ACHHUT KANYA (1936) von Regisseur Franz Osten ist eines der großen erfolgreichen und wegweisenden sozialen Melodramen des Hindi-Films der 1930er. Angegriffen wird das Kastenwesen und seine aggressiv-gewalttätigen Vorkämpfer. Im Westen kennt man Franz Osten ja vor allem als Regisseur von drei großen, von Himanshu Rai produzierten Stummfilmepen mit historisch-indischer Thematik, die aber vor allem Erfolge außerhalb Indiens waren. In den 30ern drehte Osten dann in Indien beim Studio Bombay Talkies, das von Himanshu Rai und seiner Frau Devika Rani geleitet wurde, aber eine Reihe außergewöhnlicher Alltagsdramen für das indische Publikum. Kameramann bei diesen Filmen war Josef Wirsching, der mit seiner beweglichen Kamera und seiner kontrastreichen Ausleuchtung einer der einflussreichsten Kameraleute Indiens werden sollte. Und sogar der Art Director bei diesem Film war mit dem Architekten Karl von Spreti ein Deutscher. Die Hauptrollen in ACHHUT KANYA spielen Devika Rani und der junge Ashok Kumar, der eigentlich weder selbst vor der Kamera stehen wollte noch von Regisseur Osten dafür für tauglich gehalten wurde. Dennoch wurde er ab Mitte der 1930er zum lange Zeit größten Star des Hindi-Films.
Eingebettet ist die Hauptstory in eine Rahmenhandlung an einer Bahnüberquerung mit Torschranke, einem symbolischen Ort der Trennung, der Querung und der Öffnung. Das ist eine zentrale Stelle des ganzen Films. Ein teures Auto nähert sich, ein elegantes Paar sitzt darin. Der Ehemann hat eine Pistole. Das Tor wird gerade geschlossen und auch ein Bestechungsgeld bringt den Bahnbeamten nicht dazu, sie noch vor dem Zug durchzulassen, der eigentlich erst in einer halben Stunde vorbeikommen soll. Sie steigen aus und entdecken einen kleinen Schrein am Straßenrand. Aus dem Nichts taucht ein alter Sadhu auf, der singt und dann die Geschichte dieser Ortsheiligen, einer Unberührbaren erzählt. Das gibt der Geschichte nicht nur religiöse Bedeutung, sondern verstärkt auch die soziale, belehrende Absicht des Films. Der Alte löst sich am Ende einfach auf, aber seine Geschichte hat erleuchtet. Der Ehemann will seine Frau nicht mehr töten. Als wäre das Tor nur zu diesem Zweck viel zu früh geschlossen worden.
ACHHUT KANYA beginnt mit einer Freundschaft, die nichts erschüttern kann, zwischen einem Brahmanen und einem Unberührbaren, der jenem einmal das Leben gerettet hat. Der Brahmane ist ein freundlicher, großzügiger Ladenbesitzer, der Unberührbare der Bahn- und Schrankenwärter des Dorfes. Auch die Kinder der beiden – ein Sohn, eine Tochter – wachsen in Eintracht und unzertrennlich auf. All dies geschieht vor dem Hintergrund eines aggressiven Kastenwesens, auf dessen Aufrechterhaltung die Brahmanen des Dorfes achten, auch wenn dies oft nur ein Vorwand für persönliche Abrechnungen ist. Die Konflikte entstehen denn auch vor allem durch persönlichen Neid. Und so kommt es zu gewalttätigen, wilden Kastenunruhen, bei dem der Laden des Brahmanen abgebrannt wird. Die Staatsmacht erscheint, um zu strafen, und lässt sich nicht bestechen. Aber man sieht auch die eingeschüchterten Unberührbaren, die vor der Polizei schweigen, denn sie müssen ja weiterhin als quasi Rechtlose in dem Dorf leben.
Ebenso misstrauisch wird die Freundschaft der beiden Kinder beäugt. Brahmanen-Sohn Pratap und Unberührbaren-Tochter Kasturi verbindet eine Liebe, die angesichts der herrschenden Gesellschaftsordnung natürlich keine Erfüllung finden kann und darf. Es ist eine junge Liebesgeschichte mit ein bisschen Naturpoesie und schön-romantischen Liedern, vor allem dem berühmten und immer noch beliebten Liebesduett „Mein Ban Ki Chidya“, von den beiden Hauptdarstellern übrigens selbst gesungen. Playback kam ja erst später. Ashok Kumar ist naiv und jungenhaft, während Devika Rani mit ihrem strahlend-weichen Blick etwas charmant Verspieltes hat. Anfangs hegt sie noch gewisse romantische Träume, als hätte die Wirklichkeit sie noch nicht wirklich erreicht. Aber sie fügen sich. Beide heiraten jeweils einen Partner, den sie nicht lieben.
Der Film bleibt die ganze Zeit sehr zurückhaltend. Es gibt keine großen Gefühlsausbrüche. ACHHUT KANYA ist ein stilles, realistisches Melodrama. Gezeigt werden die kleinen Dramen und der große Schmerz, der hinter der stillen und gehorsamen Befolgung der Regeln ruht. Aber nicht nur beim verhinderten Liebespaar. Die Traurigkeit überträgt sich schnell auf den neuen Partner, wenn er alles begreift. Pratap singt beim Dachbau ein Lied über seine Traurigkeit und Verlorenheit. Ohne dass er sie sieht, ist seine junge, glückliche Braut mit im Bild. Sie hört ihn, versteht ihre eigene Einsamkeit, geht aus dem Bild und weint. Kasturis Zukunft, ihr Schicksal werden von dem Lied einer Frau vorhergesagt und zusammengefasst. Zwei Mal kommt diese müde und vergrämt mit einem Strohbündel über der Schulter vorbei und singt über die Grausamkeit der Liebe und des Verlassenseins. Kasturi fügt sich allem, hat keinen eigenen Willen mehr, wird so zum Opferlamm, das am Schluss auch aktiv diese Rolle übernimmt. Sie hat keinerlei böse Gedanken, auch nicht nach Aufruhr, will nicht fliehen. Allein bei der Vorstellung hat sie die sozialen Folgen im Kopf. In einer Doppelbelichtung sieht man die vorherigen kastenbedingten Gewalttaten.
ACHHUT KANYA zeichnet sich durch eine schöne, aber auch vorwiegend statische Fotografie aus. Naturaufnahmen mischen sich mit Studioaufnahmen und dem gleichmäßig ausgeleuchteten Dekor Karl von Spretis. Man spürt dann umso mehr die Lust und Freude, mit der Josef Wirsching sich in die Jahrmarktszenen stürzt, die voller dokumentarischer Bilder echten Lebens sind. Eine still schmerzvolle Szene gibt es noch kurz vor Schluss: Pratap fährt den Karren, Kasturi ist hinter ihm. Man sieht ihre beiden Gesichter nebeneinander, aber sich nicht anschauend. Er erinnert an früher, dann ist Stille. Es folgt die Doppelbelichtung von einer poetischen Liedszene der Vergangenheit. Sie will von diesen Erinnerungen nichts mehr hören. Und so wie der schwelende Kastenkonflikt in wilder Gewalt aufloderte, so führen die unglücklichen Ehen durch Missverständnisse und eine weibliche Intrige zu einer großen Katastrophe, bei der Kasturi sich opfert, um das Leben der anderen zu retten.