Amitabh Bachchan, dessen
kraftvoller Rap-Gesang im Lied „Aukaat“ soeben den Vorspann von
Sujoy Ghoshs BADLA (2019) unterlegt hat, geht im Anzug durch London,
betritt ein Haus und darin den Fahrstuhl. In einem oberen Stockwerk
klingelt er an einer Wohnungstür, die von Taapsee Pannu geöffnet
wird. Die Situation ist schnell geklärt. Er ist der Anwalt Badal
Gupta, der noch nie einen Fall verloren hat, und sie die
Mordverdächtige Naina Sethi, eine erfolgreiche Geschäftsfrau mit Mann, Kind und
Geliebtem, der umgebracht wurde. Und sie steht unter akutem
Tatverdacht. Alles kommt langsam in Gang. Der Zuschauer begreift
allmählich, worum es geht. In dieser ruhigen Atmosphäre folgen die
ersten Rückblenden. Durch die Fragen des Anwalts entwickelt sich das
Gespräch nach und nach zu einem Katz- und Maus-Spiel. Die
überraschenden Wendungen schlagen im Verlauf des Films in immer
größerer Häufigkeit ein, sodass man gegen Ende eine Zeitlang
nichts mehr auseinander halten kann und alles anders ist als
erwartet.
Grundlage ist ein
mathematisch ausgeklügeltes Drehbuch, das mit den Erwartungen
spielt, indem es Standards des Krimis und des Thrillers benutzt, die
der allgemeine Zuschauer verinnerlicht hat, ohne dass man die genaue
Quelle dafür kennen muss. BADLA ist ein klassischer Verhörkrimi,
denn auch wenn es sich hier um Anwalt und Mandantin handelt, so ist
die Gesprächssituation des Films eher die eines Kreuzverhörs. Da
kann man an den ausgezeichneten, Maßstäbe setzenden französischen Film DAS VERHÖR (1982) denken. Und wenn ein Auto ganz langsam
im Sumpf versinkt, dann wartet der eine oder andere sicher auf einen
kurzen unbeweglichen Augenblick, eben weil es in Hitchcocks PSYCHO
(1960) so passiert. Oder es gibt das Geheimnis des Mordes im von
innen verschlossenen Zimmer, das scheinbar rein deduktiv, also durch
Schlussfolgerungen aus den vorliegenden Tatsachen heraus, gelöst
wird. Edgar Allan Poe setzte da mit seiner Geschichte „Der
Doppelmord in der Rue Morgue“ (1841) einen hohen Maßstab. Doch
keine Lösung in dem Film hat lange Bestand. Und aktiv mitdenken kann man
als Zuschauer sowieso nicht. Man schaut und hört zu, während die
Worte und besonders die Bilder des Films in ihren Rückblenden mehr
als eine Lüge, Ungenauigkeit, Fälschung verbergen. Das, was die
Zuschauer Alfred Hitchcock in seinem Misserfolg DIE ROTE LOLA (1949)
nicht verzeihen konnten, das heißt, eine Rückblende unterzubringen,
die sich als Lüge erweist, wird bei BADLA zum Konzept. Und so gibt
es manche Szenen in verschiedenen Variationen, die erzählen, wie es
gewesen sein könnte. BADLA ist ein spannendes und vergnügliches
Rollenspiel, das beim zweiten Gucken natürlich viel von seiner auf
Überraschung beruhenden Wirkung verliert.
BADLA, was „Rache“
heißt, ist ein Remake des spanischen Films DER UNSICHTBARE GAST
(2017) von Oriol Paulo und hat den Kern des Drehbuchs ohne Änderungen
übernommen. Auch manche Sequenzen sind absolut identisch. Aber wie
sollte das anders sein bei einer Story, wo jedes Einzelteil vom
anderen abhängt. Nähme man eines heraus, würde alles
zusammenbrechen. Es kann hierbei nur darum gehen, dass Drehbuch
funktional zu verfilmen, damit alles wie ein Uhrwerk ablaufen kann.
Auch die Schauspieler, allen voran die beiden Hauptdarsteller, fügen
sich diszipliniert in dieses Konzept ein. Dass BADLA dann doch mehr
als eine bloße Kopie des Originals ist, liegt an zwei entscheidenden
Unterschieden im großen Ganzen. Erstens wurde die Besetzung
sozusagen umgepolt. Aus einer Anwältin und einem Klienten wurden ein
Anwalt und eine Klientin. Durch Bachchan und Pannu kommen Erinnerungen an den erfolgreichen Gerichtsfilm
PINK (2016) von Aniruddha Roy Chowdhury auf, was die Sichtweise des Zschauers unbewusst durchaus beeinflussen kann. Da spielte Amitabh Bachchan
den Anwalt für Taapsee Pannu und ihre beiden Freundinnen, die
alle drei vergewaltigt wurden. Recht und Unrecht waren da sehr klar verteilt. Zweitens hat BADLA eine völlig andere
Atmosphäre. Ist DER UNSICHBARE GAST extra düster mit vielen Szenen am
Abend und in der Nacht, dunklen Innenräumen und ausgewaschenen
Farben, ist BADLA weitaus heller und klarer und die Bäume etwas grüner. Dadurch steht noch mehr der
Dialog im Mittelpunkt, die klare Logik des Verbrechens und des
Gesprächs, in dem der Anwalt immer wieder durch Verweise auf die Mahabharata
theoretisiert, was in indischen Filmen zwar Standard ist, aber
wofür Ghosh eine besondere philosophische Vorliebe hat, beispielsweise: "Es ist nicht immer richtig, Rache zu nehmen, aber es ist ebenso falsch, jedes Mal zu verzeihen." Aus diesem Schlüsselsatz des Films, erster Satz des offiziellen Trailers, hat Amitabh Bachchan sogar ein kleines
Musikstück gemacht, was im ersten von drei originellen
„Unplugged“-Promovideos ein paar Tage vor der Kinopremiere von
BADLA vorgestellt wurde. In diesen Videos unterhält sich Shah Rukh
Khan als Produzent des Films mit dem, wie er ihn nennt, „weltbesten
Schauspieler“.