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Donnerstag, 28. März 2019

Akshay Kumar in KESARI – Bis zum letzten Mann

In der Mitte des Films KESARI (2019) gibt es eine schöne Szene: Gerade sind mehr als 10.000 afghanische Krieger vor der kleinen, schwach besetzten Grenzfestung Saragarhi aufgetaucht, in der Havildar Ishar Singh, befehlshabender Sikh-Sergeant der indisch-britischen Armee nur 20 Sikh-Soldaten und einen Koch unter sich hat. In wenigen Augenblicken wird eine mehrere Stunden andauernde, heftige Schlacht folgen, durch die dieser kleine Teil des 36. Sikh-Regiments den Gegner davon abhalten will, die beiden größeren Forts in der Gegend anzugreifen und einzunehmen. Ein paar rhythmisch schlagende Trommler der Afghanen sollen die Übermacht in Stimmung bringen, sollen auf die schnelle und zügige Zerstörung des so sehr unterlegenen Feindes einschwören. Da taucht Akshay Kumar als Havildar Singh an den Zinnen der Festung auf und schlägt auf einer Dhol punjabische Tanzrhythmen, die die stumpfsinnigen Kriegstrommler aus dem Takt und schließlich zum Verstummen bringen. Dass er überhaupt gehört wird, könnte mit dem Echo zusammenhängen. Aber natürlich ist es vor allem magisch, magisch wie die Tatsache, dass diese 21 Mann so lange, bis zum eigenen Tod, dem Gegner standhalten werden, weshalb die großflächigen Angriffspläne des Feindes scheiterten an diesem 12.September 1897. Denn der Film beruht auf historischen Ereignissen.
Die Schlacht von Saragarhi (Demi Public Domain Map Server) 
Diese Trommel-Szene steht für zwei Dinge: Erstens, dass es Akshay Kumar ist, der in diesem Film den Takt, den Rhythmus, die Stimmung bestimmt. Er ist die Batterie des Films, in dem er sich trotz der einfachen und eingeschränkten Handlung von verschiedenen Seiten zeigen darf. Damit auch die emotionale Seite zum Tragen kommt, hat er sogar Phantasien von der Anwesenheit seiner Ehefrau, was ein paar Gastauftritte, inklusive romantischen Liebesliedes, von Parineeti Chopra mit sich führt. Akshay Kumar ist nun mal der Meister des Film-Patriotismus, der Mann mit der Militär-Glaubwürdigkeit, und wenn man die bisherigen Einspielergebnisse dieses Blockbusters sieht, dann haben auch seine Annahme der kanadischen Staatsbürgerschaft und die Tatsache, dass er in Kanada öffentlich Toronto als sein Zuhause – „home“ – bezeichnet hat, wo er nach Ende seiner Karriere hinziehen wird, keine Auswirkungen gehabt. Aber solche Dinge gehen sowieso nur die Inder etwas an, denn ansonsten ist er von allen Stars seiner Generation der vielseitigste, dem sogar das Altern gut zu tun scheint.

Zweitens zeigt die Trommel-Szene, wie sehr man sich vom reinen stumpfen Befehlsgehorsam absetzen will. Es geht um Individualität gegen stumpfe Einheit, Demokratie gegen Diktatur. Im Film ist es eine freie Entscheidung jedes einzelnen indischen Soldaten zu bleiben und zu kämpfen. Dafür sorgt Havildar Singh im geschickten Umgang mit seinen Männern, die er in kurzer Zeit von einem disziplinlosen Haufen zu einer engen Gemeinschaft geführt hat. Das geschieht auch mit ein bisschen Komödie. So lernt der Zuschauer die Männer, die bald sterben werden, etwas kennen. Die Gründe für die Aufopferung sind sowohl praktisch-miliärischer Natur als auch persönlicher. Ein britischer Offizier hatte die indischen Soldaten als feige bezeichnet. Und im Hintergrund lebt die Hoffnung auf Befreiung von Fremdherrschaft. Es gab übrigens letztes Jahr schon einen Film über Sikh-Soldaten in der britischen Armee. In dem regionalen Punjab-Film SAJJAN SINGH RANGROOT (2018) kämpfen sie während des ersten Weltkrieges in Europa auf Seiten der Briten gegen Deutschland. Auch hier wird das Kriegführen für den Kolonisator mit dem Kampf um eigenes Selbstbewusstsein, um staatliche Unabhängigkeit verbunden.

Dass der Film so ein Erfolg ist, liegt vor allem an Akshay Kumars subtiler darstellerischer Energieleistung, der nicht nur den wild und leidenschaftlich kämpfenden Helden spielt. Er ist auch ein unangepasster, stolzer Mann, der Probleme mit Vorgesetzten und Befehlen hat, die ihm falsch erscheinen. Aber vermutlich trifft KESARI auch einen gewissen Nerv. Denn gerade in historischen Filmen dieser Art ist die Vergangenheit immer auch die Gegenwart. Und wenn die Bedrohung aus dem Westen und Nordwesten kommt, wenn moslemische Krieger mit dem Dschihad angestachelt werden, dann denkt man natürlich an Indiens Konflikt mit Pakistan, das Terroristen Unterkunft gewährt und sie unterstützt. Gleichzeitig muss das friedliche Zusammenleben im eigenen Land gefördert werden. Und so bauen die Sikh-Soldaten im nahe gelegenen Dorf eine Moschee. Der Film ist direkt mathematisch präzise darin, die Dinge im Gleichgewicht zu halten, keine gefährlichen Emotionen zu schüren. Der größte Feind sind der Hassprediger und sein militärischer Verbündeter, hinterhältige und bösartige Ausgeburten aus der Hölle. Aber auch hier schafft man ein Gegengewicht mit einem anderen afghanischen Heerführer, der sich beklagt, dass Gott als Waffe benutzt wird und der dafür sorgt, dass die Turbane der toten Sikh-Soldaten unberührt bleiben. Natürlich geht so eine penible Ausgewogenheit auf Kosten eines natürlichen Fließens der Handlung, die etwas vorhersehbar wirkt. Man spürt dann einfach die bewusste Konstruktion.

Durch viele kleine Details verstärkt KESARI diesen modernen Eindruck. Da ist ein dunkel gekleideter afghanischer Scharfschütze, wie importiert aus Clint Eastwoods AMERICAN SNIPER (2014), übrigens sehr feminin wirkend. Was immer Produzent Karan Johar uns damit sagen will … Havildar Singh baut während der Schlacht mal eben ein Zielfernrohr an sein Gewehr. Und wenn ein Soldat zwei Gewehre gleichzeitig abschießt, steht er da in Rambo-Pose. Fehlen nur noch die MGs. Und dann werden auch noch zwei Afghanen, die heimlich Sprengstoff an der Außenmauer der Festung zünden wollten, bombenbeladen in die eigenen Reihen zurückgeschickt, wo sie als echte Selbstmordattentäter in die Luft gehen.

Alls dies geschieht eingebettet in epische Bilder von der Weite der Grenzregion mit Sand und Stein und Bergen. Die Schlachtszenen stimmen im Kern vollständig mit den historischen Berichten überein und sind gewaltig, teilweise überwältigend wild anzuschauen. Sie sind dabei zwangsläufig sehr gewalttätig, auch wenn in einer Dharma-Produktion selbst der Krieg noch schön anzugucken ist. Und natürlich wirkt alles überlebensgroß. Havildar Singh hat in Akshay Kumars Darstellung etwas von einem Superhelden, der auch gleich am Anfang des Films eine junge Frau aus den Klauen des Hasspredigers rettet. Alles ist schön und spannend anzugucken, kurzweilig, aber schließlich fehlen die letzten Emotionen. Es bleibt eine gewisse Distanz, die am Ende keine echte unsentimentale, feierliche Tragik in diesem „Ruhm in der Niederlage“ erlaubt. Vielleicht sind die Helden doch ein bisschen zu perfekt. Ich habe irgendwo gelesen, dass dieser Havildar Singh illegalen Alkohol hergestellt hat. Das macht ihn mir persönlich natürlich zwar noch sympathischer. Aber das hätte vielleicht am Lack des reinen indischen Helden gekratzt. Übrigens ist das wenig abwechslungsreiche monochrome Ocker des ganzen Films auf Dauer etwas penetrant. Da hat man es sich mit dem Licht und der Farbgebung doch ein bisschen leicht gemacht. Es gibt zu demselben Thema die Netflix-Serie 21 SARFAROSH SARAGARHI 1897 (2018), zu der ich leider nichts sagen kann, aber der Trailer macht den Eindruck einer ruhigen und realistischen Wiedergabe und Interpretation der Ereignisse.
 Saragarhi Memorial Ferozepur (Author: RameshSharma1)

Samstag, 23. März 2019

TEZAAB – Straßen in Flammen

TEZAAB (1988) ist der Film, der aus Madhuri Dixit einen Star machte, was sie der Initiative von Filmpartner Anil Kapoor zu verdanken hatte, da statt weiblicher Hauptrolle Mohini erst nur die Schwesternrolle für sie vorgesehen war. Und so gehört ihre Bühnennummer zu dem Song „Ek Do Teen“ mit einfallsreichen Tanzschritten und in leuchtendem Pink zu den klassischen Musikszenen des Hindi-Kinos. TEZAAB befestigte mit der Rolle des Mahesh, der zum Gangster Munna wird, aber auch den Star-Status von Anil Kapoor, der im Jahr zuvor in MR. INDIA (1987) geglänzt hatte. Und so ist es natürlich auch der erste Film eines meiner Lieblings-Filmpaare im Hindi-Kino aus Anil Kapoor und Madhuri Dixit, die sich gerade für den Film TOTAL DHAMAAL (2019) wieder einmal zusammengefunden haben. Eine schwierige Liebesgeschichte haben die beiden auszustehen in TEZAAB, der in seiner Originallänge statt drei sagenhafte fünf Stunden gedauert haben soll. Es gibt ein langes Hin und Her. Einmal steht Mohini sogar am Swimmingpool im Badeanzug und Mahesh beachtet sie nicht. Das ist nur vorstellbar, weil es im Drehbuch steht. Eine Liebeswette erweist sich fast als desaströs. Erst ein Sprung vom Dach führt alles zu einem, allerdings nur vorläufigen, einträchtigen Zusammensein.

Bei TEZAAB handelt es sich um ein inoffizielles und sehr freies Remake von Walter Hills Film STRASSEN IN FLAMMEN (1984), der ja eine ganz einfache Handlung hat. Motorrad-Rocker entführen Diane Lane als Starsängerin Ellen Aim von der Bühne weg und nehmen sie in ihr Gossenviertel mit. Michael Paré als Ellens Ex-Freund, mit dem es nicht klappte, weil ihr die Karriere wichtiger war, macht sich für Geld auf ins Outlaw-Zentrum. Bei der Befreiung wird viel Maschinenschaden angerichtet. Nachhausekommen wird noch einmal schwierig. Am Ende gibt es einen Vorschlaghammerkampf zwischen Ex-Freund und Outlaw-Chef. STRASSEN IN FLAMMEN spielt irgendwann, irgendwo und ist ein Neon-Western mit 50s-Rock'n'Roll. Retter ist der einsame Wolf, der Lone Rider, dessen Vergangenheit im Dunkeln liegt. Vermutlich war er mal bei der Armee.

TEZAAB übernimmt das Prinzip von Hills Film, das ja sehr einfach ist. Allerdings gibt es hier keine Soldatin, die an Anil Kapoors Seite kämpft. Auch kommt kein Manager mit. Begleitet wird Mahesh von seiner Gang. Dazwischen gibt es sehr lange Rückblenden, die damit fast den Hauptteil des Filmes ausmachen. Das, was in STRASSEN IN FLAMMEN geheimnisvoll bleibt, wird hier ausführlich erzählt und begründet. Wie wurde Mahesh zum Gangster Munna, wieso ist er aus seiner Heimatstadt verbannt, was verband Mohini und Mahesh, was trennte sie? Einige Details wurden aus dem Original übernommen, vor allem die Entführung am Anfang, die Konzertszene, wo die Gangster sich langsam nach vorne schieben und dann alles in einer Schlägerei endet. Da ähneln sich sogar die Einstellungen. Nach der wildesten Actionszene in Zusammenhang mit der Befreiung gibt es im leicht beschädigten Wagen das entspannte Nachtlied „So Gaya Yeh Jahan“. In STRASSEN IN FLAMMEN ist dieser Verschnaufer von der ganzen Aufregung eine Szene im Bus. Und das Liebespaar kommt im strömenden Regen wieder zusammen. Allerdings lässt TEZAAB die Liebesnacht weg. Es gibt sogar ebenfalls einen Kampf mit Vorschlaghämmern, den aber hier nicht Held und Bösewicht ausfechten. Besondere Pointe im Hindi-Film ist, dass die Gegner sich mit jeweils einem heftigen Schlag gegenseitig tot hauen.

Regisseur N. Chandra war damals, Ende der 80er, an der zeitlichen Schwelle zum neokonservativen global werdenden Bollywood-Kino, ein Vertreter von rauem Realismus im Stile des 70er-Kinos mit seinem „angry young man“. TEZAAB gilt als dritter Film einer Trilogie, deren andere Teile das Regiedebüt ANKUSH (1986) und der Nachfolger PRATIGHAAT (1987) sind. In TEZAAB geht es um die Rückholung in die Gesellschaft von jungen Männern, die irgendwie herausgerutscht sind. Auch wenn sie gesetzlos sind, handeln sie nach einem gewissen Ehrenkodex. Action im Hindi-Film hat ja manchmal etwas absichtlich Irreales, Fantastisches. Bei Chandra aber ist alles sehr echt und realistisch. Die Gewalt wird nicht künstlich in die Länge gezogen, sondern ist kurz, präzise und vom Regisseur selbst geschnitten. Der scheint westliche Filme der 80er sowieso sehr sorgfältig geguckt zu haben. Bei einer Schießerei vor einer Bank, die gerade ausgeraubt wird, entgleitet einer Mutter der Kinderwagen und rollt die Treppe vor dem Gebäude herunter. Nun hat Chandra sich vermutlich nicht bei Eisensteins Stummfilmklassiker PANZERKREUZER POTEMKIN bedient, sondern bei Brian de Palmas DIE UNBESTECHLICHEN (1987), wo Ähnliches bei einer Schießerei im Chicagoer Bahnhof geschieht.

Zwei gleichwertige Bösewichte hat TEZAAB. Kiran Kumar hat die Rolle von Willem Dafoe aus STRASSEN IN FLAMMEN und macht ihm mit seinem stierenden Blick echte Konkurrenz. Damit das Publikum diesen wirklich genießen kann, darf er ihn auch mal direkt in die Kamera richten und für eine eindringliche Großaufnahme darauf zugehen. Und dann ist da Anupam Kher als widerlicher, die Tochter ausbeutender und folternder Vater. Wenn sie nicht spurt und nicht auftritt, um für seine Ausschweifungen das Geld heranzuschaffen, dann peitscht er sie durch. Und wenn das nicht klappt, droht er mit Säure, also „Tezaab“. Davor hat Mohini begründete Angst, denn damit wurde das Gesicht der Mutter verätzt, als diese weggehen wollte. Für den Titel des Films gibt es einen zweiten Grund. Bei einer korrupten Gerichtsverhandlung wirft der schreiende Staatsanwalt Mahesh vor, die „Säure“ der Gesellschaft zu sein, weshalb er weggesperrt gehöre. Vertrauen in die Rechtsordnung schafft der Film nicht, auch wenn sich schließlich alles zum Guten wendet.

Montag, 18. März 2019

Sujoy Ghoshs BADLA – Wahrheit und Lüge

Amitabh Bachchan, dessen kraftvoller Rap-Gesang im Lied „Aukaat“ soeben den Vorspann von Sujoy Ghoshs BADLA (2019) unterlegt hat, geht im Anzug durch London, betritt ein Haus und darin den Fahrstuhl. In einem oberen Stockwerk klingelt er an einer Wohnungstür, die von Taapsee Pannu geöffnet wird. Die Situation ist schnell geklärt. Er ist der Anwalt Badal Gupta, der noch nie einen Fall verloren hat, und sie die Mordverdächtige Naina Sethi, eine erfolgreiche Geschäftsfrau mit Mann, Kind und Geliebtem, der umgebracht wurde. Und sie steht unter akutem Tatverdacht. Alles kommt langsam in Gang. Der Zuschauer begreift allmählich, worum es geht. In dieser ruhigen Atmosphäre folgen die ersten Rückblenden. Durch die Fragen des Anwalts entwickelt sich das Gespräch nach und nach zu einem Katz- und Maus-Spiel. Die überraschenden Wendungen schlagen im Verlauf des Films in immer größerer Häufigkeit ein, sodass man gegen Ende eine Zeitlang nichts mehr auseinander halten kann und alles anders ist als erwartet.

Grundlage ist ein mathematisch ausgeklügeltes Drehbuch, das mit den Erwartungen spielt, indem es Standards des Krimis und des Thrillers benutzt, die der allgemeine Zuschauer verinnerlicht hat, ohne dass man die genaue Quelle dafür kennen muss. BADLA ist ein klassischer Verhörkrimi, denn auch wenn es sich hier um Anwalt und Mandantin handelt, so ist die Gesprächssituation des Films eher die eines Kreuzverhörs. Da kann man an den ausgezeichneten, Maßstäbe setzenden französischen Film DAS VERHÖR (1982) denken. Und wenn ein Auto ganz langsam im Sumpf versinkt, dann wartet der eine oder andere sicher auf einen kurzen unbeweglichen Augenblick, eben weil es in Hitchcocks PSYCHO (1960) so passiert. Oder es gibt das Geheimnis des Mordes im von innen verschlossenen Zimmer, das scheinbar rein deduktiv, also durch Schlussfolgerungen aus den vorliegenden Tatsachen heraus, gelöst wird. Edgar Allan Poe setzte da mit seiner Geschichte „Der Doppelmord in der Rue Morgue“ (1841) einen hohen Maßstab. Doch keine Lösung in dem Film hat lange Bestand. Und aktiv mitdenken kann man als Zuschauer sowieso nicht. Man schaut und hört zu, während die Worte und besonders die Bilder des Films in ihren Rückblenden mehr als eine Lüge, Ungenauigkeit, Fälschung verbergen. Das, was die Zuschauer Alfred Hitchcock in seinem Misserfolg DIE ROTE LOLA (1949) nicht verzeihen konnten, das heißt, eine Rückblende unterzubringen, die sich als Lüge erweist, wird bei BADLA zum Konzept. Und so gibt es manche Szenen in verschiedenen Variationen, die erzählen, wie es gewesen sein könnte. BADLA ist ein spannendes und vergnügliches Rollenspiel, das beim zweiten Gucken natürlich viel von seiner auf Überraschung beruhenden Wirkung verliert.

BADLA, was „Rache“ heißt, ist ein Remake des spanischen Films DER UNSICHTBARE GAST (2017) von Oriol Paulo und hat den Kern des Drehbuchs ohne Änderungen übernommen. Auch manche Sequenzen sind absolut identisch. Aber wie sollte das anders sein bei einer Story, wo jedes Einzelteil vom anderen abhängt. Nähme man eines heraus, würde alles zusammenbrechen. Es kann hierbei nur darum gehen, dass Drehbuch funktional zu verfilmen, damit alles wie ein Uhrwerk ablaufen kann. Auch die Schauspieler, allen voran die beiden Hauptdarsteller, fügen sich diszipliniert in dieses Konzept ein. Dass BADLA dann doch mehr als eine bloße Kopie des Originals ist, liegt an zwei entscheidenden Unterschieden im großen Ganzen. Erstens wurde die Besetzung sozusagen umgepolt. Aus einer Anwältin und einem Klienten wurden ein Anwalt und eine Klientin. Durch Bachchan und Pannu kommen Erinnerungen an den erfolgreichen Gerichtsfilm PINK (2016) von Aniruddha Roy Chowdhury auf, was die Sichtweise des Zschauers unbewusst durchaus beeinflussen kann. Da spielte Amitabh Bachchan den Anwalt für Taapsee Pannu und ihre beiden Freundinnen, die alle drei vergewaltigt wurden. Recht und Unrecht waren da sehr klar verteilt. Zweitens hat BADLA eine völlig andere Atmosphäre. Ist DER UNSICHBARE GAST extra düster mit vielen Szenen am Abend und in der Nacht, dunklen Innenräumen und ausgewaschenen Farben, ist BADLA weitaus heller und klarer und die Bäume etwas grüner. Dadurch steht noch mehr der Dialog im Mittelpunkt, die klare Logik des Verbrechens und des Gesprächs, in dem der Anwalt immer wieder durch Verweise auf die Mahabharata theoretisiert, was in indischen Filmen zwar Standard ist, aber wofür Ghosh eine besondere philosophische Vorliebe hat, beispielsweise: "Es ist nicht immer richtig, Rache zu nehmen, aber es ist ebenso falsch, jedes Mal zu verzeihen." Aus diesem Schlüsselsatz des Films, erster Satz des offiziellen Trailers, hat Amitabh Bachchan sogar ein kleines Musikstück gemacht, was im ersten von drei originellen „Unplugged“-Promovideos ein paar Tage vor der Kinopremiere von BADLA vorgestellt wurde. In diesen Videos unterhält sich Shah Rukh Khan als Produzent des Films mit dem, wie er ihn nennt, „weltbesten Schauspieler“.

Dienstag, 12. März 2019

Sujoy Ghoshs KAHAANI 2 – Vidya Balan kämpft

Alles beginnt in KAHAANI 2: DURGA RANI SINGH (2016) ganz harmonisch mit Vidya Balan als alleinerziehende Mutter Durga Rani Singh und deren im Rollstuhl sitzender Tochter. Beide bereiten sich auf eine Reise in die USA zwecks einer vielleicht helfenden Operation vor. Man lebt in einer einfachen Gegend in der Kleinstadt Chandan Nagar in Westbengalen, wo die Leute um neun Uhr ins Bett gehen, wie die Ehefrau eines in die Provinz degradierten Polizisten mault. Aber hier kann man sich auch gut vor der Vergangenheit verstecken, und warum diese doch so vorbildliche Mutter das nötig hat und wie sie aus ihrer Notsituation wieder herauskommt, darum geht es in den folgenden zwei Stunden. In nur zwei Stunden, sollte man betonen, denn es geschieht sehr viel in diese kurzen Zeit. Es gibt auch einen ständigen Wechsel zwischen Gegenwart und Vergangenheit in Form einer Rückblende, denn Durgas geheimes Tagebuch wird von dem erwähnten Polizisten gelesen, den Arjun Rampal ganz solide spielt und der sich dann auch noch als Ex-Mann aus alten Zeiten herausstellt. Wie gesagt, ganz schön viel auf einmal. Das Gute ist, dass auf die Art ständig etwas Neues passiert. Kurzweilig ist das Ganze. Das Problem ist bloß , dass es manchmal fast zu schnell passiert, sodass man zwischendurch doch mal mit ins Nachdenken gerät, obwohl es dann immer irgendwie passt. Es ist vor allem die Atmosphäre des Films und seiner Schauplätze, durch die er überzeugt. Wenn beispielsweise eine eigentlich klischeehafte Szene durch ein bisschen Origami plötzlich Spannung und etwas Unheimliches und direkt Anzügliches bekommt.

Es hat ein bisschen gedauert, bis Regisseur Sujoy Ghosh, der auch als Schauspieler gearbeitet hat, solch eine Atmosphäre erzeugen konnte und seinen Weg gefunden hat. Sein Regiedebüt hatte er mit JHANKAAR BEATS (2003), einem unterhaltsamem Musikfilm. Aber dann kamen zwei Fehlschläge, bei denen man gleichzeitig den Willen spürte, etwas Besonderes zu schaffen, was aber nur in Verkrampfung endete. HOME DELIVERY: AAPKO... GHAR TAK (2005) sollte ursprünglich wohl lustig mit Botschaft sein. In ALADIN (2009) beschränkt sich das Fantastische auf die Tricks. Beide Filme waren sehr bemüht, funktionierten aber gar nicht. Dann schlug Ghosh eine neue Richtung mit dem Thriller KAHAANI (2012) ein, der gleichzeitig Vidya Balan eine ihrer schönsten Rollen verschaffte. Und er begann, kürzere Filme zu drehen, wo man auch mal etwas anderes ausprobieren kann. Zunächst AHALYA (2015) mit Radhika Apte und Soumitra Chatterjee als Ehepaar mit sehr, sehr großem Altersunterschied, in dessen Haus die Männer, die der weiblichen Verführung der Hausfrau erliegen, in Puppen verwandelt werden. Inspiriert von der Geschichte um Ahalya und Gott Indra hatte der Film auch einiges an Inspiration von einer der Geschichten Satyajit Rays um den Forscher Professor Shonku. Eine direkte Adaption einer Kurzgeschichte Satyajit Rays wurde dann ANUKUL (2017) über einen älteren Hindi-Lehrer, der sich einen intelligenten und dazulernenden Roboter anschafft. Diese beiden Filme sind frei im Netz. Was ich bisher nicht geschafft habe zu sehen, sind drei Filme von etwa 45 Minuten, die 2018 beim indischen Sender StarPlus ausgestrahlt wurden: GOOD LUCK, MIRCHI MALINI und COPY.

Und mit KAHAANI 2 hat Ghosh jetzt ein echtes Franchise, nur dass im zweiten Teil Vidya Balan eine ganz andere Frau spielt. Was ich ein bisschen schade finde. Da „Kahaani“ „Geschichte“ bedeutet, heißt Fortsetzung also nicht, dass die Geschichte weitergeht, sondern dass es eine weitere Geschichte in demselben Stil, nach demselben Prinzip gibt. Der erste Teil lebt vor allem von der Atmosphäre in den Straßen Kalkuttas, der Durga-Puja-Feierlichkeiten. Der jetzige Film ist intimer, ohne Massenszenen. Und da es hier keine Durga Puja gibt, hat man die Hauptfigur einfach Durga genannt, sodass zumindest diese Anspielung auf die Dämonentöterin da ist. Herz des Films ist natürlich wieder Vidya Balan, die zurückhaltend eine Sekretärin an einer Schule spielt. Dort ist ein auffälliges kleines Mädchen, das immer im Unterricht einschläft und auch mal blaue Flecken hat. Das erinnert Durga an ihre eigene Vergangenheit. Sie beschließt, dem Mädchen zu helfen. Wenn im Vorspann auch Medizinern gedankt wird, dann bezieht sich dies vermutlich auf eine korrekte Darstellung von Kindesmissbrauch und ihren Folgen. Einmal das Verhalten des 6-jährigen Opfers, das der erwachsenen Durga mit ihren dunklen Erinnerungen, aber auch das des Täters und der ihn bis zum Mord beschützende Mutter, die bereit ist für ihren Monstersprössling die Enkelin zu opfern. Im Großen und Ganzen ist es eine Mischung aus realistisch Ernsthaftem und Thrillerklischees, wenn etwa plötzlich auch noch eine Profikillerin auftaucht. Aber da es nicht langweilig wird und Vidya Balan vor allem im Rückblendenteil, wo die Hauptfigur voller Unsicherheit ist und sich nur langsam vortastet in ihren Handlungen, ganz wunderbar ist, funktioniert es im Endeffekt, auch wenn das Finale wie eine Pflichtübung mit ein paar Überraschungen, die eigentlich gar keine sind, abgearbeitet wird. Die Seele des Films liegt in der Beziehung aus Wahlmutter und Wahltochter.

Dienstag, 5. März 2019

Gelesen: Filmfare March 2019

Auf dem Cover der März-Ausgabe von Filmfare ist Sara Ali Khan, Tochter von Saif Ali Khan und Amrita Singh, Stieftochter von Kareena Kapoor Khan und Enkelin von Sharmila Tagore, der mehrfachen Satyajit-Ray-Darstellerin, die sogar Filmintellektuelle mit Bollywood-Ignoranz kennen. "A Sar is born" wird verkündet. Und Chefredakteur Jitesh Pillai schreibt ein lobpreisendes Editorial auf eine junge Dame, die er als sich in der Filmwelt bewegender Journalist hat groß werden sehen. Man kennt sich, man mag sich, man fördert sich. Da kann man natürlich, ganz im Sinne der schimpfenden Kangana Ranaut, sagen, dass Sara es ohne Nepotismus nicht so leicht gehabt hätte. Und das gibt sie auch unverblümt zu. Nepotismus ist Vetternwirtschaft, und die bleibt eben nicht aus, wenn alle miteinander bekannt, verwandt und verschwägert sind. Aber jedenfalls funktioniert es inzwischen auf die einzige Art, auf die Nepotismus existieren sollte: ganz öffentlich und ungeniert. Keiner spielt mehr ahnungslos. Ich kann mich an das eine oder andere Interview erinnern, wo man noch ganz unschuldig so getan hat, als wüsste man nicht, wovon die Rede ist, vermutlich mit großen, erstaunten Augen. Vielleicht auch mit ein Erfolg von Kangana. Jedenfalls wird Sara Ali Khan auf dem Cover zum neugeborenen Star erklärt. So was macht man natürlich nicht bloß aus Nächstenliebe. Denn eine Zeitschrift wie Filmfare lebt vom Startum. Und man braucht immer wieder neue Sterne am Filmhimmel. Ein ganzes Heft nur mit Interviews mit Regisseuren würde vermutlich nicht auf zu großen Anklang stoßen. In dieser Ausgabe ist übrigens nicht ein einziges, was ich dann wieder sehr schade finde.

Aber natürlich ist Sara Ali Khan noch kein Star, wie das Titelblatt behauptet. Selbst sagt sie etwas Schönes über das Starsein von heute, denn man könnte sie auf Instagram bei allen möglichen Dingen sehen und dabei auf dem Klo sitzen: „Wo ist das Startum?“ Einerseits stimmt das. Alles ist öffentlich. Ohne Unterschiede. Das Geheimnis existiert nicht mehr. Andererseits hat man auch früher schon Zeitungen und Zeitschriften auf dem Klo gelesen. Jedenfalls handelt es sich bei ihr also um eine offensichtlich intelligente junge Frau, die bisher in zwei Filmen in Erscheinung getreten ist: KEDARNATH (2018) mit Sushant Singh Rajput und SIMMBA (2019) mit Ranveer Singh, wo sie mehr oder weniger bloß anwesend ist. Ersteren kenne ich nicht. Also lasse ich jeden Kommentar zu ihrem Talent, das sie aber nach allgemeiner Aussage in KEDARNATH zeigt. Angefangen hat sie als Einserstudentin mit einem Abschluss an der Columbia University. Dann veränderte sie sich von der gut genährten Intellektuellen (96 kg) in eine Schauspielerin mit viel Ehrgeiz (55 kg). Und sie gibt einen guten Haarpflegetip: Zwiebeln. Dass sie auf dieses Pflegemittel beim Dreh ihrer beiden Filme nicht verzichtet hat, sehr zum Leidwesen ihrer beiden Filmpartner, zeugt dann aber doch von einem gewissen angeborenen Starbewusstsein. Das nennt man dann wohl blaues Bollywood-Blut.

Das Schönste an diesem Heft sind aber drei Interviews über langlebige und immer noch aktive Karrieren, darunter meine Lieblingsrubrik Nostalgie, diesmal mit Shubha Khote, die schon in den 50ern drehte, darunter auch PAYING GUEST (1957) mit Nutan und Dev Anand. Doch das war noch eine ernste Rolle. Es zog sie langfristig zur Komödie. PAYING GUEST hat sie erst spät im Alter geguckt, weil sie sich nicht in einer bösen Rolle sehen wollte. Sie spielt da nämlich den Vamp. Ihr Lieblingsschauspieler ist James Dean. Und sie vergöttert Dilip Kumar. Der legte einmal seine Hand auf ihren Kopf. Danach hat sie sich tagelang die Haare nicht gewaschen, sehr um Unwillen der Mutter, einer offensichtlich energischen und autoritären Frau, die später dann am liebsten die Hochzeit der Tochter verhindert hätte. Hat sie aber nicht geschafft. Dann ist der immer noch höchst erfolgreiche Anil Kapoor dabei, der jetzt in kurzem Abstand zwei Filme ins Kinos bringt, bei denen er alte Bekanntschaften erneuerte. Einmal die Vidhu-Vinod-Chopra-Produktion EK LADKI KO DEKHA TOH AISA LAGA (2019), in der er zum ersten Mal mit seiner Tochter Sonam Kapoor arbeitet. Und TOTAL DHAMAAL (2019) mit Madhuri Dixit. Beide bilden eines meiner Lieblingstraumpaare. Aber das sieht Anil Kapoor selbst auch so: „Oh Gott, unsere Chemie. Mit ihr zu arbeiten ist so besonders.“ Und schließlich ein Gespräch mit dem gerade mit dem Nationalpreis Padma Shri ausgezeichneten Manoj Bajpayee, den man hier bei uns am ehesten aus Anurag Kashyaps GANGS OF WASSEYPUR (2012) kennt. Er hat es sich in seiner Karriere nicht leicht gemacht, hat immer nur nach seinen Regeln gespielt. Da gab es natürlich auch Tiefen, die andere Schauspieler in den Selbstmord getrieben hätten, meint er. Die schönste Aussage kommt am Ende: „Ich bin extrovertiert, wenn es nötig ist. Ich bin gerne in meiner Schale.“

Klatsch und Mode bieten wieder eine bunte Mischung. Varun Dhawan plant mit Aanand L. Rai, Deepika Padukone mit Meghna Gulzar und Shah Rukh Khan dreht doch keine Astronauten-Biografie, wo doch ZERO (2018) mit seinem Space-Szenen so daneben ging. Dafür gibt es vielleicht DON 3. Das klingt solider und handfester und ambivalent. Die Modeseiten, da geht es diesmal viel um Farben. Grünes Ohrgehänge, Deepika in Schwarz und Weiß, Schauspielerinnen in Rot und dann die eine Seite zum Weglaufen: Shirts und Hemden mit alternativen Ärmeln. Als Bespiele Shraddha Kapoor und Katrina Kaif. Ich möchte weggucken, starre aber verstört hin. Es fällt also auf und man guckt hin. Ziel erreicht. Außerdem gibt es im Heft eine Fotostrecke mit Vicky Kaushal, der gerade einen großen Erfolg mit URI: THE SURGICAL STRIKE (2019) hatte. Der Film hat noch zu zwei weiteren Interviews geführt. Eins mit Mohit Raina, der als Lord Shiva in einer TV-Serie bekannt wurde. Und eins mit Yami Gautam. Dann ist im Heft ein skurril ausgefüllter Fragebogen mit Jim Sarbh, dem schwulen Herrscherberater aus Bhansalis PADMAAVAT (2018). Außerdem Meiyang Chang, der Zahnarzt chinesischer Abstammung ist und dann Sänger wurde und jetzt auch in Bollywood tätig ist. Und schließlich ist Emraan Hashmi im Heft, der mit WHY CHEAT INDIA (2019) unter die Produzenten gegangen ist und ein Buch über die Krebserkrankung seines kleinen Sohnes geschrieben hat, der alles überstanden zu haben scheint. Erschienen ist es jetzt als Taschenbuch und heißt: „Kiss of Life: How a Superhero and My Son defeated Cancer“. Es ist auch hier erhältlich und kostet momentan etwa 15€.