfunktionieren in vielen Bereichen, die Korruption, die persönliche Bereicherung. Es geht um Macht um der Macht willen, und um des Geldes willen, das eine bedingt das andere, in beide Richtungen. Den politischen Durchbruch schafft Kumaran aber erst, als er selbst in das Geschäft der Schauspielerei einsteigt. Es sind Haltungen, Gesten, Mienen, wie man sie aus dem Kino kennt: unterwürfige Körperhaltung, leicht vorne vornübergebeugt, lächelnd oder weinend vor Dankbarkeit. Nach einem Mordanschlag auf ihn, schaltet er geschickt in schluchzende Verzweiflung um, da sie sich besser auf den Fernseh- und Smartphone-Bildschirmen macht. Die Ehefrau steht distanziert in der Ecke und betrachtet ihn skeptisch.

Gespielt wird diese energische und oft genug wütende Ehefrau, die sich nichts gefallen lässt und jeden seiner Fehler hemmungslos kommentiert, von Sai Pallavi. Eine perfekte Darstellung einer ganz normalen, hübschen, aber nicht glamourösen indischen Ehefrau. Für den unterkühlten Glamour als Erfolgsfrau in den Hintergründen der Politikmaschinerie ist Rakul Preet Singh zuständig, ein schnelles Leinwandwiedersehen nach dem gerade erst gelaufenen Hindi-Film DE DE PYAAR DE (2019). Diesmal wirkt sie mit streng und stramm zurückgebundenem Haar unnahbar und unmenschlich, aber natürlich erliegt sie dem Charme des Helden, der eine Affäre mit ihr hat. Das wäre vor Kumarans Einstieg in die Politik undenkbar gewesen. Suriya spielt anschaulich und auch demonstrativ die Verwandlung eines normalen Mannes in einen Leinwandhelden. Und genau wie so einer muss er kämpfen, schauspielern, alle medialen Mittel anwenden, um die Massen auf seine Seite zu bekommen. Schließlich ist Südindien der Ort der wirklich erfolgreichen Schauspieler-Politiker. Das eine ist vom anderen nicht zu trennen. Und das ist das Brillante an NGK: Dieser Film über Politik ist, ohne es zu betonen, auch einer über die Prinzipien des tamilischen Kinos und seiner gesellschaftlichen Bedeutung.

Ich muss sagen, dass ich so einen Film nicht erwartet habe. Angenehm überrascht wäre der falsche Ausdruck. Ich mag ja harte Actionthriller, aber ich war beeindruckt, denn ich könnte mir vorstellen, dass ich nicht der einzige Zuschauer mit anderen Erwartungen war. Da kann man so einen fast schon analytischen Film in Form eines Blockbusters dann ruhig mutig nennen. Aber es funktioniert und ist unterhaltsam. NGK ist dicht, spannend, flüssig erzählt. Regisseur Selvaraghavan schafft einen ruhigen Rhythmus, der in den Actionszenen etwas beschleunigt, ohne die Kontrolle zu verlieren. Und er arbeitet mit Leerstellen. Eine tödlichen Brandanschlag gegen Ende hätte man in seiner Emotionalität und seinem Leiden ausschlachten können. Selvaraghavan zeigt nur die Folgen. Gelungen ist ihm eine Mischung aus bitter-ernst und bitter-ironisch, dass es weh tut. Wenn in einer der wichtigsten Szenen ein Todkranker darum bittet, erdolcht zu werden, damit man seine vermeintliche Ermordung der anderen Partei in die Schuhe schieben kann, dann hat das Ganze den Höhepunkt der tragischen Absurdität erreicht. Und es funktioniert wie vorhergesehen. Und Kumaran spielt mit. Und er wird immer erfolgreicher mit seiner kalkulierten Taktik. Denn er hat auch gesehen, was er alles an Gutem durchsetzen kann in seiner Position.

Und so wird er nach und nach zu einem echten übermenschlichen Helden, bei dem man sich nicht sicher ist, inwieweit er seine zu Beginn unschuldige Seele verloren hat oder inwieweit sie angekratzt ist. Es gibt nicht viele, aber intensive Actionszenen. Die brutalen Kampfszenen, natürlich immer ungerührt gegen viele Gegner auf einmal, haben eine angespannte Atmosphäre. Da ist eine Schlägerei in einem engen Klo und dann anschließend im Waschraum, wo nicht nur ein paar harmlose Knochen gebrochen werden. Es gibt eine wilde Polizeiattacke auf einem Platz. Und es gibt eine blutige Messerattacke auf ihn und seine Frau. Die wenigen Songs des Films funktionieren nach demselben Prinzip. Sie sind kurz, treibend und haben eine gewisse Härte. Ein einziges Liebeslied mit Bildmontagen gibt es allerdings. Bezeichnenderweise nicht zwischen Ehefrau und und Ehemann, sondern zwischen Kumaran und Geliebter.

Bei all dem geht es nicht so sehr um politische Inhalte, sondern um das Funktionieren des Staates, der Bürokratie an sich. Am Ende zerfasert der Film ein bisschen, oder ich habe bloß nicht alles mitbekommen, weil die gelben Untertitel manchmal schwer zu lesen waren. Auf jeden Fall endet alles in einer Revolution der jungen Männer, in dem symbolischen Angriff auf einen Trailer mit verantwortlichen Politikern mit Blut an den Händen. Das Neue gegen das Alte, die Jungen gegen die Alten, und das liegt dann ja, genau wie die Öko-Thematik, ganz im international angesagten Zeitgeist.