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Mittwoch, 12. Juni 2019

Salman Khan in BHARAT – Ein indischer Alltagsheld

Eine einzige Prügelszene Salman Khans gegen eine Übermacht aus einem Haufen böser Rowdys gibt es gegen Ende des von Ali Abbas Zafar inszenierten und geschriebenen Films BHARAT (2019). Und da ist die von Salman Khan gespielte Hauptfigur gerade 70 Jahre alt geworden. Wenn man das mal als Ansage auf die nächsten fünfzehn, zwanzig Jahre des 53 Jahre alten Bollywood-Superstars nimmt, dann kann man ahnen, dass er tatsächlich noch viel vor hat. Aber ansonsten bleibt es in BHARAT überwiegend friedlich.

Mit grauem Vollbart, grauen Haaren und Brille spielt Khan diese gealterte Version seiner Filmfigur, die mit „Bharat“ auch gleich heißt wie eine aus dem Sanskrit stammende Bezeichnung des indischen Staates. Solche nicht allzu subtilen Symbole und Bedeutungen durchziehen den ganzen Film. Aber es passt zu der sehr einfachen Handlung ohne große Überraschungen, die ein privates Ereignis, verbunden mit einem geschichtlichen Abschnitt innerhalb der Zeit von 1947-2010, an das nächste reiht.

Es beginnt mit Unabhängigkeit und Teilung: Eine Familie, stellvertretend für unendlich viele ähnlicher Fällen, wird in dem ganzen mörderischen Chaos auseinandergerissen. Mutter, Schwester und Bharat schaffen es nach Indien. Der Vater und die zweite Tochter, deren Hand Bharat auf dem Dach eines Zuges nicht festhalten konnte, bleiben zurück in Pakistan, aber auch nicht gemeinsam. Ort des angestrebten Wiedersehens ist ein Laden in Bombay, der dem Onkel und der Tante gehört, wo man erst einmal unterkommt. Bharat übernimmt es, sich anstelle des Vaters um die Familie zu kümmern. Und das heißt vor allem natürlich, Geld zu verdienen. Und so geht es über wirtschaftlichen Aufschwung, Krise, wirtschaftliche Liberalisierung bis ins moderne, ökonomisch global integrierte Indien.

BHARAT ist ein Familienfilm als nationaler Film, der eine ganz geglückte Mischung aus Pathos und Komödie liefert. Vor allem ist es ein durch und durch positiver Fortschrittsfilm über Indien, ein bisschen so, wie man einen Lebenslauf schreibt, wo man das Unangenehme möglichst weglässt oder zumindest kleinschreibt. Die Ursachen der Teilung liegen schon etwas tiefer, als dass ein paar Männer im Hinterzimmer dachten, die Menschen wären dann glücklicher. Indira Gandhis Ausnahmezustand in den 70ern ist plötzlich zu Ende, aber ich kann mich nicht erinnern, dass er im Film irgendwann beginnt. Und auch wenn die Teilung im Mittelpunkt steht, existieren hier weder Krieg noch Terrorismus. 

Ganz am Anfang gibt es eine Szene, die diese Methode symbolisiert: Ein kleiner Junge entdeckt einen ganzen Zug voller brutal abgeschlachteter Leichen. Schnell muss es gegangen sein, denn viele sitzen blutverschmiert noch auf ihren Plätzen. Der Vater eilt hinzu und hält eine Hand vor die Augen des Kindes. Das Schlimmste wird dem Zuschauer in der Folge eben auch nicht gezeigt. Es soll halt ein Familienfilm, ein die ganze Nation umfassender Wohlfühlfilm sein, der niemandem wehtut, und das Kalkül scheint angesichts der ständig über die sozialen Medien verkündeten Einspielergebnisse ja aufzugehen. Und es ist ein außerordentlich sympathischer Film, den anzugucken ganz einfach Spaß macht. Und es gibt keinen echten Bösewicht in dem Film, der die Handlung künstlich dramatisiert. Es sind die ganz einfachen Widerstände des Alltags, gegen die man hier ankämpfen muss.

Bharat ist ein Alltagsheld. Er kümmert sich um die Familie, verdient Geld, riskiert sein Leben als Motorradfahrer im Zirkus, scheut keine harte Arbeit, schuftet auf den nahöstlichen Ölfeldern, arbeitet gefährlich unter Tage, rettet seine Kumpel und sich vor dem unterirdischen Erstickungstod. Und er wagt eine der ersten unehelichen Beziehungen Indiens, die von der Mutter abgesegnet wurde. Eine Pionierleistung fürwahr. Das gibt es nicht mal im bunten Hindi-Kino der Mitsechziger. Und er bewältigt heroisch und mit Selbstüberwindung den Sprung in die Moderne, den Wandel von der heimeligen Basargasse ins moderne Einkaufszentrum, auch wenn sein Schwager dafür sorgt, dass die Grund- und Ladenbesitzer nicht alles den internationalisierten Raubgeiern der Großinvestition überlassen.

Bharat neigt zu pathetischen patriotischen Reden. Einmal wird dies ironisiert. Schließlich ist man nicht im Kino. Aber dann kommt es doch zum kollektiven Singen der Nationalhymne. Schließlich ist man im Kino. Das Bollywood Leben retten kann, zeigt auch die Episode mit den somalischen Operettenpiraten, dessen Anführer lieber Amitabh-Bachchan-Songs tanzt und singt, als das Schiff auszurauben. Überhaupt gibt es noch mindestens zwei andere Anspielungen auf Amitabh Bachchan. Und jetzt kennen wir alle auch den Ursprung der berühmten Ei-Szene in Manmohan Desais AMAR AKBAR ANTHONY (1977), übrigens auch eine Lost-and-found-Geschichte, hier über drei in der Kindheit voneinander getrennte Brüder mit verschiedenen Religionen. Mit der originalen Filmmusik von BHARAT, besser gesagt den Songs, sieht es nicht so überragend aus. Da sind drei, vier Lieder, daran erinnere ich mich. Aber die Lieder selbst sind nicht sonderlich erinnerungswürdig.

Ali Abbas Jafar führt funktional und handwerklich sicher Regie. Dabei wird hauptsächlich der wie immer routiniert und sympathische agierende Hauptdarsteller in Szene gesetzt. Khan weiß, wie man das Publikum auf seine Seite bekommt, und als Erzähler kommuniziert er auch noch auf einer weiteren Ebene direkt mit dem Zuschauer. BHARAT ist, nach SULTAN (2016) und TIGER ZINDA HAI (2017), jetzt schon die dritte Zusammenarbeit von Jafar und Khan. Und schon wieder erfolgreich. Und erneut bewegt sich Zafar in den von Regisseur Kabir Khan vorgegebenen Bahnen.

War der Tiger-Film die völlig ironiefreie harte Action-Fortsetzung des geistreichen Spionagefilms EK THA TIGER (2012), wirkt BHARAT wie eine im Ganzen doch etwas weniger subtile Version von BAJRANGI BHAIJAAN (2015), einem der schönsten und besten Filme der letzten Jahre. Es ist eine Indien-Pakistan-Geschichte mit dem Thema Familienzusammenführung, inklusive erfolgreich tränentreibender Szenen an der Grenze. Im Mittelpunkt steht ein kleines Mädchen in Gestalt der kleinen Schwester, die für ein paar Szenen Gestalt annimmt in Form eines anderen kleinen Mädchens. Dass er niemals lügt, wird ersetzt durch das Versprechen an den Vater, sich um die Familie zu kümmern. Und da ist der etwas naive und begriffsstutzige Familienmensch, der eine ihm geistig und von der Bildung und dem Karriereerfolg her überlegene Ehefrau bekommt, diesmal in Gestalt von Katrina Kaif.

Und eigentlich ist Katrina Kaif das Beste an dem Film. Ihre Figur hebt BHARAT hinaus über den eindimensionalen und auf nur ein Ziel gerichteten Tunnelblick der Hauptfigur, den das Trauma der Teilung, besonders in Visionen der damals in der Menge verschwindenden Schwester, nicht loslässt. Kaif fordert Salman Khan als Bharat heraus, ironisiert sein Verhalten auch mal. Ein Filmpaar, dem das Nichtglamouröse und Alltägliche sehr gut steht. Und irgendwie spürt man, dass die beiden auch im echten Leben ein großes stilles Einverständnis verbindet. Bis 2010 waren sie ja sogar ein wirkliches Paar und sind immer noch gut befreundet. Aber ich will mich jetzt nicht in Biografisches hineinsteigern. Und überhaupt hat Salman Khan ja noch gerade öffentlich verkündet, dass er nicht an die Ehe als Institution glaubt. Dazu passt ja, dass es für ihn und Kaif auch im Film ganz und gar unehelich bleibt.