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Sonntag, 31. Januar 2021

ANNAMALAI, VEERA, BAASHA – Rajinikanth-Kult von Suresh Krissna

Der Filmregisseur Suresh Krissna hat eine beeindruckende Filmografie mit Werken aus verschiedenen indischen Filmindustrien vorzuweisen. Und darunter befinden sich auch eine ganze Menge Hits. Aber zu keinem seiner Filme werde er so oft angesprochen oder ausgefragt wie zu den drei Tamil-Filmen, die er in den 1990ern mit Superstar Rajinikanth gedreht hat: AANAMALAI (1992), VEERA (1994) und dem vielleicht größten aller Rajinikanth-Klassiker BAASHA (1995). Das erzählt er im Vorwort des empfehlenswerten kleinen Buches „My days with Baasha – The Rajnikanth phenomenon“ (2012), entstanden mit der Journalistin Malathi Rangarajan.

Es ist ein unterhaltsam populäres Buch, ein spannender, anekdotenreicher Einblick in die Entstehung dieser Filme. Denn für Krissna ist Film Teamarbeit, und das sagt er nicht bloß, weil es sich gut anhört, sondern weil seine Filme tatsächlich mit Respekt für alle Mitarbeiter und ihre Kreativität gedreht werden. Krissna demonstriert, wie ergiebig brainstormende Gruppendiskussionen sein können, wo jeder seine Ideen einwirft. Und nach dem Motto „Ehre wem Ehre gebührt“ erzählt er hier ganz offen, von wem welche Idee stammte. Auch bei den kleinen Dingen. Die Dinge, die oft den feinen Unterschied ausmachen. Beispielsweise der Kneifer mit den roten Gläsern, das letzte Accessoire, das noch für das perfekte Äußere der Figur des Baasha fehlte: Der Kostümbildner war es.

Und vor allem ist es ein Porträt des Stars Rajinikanth und seiner Arbeitsmethoden. Die Perspektive Krissnas ist sowohl die des Kollegen als auch die des Fans, der den Star mit seiner Disziplin und Intelligenz, seinem vielseitigen Talent und Charisma aus nächster Nähe bei der Arbeit und live in Aktion beobachten kann. Die Eigenschaften, die aus Rajinikanth den Star gemacht haben, der er ist. Beide arbeiteten eng zusammen, waren sich wohl meistens einig, aber manchmal hatte der Star doch andere Vorstellungen und dann musste Krissna sich etwas Überzeugendes einfallen lassen.

Es ist auch ganz allgemein ein Buch über Masala-Blockbuster, bei denen es genauso auf Kleinigkeiten ankommt wie bei Filmen, die weniger direkt und kalkuliert die Psychologie der Massen in ihre Entstehung mit einbeziehen. Gute Filme für die Massen zu machen, heißt vor allem, sie zu respektieren und ernstzunehmen. Und wenn Krissna in seiner künstlerischen Individualität doch mal zu weit geht, dann wird er von seiner ihm assistierenden Frau zurückgepfiffen mit Bemerkungen wie: „Das verkauft sich nicht.“ Der Regisseur erzählt, dass Rajinikanths Blick nach manchen Szenen zuerst zu Krissnas Ehefrau ging, um die Wirkung der gerade gespielten Einstellung zu überprüfen.

ANNAMALAI

ANNAMALAI hat die aufregendste und interessanteste Entstehungsgeschichte zu bieten und folglich wird diesem Film im Buch am meisten Platz eingeräumt. Denn Krissna bekam den Film von seinem Lehrmeister, seinem Guru, dem Filmemacher und Produzenten K. Balachander zwei Tage vor Drehstart als einen Auftrag, zu dem er nicht nein sagen konnte und mochte. Dabei hatte er vorher noch nie mit Rajinikanth gedreht, kannte diesen nur sehr flüchtig und ansonsten wusste er absolut nichts von dem Projekt, dessen Drehbuch, wie er schnell feststellte, noch einiges an Verbesserungen benötigte. Ein Blockbuster mit einem Superstar, entstanden als ständige Improvisation und als Wettlauf gegen die Zeit, denn der Premierentermin ließ sich nicht mehr verschieben. Das hätte leicht schief gehen können. Ging es aber nicht. Denn heraus kam tatsächlich ein sehr schöner Film, der beim Publikum ein Riesenerfolg wurde. ANNAMALAI ist der Film, in dem zuerst das Wort Superstar im Vorspann im Zusammenhang mit dem Namen Rajinikanths benutzt wurde. Dieser war anfangs über diese Innovation gar nicht begeistert wegen des Drucks, den so etwas erzeugt, immer wieder neu Überwältigendes liefern zu müssen, filmisch und darstellerisch.

Rajnikanth spielt den sanften Milchmann Annamalai, der mit Grundstück und Stall einen kleinen Betrieb führt. Seit seiner Kindheit ist er mit einem Reichensohn befreundet, dessen Vater das nicht gefällt. Annamalais Naivität und Gutgläubigkeit führen dazu, dass er sich vom Vater seines Freundes um sein Grundstück betrügen lässt und wütend schwört, eines Tages reicher und mächtiger zu sein und sich zu rächen. Und das schafft er auch. Nur dass er nach vielen Jahren selbst so ist wie die, die er bloß bekämpfen wollte. Es ist ein abwechslungsreicher Film. Ein Twist, eine Wendung jagen die nächste, alles zusammengehalten von Rajinikanth und einer sicheren, pointierten Regie, die weiß, in Länge und Intensität das Gleichgewicht zu halten.

Am Anfang gibt es viel Komödie und schöne Einzelnummern des Stars. Beispielsweise die Erziehung eines arroganten Politikers, in dessen Haus Annamalai seine Kühe treibt, die dort auch ihr Geschäft verrichten. Dazu ein wunderbarer Wutanfall. Oder die Schlange in einer Wohnung, die Annamalai vertreiben soll. Da sieht er aus Versehen seine Zukünftige nackt und ist so verstört, dass er einige Zeit nur noch „Oh Gott, oh Gott“ wiederholen kann.

Wie die anderen beiden Filme auch, hat ANNAMALAI ausgezeichnete Musiknummern. Mein Favorit ist das rhythmische Lied über das sanfte, gebende Wesen von Kühen „Vanthena Paalkaran“. Da sind gute Kampf-Szenen, einfallsreich choreographiert wie die witzige Mann-Frau-Action beim gemeinsamen Kampf gegen die Belästigungs-Rowdys. Es macht im Übrigen schon einen Unterschied, dass Rajinikanth alles selbst gemacht hat, ohne Stuntman und ohne Tricks. Das verleiht Filmen wie ANNAMALAI etwas Bodenständiges, Echtes, ein perfekter Ausgleich für den überbordenden Fantasie-Realismus der Storys. Heute existieren Blockbuster zu oft in einer Art luftleerem Digitalraum.

VEERA

Wurde Krissna in ANNAMALAI praktisch hineingeworfen, musste er zu VEERA vom Star selbst erst überzeugt werden. Rajinikanth wollte etwas Ruhigeres, Friedlicheres, bevor man mit BAASHA erneut in die Vollen ging. VEERA ist das freie Remake eines erfolgreichen Telugu-Films über einen Mann, der durch dumme Umstände plötzlich mit zwei Frauen verheiratet ist. Krissna hatte große Bedenken, denn das ist nicht unbedingt ein Stoff für eine zum großen Teil konservative Fanmasse, aber er schaffte es, die Figur des Helden ausreichend zu entschuldigen und machte vor allem eine Komödie daraus.

VEERA ist sehr storyorientiert, sodass wenig spektakuläre Szenen darin sind. Am Anfang hat es sogar noch einen gewissen Ernst, durch die viele Musik auch eine gewisse Poesie. Die erste Ehefrau ist Tochter eines Musikers, und der Held muss erst vom jungen Rowdy zu einem vernünftigen Menschen werden. Er geht zu einem hochdotierten Musikwettbewerb in die Großstadt, damit die Mutter endlich ihre Schulden bezahlen kann. Ein Hochwasser spült unterdessen das Haus der Zukünftigen weg, und sie wird fälschlicherweise für tot gehalten. Er beginnt nun ernsthaft eine Musikkarriere. Es ist dann besonders die Mutter, die ihn drängt, erneut zu heiraten. Gerade da taucht die erste Frau wieder auf und statt tragischer Konflikte folgt nun die überdrehte Komödie. Das hätte peinlich schief gehen können, aber es funktioniert. Man denkt über die Situation gar nicht weiter nach, sondern überlässt sich als Zuschauer einfach der screwballartigen Situationskomik. Und als am Ende klar wird, dass der Held sicher nicht viel Spaß an dieser Situation haben wird, ist die moralische Frage sowieso hinfällig. Da kommt er einem eher wie ein armes Opfer vor.

BAASHA

BAASHA ist der kraftvolle Klassiker über einen Mann mit zwei Identitäten, die die Frage aufkommen lassen, wer er denn nun wirklich ist. Einmal der zurückhaltende Autorikscha-Fahrer und dann der für Gerechtigkeit kämpfende knallharte Gangster, den sogar die Polizei respektiert. Am Anfang des Films ist er einfach nur der perfekte Familienmensch, der sich selbst zurückstellt, um ganz nach seinem Versprechen an den sterbenden Vater den jüngeren Geschwistern den Weg ins Leben zu bahnen. Doch bei der Misshandlung von Schwester und Mutter durch Gangster platzt ihm der Geduldsfaden. Und dann lernen wir in einer Rückblende seine Vergangenheit als Gangsterboss in Bombay kennen. Da ist Baasha, der Mann mit den roten Augengläsern, dem ernsten, oft wütenden, leicht verzerrten Gesicht. Der Mann, der den Bösen spielt, um das Böse zu bekämpfen. Das Böse in Gestalt echter Bösewichter-Gesichter. Ein wichtiges stilistisch-visuelles Mittel wurde schon in ANNAMALAI angetestet. Da gab es ein psychedelisches Bild der Hauptfigur bei einem Wutanfall. Das wird dann in Baasha zum Prinzip, um lange kein wirkliches, erkennbares Bild von dieser Figur zu zeigen und natürlich die Spannung zu steigern.

Interessant sind die beiden Schwierigkeiten, die Krissna hatte, um zwei seiner zentralen Ideen gegen Widerstand durchzusetzen. Das sind spannende Anekdoten, denn wer den Film schon kennt oder vor dem Lesen des Buches das erste Mal geguckt hat, dem werden gerade diese beide Sequenzen perfekt und unverzichtbar vorkommen. Dabei gingen ihnen kontroverse Diskussionen voraus. Erstens ging es um die subtilen Bemühungen für die Szene, in der Rajinikanth verprügelt wird. Hier legte ein empörter Produzent fast sein Veto ein, weil er sich nicht vorstellen konnte, dass das Publikum das akzeptieren würde. Vermutlich sah er sich schon ruiniert und unzählige Kinosäle in Trümmern. Krissna erzählt nun, wie jedes Detail, wie der dramatische Aufbau, die visuelle Gestaltung genauestens geplant wurden, um dennoch eine begeisterte Reaktion beim Publikum zu erreichen.

Zweitens geht es um die wunderbare Musiksequenz „Nee Nadandhaal“, in der die Heldin immer nur den Helden sieht in jedem fremden Mann, der an ihr vorüber läuft. Die Wirkung verdankt sich einer schauspielerischen Meisterleistung Rajinikanths aber auch einem präzisen Schnitt, wo ständig verborgen und enthüllt wird. Eigentlich hatte man für den Film zu viele Lieder und Rajinikanth wollte dieses Liebeslied nicht im Film haben, da es die Story verlangsamen würde. Und er blieb stur, bis … Ja, bis Suresh Krissna eine Idee hatte, die sofort den sprudelnden Ideenreichtum des Superstars anzapfte. Auch der berühmteste Satz Baashas ist von Rajinikanth: "Wenn ich es einmal gesagt habe, ist es, als hätte ich es hundert Mal gesagt!"

Donnerstag, 28. Januar 2021

Franz Ostens NIRMALA – Eine arrangierte Liebesehe

 

In NIRMALA (1938) von Franz Osten steht die kinderliebe junge Frau Nirmala im Mittelpunkt. Gespielt wird sie von Devika Rani. Passend zu ihrem Namen als Filmtitel, auf Deutsch „Die Unberührte“ oder „Die Tugendhafte“, ist das poetischste Bild des Films eines von ihr und einer Freundin, die inmitten von weißen Blumen auf einer Wiese sitzen. Und es sieht aus, als würde ein zarter Schleier über allem liegen. Die Handlung ist sehr einfach: Es geht um zwei normale, aber einschneidende Erlebnisse im Leben. Einmal das Zustandekommen einer Ehe und dann das Kinderkriegen. Beides ist in NIRMALA mit großen Komplikationen verbunden.

Es geht um zwei sehr schüchterne junge Menschen, deren Umgebung meint, dass sie füreinander bestimmt sind. Dass das so ist, hat etwas schicksalhaft Komödiantisches, denn sie sind jeweils die Besten ihrer jeweiligen Abschlussjahrgänge und mit genau den gleichen Durchschnittsnoten gemeinsam in der Zeitung gelandet. Die Mitschüler dieses jungen Mannes namens Ramdas, gespielt von Ashok Kumar, scherzen sofort, dass sie seine Frau werden muss. Doch aus Spaß wird Ernst. Und anders als in vielen anderen Filmen wird hier die Einmischung und Vermittlung besonders der Eltern als etwas Gutes gezeigt, denn ohne diese würden die beiden vermutlich nie zusammenkommen. Besonders Nirmalas Eltern grübeln, wollen das Richtige zu tun, aber Nirmala macht ihnen das Leben schwer, weil sie nicht sagt, was sie denkt. Schweigsam und fast märtyrerhaft rutscht sie statt dessen fast in eine Ehe mit einem für sie völlig ungeeigneten, gangsterhaften Mann.

NIRMALA beginnt mit einer wunderschönen Einstellung von Kameramann Josef Wirsching in den Prolog-Szenen, die die Kindheit Nirmalas und ihr hingebungsvolles Mamaspielen zeigen. Zuerst sieht man nur die rechte Seite eines leeren Kinderzimmers, angedeutet durch ein paar auf dem Boden liegende Spielsachen. Eine Frau singt im Off ein Wiegenlied. Ganz langsam bewegt die Kamera sich nach links und zeigt Kind und Mutter, gefilmt durch den durchsichtigen Stoff über dem kleinen Bett. Doch die Tochter denkt gar nicht daran, sofort zu schlafen. Ist die Mutter erst einmal gegangen, spielt die Kleine genau dieselbe Prozedur mit ihrer Puppe nach. Übrigens kann man rein technisch an dieser kleinen Szene auch deutlich sehen, welche Qualitätsstandards das Studio Bombay Talkies nicht nur inhaltlich, sondern auch durch sorgfältige Arbeit setzte. Denn wenn die Mutter leise aus dem Zimmer geht, weil sie denkt, dass die Tochter schläft, sieht man, dass dort, wo sich vorher die Kamera bewegte, jetzt eine Wand ist. Man filmt also nicht einfach theaterhaft in eine starre Kulisse hinein, sondern nutzt die ganzen 360 Grad des Zimmers, was besonders in dieser Szene dem Raum etwas Intimes, Geschütztes verleiht.

Als Nirmala erwachsen ist, wird öfter über ihre Kinderliebe gesprochen und was für eine großartige Mutter sie werden wird. Umso schlimmer und qualvoller gestaltet sich für sie der tatsächliche Prozess des Kinderkriegens. Es gibt eine Fehlgeburt und drei Jahre später eine Totgeburt. Was man von der Ehe zwischen ihr und Ramdas zu sehen bekommt, konzentriert sich auf eine ständige Verdüsterung und Verzweiflung. Ein Astrologe führt ihre Probleme zurück auf ein schlechtes Karma aus dem vorherigen Leben der Mutter des Bräutigams. Als Nirmala erneut schwanger ist, flieht sie daher – sich für das Kind und gegen den Mann entscheidend – in einer düsteren Gewitternacht aus dem Haus. Sie wird fälschlich für tot gehalten, während sie Aufnahme bei einer Bettlerin in einer Armensiedlung findet. Das wird ihre neue Ersatzfamilie. Doch dann verschwindet das Kind. Selbst diese tragische Wendung wird noch sozial und realistisch begründet. Denn Bettlerinnen mit Kind bekommen im Allgemeinen mehr Geld und daher hat sich eine Frau das Baby ausgeliehen. Als dann ein Mann kommt, um es ihr zur Adoption abzukaufen, kann sie nicht nein sagen.

Der so einfache, relativ handlungsarme und unspektakuläre Realismus von NIRMALA wird jeweils am Ende der beiden Hälften des Films durch den publikumswirksamen Griff in die Melodrama-Trickkiste der wilden Verwicklungen und der quasi-religiösen Wunder gewürzt. Die Hochzeit bekommt in echter Räuberpistolen-Manier plötzlich einen Spannungsmoment durch die Entführung des Bräutigams und die Tatsache, dass dieses astrologisch günstige Datum von der Braut jetzt unbedingt genutzt werden muss. Der verschmähte und böse Ex-Verlobte steht bereit. Und so ist es auch ganz am Ende, als die gesamte Familie nach langer, langer Zeit wieder zusammenkommt. Astrologie spielt eine große Rolle in NIRMALA, was ein ganz und gar realistisches, den indischen Alltag wiedergebendes Element ist. Die Sterne können mitunter düster über den Menschen hängen, aber Gott hilft ihnen dann doch aus den Problemen hinaus.

Mittwoch, 27. Januar 2021

Franz Ostens PREM KAHANI – Liebe, Träume, Illusionen

 

Franz Ostens PREM KAHANI (1937) ist der visuell schönste der drei Osten-Filme die ich mir jetzt, neben ACHHUT KANYA (1936) und NIRMALA (1938), angesehen habe. Denn es ist der Film, bei dem Kameramann Josef Wirsching am deutlichsten eine Reihe von außergewöhnlichen stilistischen Akzenten setzen konnte. Die Bauten sind von Karl von Spreti. PREM KAHANI ist eine auf das Essentielle konzentrierte Tragödie. Der Titel „Liebesgeschichte“ deutet schon das Typisierende des Erzählten an.

Wie in ACHHUT KANYA (1936) gibt es eine Rahmenhandlung mit einem Priester. Aber diesmal ist der Rahmen wesentlich intensiver, gehört direkt zur Handlung. Denn hier tritt kein ätherischer Sadhu aus dem Nichts auf, um dann dorthin wieder zu verschwinden, sondern ein sehr realer Priester ist zur Vorbereitung einer Hochzeit in eine Wohnung gerufen worden. Dort wird gerade der Tochter des Hauses von den Eltern zugesetzt, dass sie endlich ihren Widerstand gegen deren Auswahl eines Bräutigams aufgeben und sich den Traum von einer Liebesheirat aus dem Kopf schlagen soll. Der Priester möge doch bitte dabei helfen, aber dieser lehnt ab, denn er war selbst einmal in so etwas aktiv verwickelt und habe gesehen, wie böse dies ausgehen kann. Deshalb habe er auch dem Weltlichen entsagt. Und da seine Geschichte am Ende didaktische Wirkung auf die Eltern hat, kann die Haupthandlung sich solch eine für das Hindi-Kino eher ungewöhnliche Tragödie ohne jeden Trost, ohne jedes sinngebende Opfer oder ohne romantisierte Vereinigung im Tod – Dinge, die ja auch noch als eine Art spirituelles Happy End durchgehen – erlauben.

Die Handlung wird in Gang gesetzt durch zwei Witwen, die auf gesellschaftlich absolut übliche Art und Weise, ganz rational-materialistisch, aber genau betrachtet natürlich gefühllos, die Hochzeiten ihrer beiden zusammen aufgewachsenen Kinder Jagat und Maya planen, ohne diese zu fragen oder genauer zu informieren. Ashok Kumar und Maya Devi spielen das verhinderte junge Liebespaar. Und sofort wird durch Missverständnisse das Rad der Verwicklungen in Gang gesetzt, an dessen Ende vier Menschen tot sind. Das also kann das Ergebnis sein, wenn man den natürlichen Ablauf, den natürlichen Zusammenhang der Dinge mit Gewalt und eigenmächtig stört. Wie ein sich vom Wagen gelöstes Rad unaufhaltsam den Berg herunterrollt, so ist die Katastrophe unvermeidlich und nicht aufzuhalten. Und dennoch kommt PREM KAHANI, abgesehen vom Schluss, ohne übertriebene melodramatische Effekte aus, ist ein sehr ruhiger Film. Die Menschen, auch die jungen Menschen, sind es gewohnt, sich zu fügen. Sie spielen mit, unternehmen allenfalls kleine vergebliche Flucht- oder Protestversuche, während sich das Unwetter über ihnen immer dichter zusammenbraut.

Vor allem ist PREM KAHANI ein trauriger Film über unerfüllte Wünsche und Träume, über trügerische Hoffnungen und Illusionen. Wirschings wichtigstes, wiederholt wirksam eingesetztes visuelles Mittel ist die Doppelbelichtung als Wunschvorstellung oder als Traumprojektion in die Zukunft. Menschen planen ja gerne im Kopf ihr Leben. So beispielsweise auch die beiden Hauptfiguren am Anfang: Jagat hat erst einmal ehrgeizige Pläne, ganz für sich allein, und er sieht eine große Anwalts-Karriere vor sich und dass er im Alter ein geehrter Bürger ist. Maya ist mit solch einem, sie ausschließenden, Traum unzufrieden und sieht statt dessen ein gemeinsames glückliches Familienleben und sogar ihren glücklichen Tod im hohen Alter mit Jagat am Bettrand sitzend. Als Jagat später in der Stadt ist und ein Lied singt, sieht er sich das Lied mit Maya singen. Die Menschen träumen von einem Menschen, sind im Geiste schon mit ihm zusammen. Geschehen die Dinge nicht wie erhofft, verwandelt sich die Wirklichkeit in eine schwer zu ertragende Bürde.

Wirsching arbeitet in PREM KAHANI auch stark mit dem Licht. Beispielsweise gibt es eine ungewöhnliche abstrakt-expressionistische Szene. Ein Mann am Schreibtisch und sein Diener, hinter ihnen eine graue, leere Wand ohne Dekors, auf der das Schattenspiel aus den zwei Gestalten geworfen wird. Meisterlich und voll effektvoller Tragik ist dann die ganze abschließende Nachtszene. Da stolpern vier Menschen mit unterschiedlichen Motiven zwischen Bäumen und Büschen durch das stürmische und verregnete Dunkel: auf der Flucht, auf der Suche, mit Mordabsichten. Wirsching arbeitet mit extremen Licht-Schatten-Kontrasten, mit Effekten wie beweglich zitternden Schatten im Sturm. Die Blitze zucken und sorgen für kurzes Aufhellen durch das Laub, um dann wieder in Finsternis zu stürzen. Dabei ist alles sehr klar, übersichtlich und ohne Hektik montiert. Die Katastrophe kommt mit schicksalhafter, ruhiger Unausweichlichkeit.

Montag, 25. Januar 2021

Franz Ostens ACHHUT KANYA – Die heilige Unberührbare

ACHHUT KANYA (1936) von Regisseur Franz Osten ist eines der großen erfolgreichen und wegweisenden sozialen Melodramen des Hindi-Films der 1930er. Angegriffen wird das Kastenwesen und seine aggressiv-gewalttätigen Vorkämpfer. Im Westen kennt man Franz Osten ja vor allem als Regisseur von drei großen, von Himanshu Rai produzierten Stummfilmepen mit historisch-indischer Thematik, die aber vor allem Erfolge außerhalb Indiens waren. In den 30ern drehte Osten dann in Indien beim Studio Bombay Talkies, das von Himanshu Rai und seiner Frau Devika Rani geleitet wurde, aber eine Reihe außergewöhnlicher Alltagsdramen für das indische Publikum. Kameramann bei diesen Filmen war Josef Wirsching, der mit seiner beweglichen Kamera und seiner kontrastreichen Ausleuchtung einer der einflussreichsten Kameraleute Indiens werden sollte. Und sogar der Art Director bei diesem Film war mit dem Architekten Karl von Spreti ein Deutscher. Die Hauptrollen in ACHHUT KANYA spielen Devika Rani und der junge Ashok Kumar, der eigentlich weder selbst vor der Kamera stehen wollte noch von Regisseur Osten dafür für tauglich gehalten wurde. Dennoch wurde er ab Mitte der 1930er zum lange Zeit größten Star des Hindi-Films.

Eingebettet ist die Hauptstory in eine Rahmenhandlung an einer Bahnüberquerung mit Torschranke, einem symbolischen Ort der Trennung, der Querung und der Öffnung. Das ist eine zentrale Stelle des ganzen Films. Ein teures Auto nähert sich, ein elegantes Paar sitzt darin. Der Ehemann hat eine Pistole. Das Tor wird gerade geschlossen und auch ein Bestechungsgeld bringt den Bahnbeamten nicht dazu, sie noch vor dem Zug durchzulassen, der eigentlich erst in einer halben Stunde vorbeikommen soll. Sie steigen aus und entdecken einen kleinen Schrein am Straßenrand. Aus dem Nichts taucht ein alter Sadhu auf, der singt und dann die Geschichte dieser Ortsheiligen, einer Unberührbaren erzählt. Das gibt der Geschichte nicht nur religiöse Bedeutung, sondern verstärkt auch die soziale, belehrende Absicht des Films. Der Alte löst sich am Ende einfach auf, aber seine Geschichte hat erleuchtet. Der Ehemann will seine Frau nicht mehr töten. Als wäre das Tor nur zu diesem Zweck viel zu früh geschlossen worden.

ACHHUT KANYA beginnt mit einer Freundschaft, die nichts erschüttern kann, zwischen einem Brahmanen und einem Unberührbaren, der jenem einmal das Leben gerettet hat. Der Brahmane ist ein freundlicher, großzügiger Ladenbesitzer, der Unberührbare der Bahn- und Schrankenwärter des Dorfes. Auch die Kinder der beiden – ein Sohn, eine Tochter – wachsen in Eintracht und unzertrennlich auf. All dies geschieht vor dem Hintergrund eines aggressiven Kastenwesens, auf dessen Aufrechterhaltung die Brahmanen des Dorfes achten, auch wenn dies oft nur ein Vorwand für persönliche Abrechnungen ist. Die Konflikte entstehen denn auch vor allem durch persönlichen Neid. Und so kommt es zu gewalttätigen, wilden Kastenunruhen, bei dem der Laden des Brahmanen abgebrannt wird. Die Staatsmacht erscheint, um zu strafen, und lässt sich nicht bestechen. Aber man sieht auch die eingeschüchterten Unberührbaren, die vor der Polizei schweigen, denn sie müssen ja weiterhin als quasi Rechtlose in dem Dorf leben.

Ebenso misstrauisch wird die Freundschaft der beiden Kinder beäugt. Brahmanen-Sohn Pratap und Unberührbaren-Tochter Kasturi verbindet eine Liebe, die angesichts der herrschenden Gesellschaftsordnung natürlich keine Erfüllung finden kann und darf. Es ist eine junge Liebesgeschichte mit ein bisschen Naturpoesie und schön-romantischen Liedern, vor allem dem berühmten und immer noch beliebten Liebesduett „Mein Ban Ki Chidya“, von den beiden Hauptdarstellern übrigens selbst gesungen. Playback kam ja erst später. Ashok Kumar ist naiv und jungenhaft, während Devika Rani mit ihrem strahlend-weichen Blick etwas charmant Verspieltes hat. Anfangs hegt sie noch gewisse romantische Träume, als hätte die Wirklichkeit sie noch nicht wirklich erreicht. Aber sie fügen sich. Beide heiraten jeweils einen Partner, den sie nicht lieben.

Der Film bleibt die ganze Zeit sehr zurückhaltend. Es gibt keine großen Gefühlsausbrüche. ACHHUT KANYA ist ein stilles, realistisches Melodrama. Gezeigt werden die kleinen Dramen und der große Schmerz, der hinter der stillen und gehorsamen Befolgung der Regeln ruht. Aber nicht nur beim verhinderten Liebespaar. Die Traurigkeit überträgt sich schnell auf den neuen Partner, wenn er alles begreift. Pratap singt beim Dachbau ein Lied über seine Traurigkeit und Verlorenheit. Ohne dass er sie sieht, ist seine junge, glückliche Braut mit im Bild. Sie hört ihn, versteht ihre eigene Einsamkeit, geht aus dem Bild und weint. Kasturis Zukunft, ihr Schicksal werden von dem Lied einer Frau vorhergesagt und zusammengefasst. Zwei Mal kommt diese müde und vergrämt mit einem Strohbündel über der Schulter vorbei und singt über die Grausamkeit der Liebe und des Verlassenseins. Kasturi fügt sich allem, hat keinen eigenen Willen mehr, wird so zum Opferlamm, das am Schluss auch aktiv diese Rolle übernimmt. Sie hat keinerlei böse Gedanken, auch nicht nach Aufruhr, will nicht fliehen. Allein bei der Vorstellung hat sie die sozialen Folgen im Kopf. In einer Doppelbelichtung sieht man die vorherigen kastenbedingten Gewalttaten.

ACHHUT KANYA zeichnet sich durch eine schöne, aber auch vorwiegend statische Fotografie aus. Naturaufnahmen mischen sich mit Studioaufnahmen und dem gleichmäßig ausgeleuchteten Dekor Karl von Spretis. Man spürt dann umso mehr die Lust und Freude, mit der Josef Wirsching sich in die Jahrmarktszenen stürzt, die voller dokumentarischer Bilder echten Lebens sind. Eine still schmerzvolle Szene gibt es noch kurz vor Schluss: Pratap fährt den Karren, Kasturi ist hinter ihm. Man sieht ihre beiden Gesichter nebeneinander, aber sich nicht anschauend. Er erinnert an früher, dann ist Stille. Es folgt die Doppelbelichtung von einer poetischen Liedszene der Vergangenheit. Sie will von diesen Erinnerungen nichts mehr hören. Und so wie der schwelende Kastenkonflikt in wilder Gewalt aufloderte, so führen die unglücklichen Ehen durch Missverständnisse und eine weibliche Intrige zu einer großen Katastrophe, bei der Kasturi sich opfert, um das Leben der anderen zu retten.

Sonntag, 24. Januar 2021

Werner Herzogs JAG MANDIR – Die Arbeiter der Träume

 

Werner Herzogs TV-Dokumentation JAG MANDIR (1991) beginnt mit André Heller, dem Kopf, dem Organisator einer großen Theateraufführung im indischen Udaipur, im Bundesstaat Rajasthan. Heller erzählt etwas über die Umstände und die Entstehung dieser 20-stündigen Veranstaltung unter der Schirnherrschaft des Maharana von Udaipur, der sich ein Festival der indischen volkstümlichen Unterhaltungsformen wünschte. Sein kleiner Sohn, sein Nachfolger, sollte das alles zu sehen bekommen, bevor es ganz langsam in der Moderne verschwindet. Es gab 18 Monate Videorecherche mehrerer Teams im ganzen Land. Das Ergebnis waren 10.000 Künstler auf Video. Ausgewählt wurden 2000. Und Heller ist begeistert über die Rolle, die Kultur seiner Beobachtung nach in Indien einnehme. Sie sei dort ein Grundnahrungsmittel.

Werner Herzog verzichtet danach auf größere Erklärungen. Mit einer Fiktionalisierung reiht er sich stattdessen als mythischer Geschichtenerzähler lieber geistig in die Reihe der auftretenden Künstler ein. Als Sprecher aus dem Off erzählt er eine legendenartige, märchenartige Geschichte. Denn der Maharadscha hätte Sorgen. Sein Inselpalast wäre 1500 Jahre alt und drohe im Wasser zu versinken. Ein Weiser hätte zu dieser Veranstaltung geraten, um das drohende Unheil zu verhindern. Herzog zeigt den Maharadscha beim Gespräch mit einem alten Mann und beim Umhergehen in seinen Palasträumen. Das war dann der kürzeste von insgesamt drei filmischen Akten. Auf „I. Die Sorgen des Maharadscha“ folgen dann „II. Die Prozession“ und „III. Die Vorstellung“. JAG MANDIR hat den Untertitel DAS EXZENTRISCHE PRIVATTHEATER DES MAHARADSCHA VON UDAIPUR.

18 Monat später ist es dann soweit. Eine bunte, laute, scheinbar nicht endende Prozession zieht durch die Straßen der Stadt. Da sind Fabelwesen, Götterbilder, Musik, geometrische Formen, Rhythmusgruppen, Tanz, Kostüme, der Tod, Krieger, Gesang, Puppenspieler, Schattenspieler, Vogelkostüme. Und noch vieles mehr. Irdisches, Fantastisches, Mythologisches. Die Kamera ist oft ganz nah und mitten drin, gerne in der Froschperspektive, will Teil davon sein. Zwischendurch mal ein Blick auf Zuschauer am Straßenrand, ein paar Totalen. Hinter dem langen Zug haben sich dann die normal gekleideten Menschen eingereiht. Auch am Straßenrand gibt es Entdeckungen wie den letzten Spieler eines bald verschwundenen Saiteninstruments. Einem Fakir kriecht ein Skorpion aus dem Mund. Durch das Stadtbild spaziert ein Stelzenläufer.

Man sieht den Aufbruch der fürstlichen Familie, das Besteigen einer Prunkbarke. Aber das Wichtigste ist das große Relief aus Erdfarben, das in 14 Tagen entstanden ist. Hier zeigt sich ein typisch indischer religiöser Rahmen der Veranstaltung. Am Bild gibt es ein Ritual und Segnungen. Und dann wird es verwischt. Das Material des vermischten Bildes wird dann für Segnungen verwendet. Wie Heller in der 7-minütigen Einleitung die Worte eines Sadhus wiederholte: Das Ziel sei Perfektion und Auflösung.

Die Vorstellung wird eingeleitet durch Schminken und Kostümieren in der riesigen Zeltstadt für all die Künstler aus ganz Indien. Ein Mann macht auf der Bühne eine Vorbemerkung, in dem er zwei schöne Ausdrücke gebraucht, einmal nennt er die Mitwirkenden „Arbeiter des Traums“ und man werde der „Schönheit huldigen“. Mit Musik, Tanz, Lachen, Staunen werden die Realitäten zahlloser Welten abgebildet: Indien, tatsächlich ein ganzes Universum für sich. Es beginnt mit einem Reitertanz, einem Derwisch-Säbeltanz. Es gibt Artistik, Tanz, Gesang, eine abwechslungsreiche Auswahl, von wild bis anmutig, mit Männern, Frauen, Kindern. Zwischendurch zwei, drei Mal eine Großaufnahmen des Sohnes, für den das alles schließlich stattfindet. Ein großes Feuerwerk schließt die Veranstaltung ab. Der Film wird abgeschlossen von einer nächtlichen Totalen. Ein schöner Film, der natürlich nur ein Best of dessen liefert, das sich in der Wirklichkeit gerade durch die lange Dauer ausgezeichnet hat.