Alles beginnt in KAHAANI
2: DURGA RANI SINGH (2016) ganz harmonisch mit Vidya Balan als
alleinerziehende Mutter Durga Rani Singh und deren im Rollstuhl
sitzender Tochter. Beide bereiten sich auf eine Reise in die USA
zwecks einer vielleicht helfenden Operation vor. Man lebt in einer
einfachen Gegend in der Kleinstadt Chandan Nagar in Westbengalen, wo
die Leute um neun Uhr ins Bett gehen, wie die Ehefrau eines in die
Provinz degradierten Polizisten mault. Aber hier kann man sich auch
gut vor der Vergangenheit verstecken, und warum diese doch so
vorbildliche Mutter das nötig hat und wie sie aus ihrer Notsituation
wieder herauskommt, darum geht es in den folgenden zwei Stunden. In
nur zwei Stunden, sollte man betonen, denn es geschieht sehr viel in
diese kurzen Zeit. Es gibt auch einen ständigen Wechsel zwischen
Gegenwart und Vergangenheit in Form einer Rückblende, denn Durgas
geheimes Tagebuch wird von dem erwähnten Polizisten gelesen, den
Arjun Rampal ganz solide spielt und der sich dann auch noch als
Ex-Mann aus alten Zeiten herausstellt. Wie gesagt, ganz schön viel
auf einmal. Das Gute ist, dass auf die Art ständig etwas Neues
passiert. Kurzweilig ist das Ganze. Das Problem ist bloß , dass es
manchmal fast zu schnell passiert, sodass man zwischendurch doch mal
mit ins Nachdenken gerät, obwohl es dann immer irgendwie passt. Es
ist vor allem die Atmosphäre des Films und seiner Schauplätze,
durch die er überzeugt. Wenn beispielsweise eine eigentlich
klischeehafte Szene durch ein bisschen Origami plötzlich Spannung
und etwas Unheimliches und direkt Anzügliches bekommt.
Es hat ein bisschen
gedauert, bis Regisseur Sujoy Ghosh, der auch als Schauspieler
gearbeitet hat, solch eine Atmosphäre erzeugen konnte und seinen Weg
gefunden hat. Sein Regiedebüt hatte er mit JHANKAAR BEATS (2003),
einem unterhaltsamem Musikfilm. Aber dann kamen zwei Fehlschläge,
bei denen man gleichzeitig den Willen spürte, etwas Besonderes zu
schaffen, was aber nur in Verkrampfung endete. HOME DELIVERY:
AAPKO... GHAR TAK (2005) sollte ursprünglich wohl lustig mit
Botschaft sein. In ALADIN (2009) beschränkt sich das Fantastische
auf die Tricks. Beide Filme waren sehr bemüht, funktionierten aber
gar nicht. Dann schlug Ghosh eine neue Richtung mit dem Thriller
KAHAANI (2012) ein, der gleichzeitig Vidya Balan eine ihrer schönsten
Rollen verschaffte. Und er begann, kürzere Filme zu drehen, wo man
auch mal etwas anderes ausprobieren kann. Zunächst AHALYA (2015) mit
Radhika Apte und Soumitra Chatterjee als Ehepaar mit sehr, sehr
großem Altersunterschied, in dessen Haus die Männer, die der
weiblichen Verführung der Hausfrau erliegen, in Puppen verwandelt
werden. Inspiriert von der Geschichte um Ahalya und Gott Indra hatte
der Film auch einiges an Inspiration von einer der Geschichten Satyajit Rays um den Forscher Professor Shonku. Eine direkte Adaption einer Kurzgeschichte Satyajit Rays wurde dann ANUKUL (2017) über einen älteren
Hindi-Lehrer, der sich einen intelligenten und dazulernenden Roboter
anschafft. Diese beiden Filme sind frei im Netz. Was ich bisher nicht
geschafft habe zu sehen, sind drei Filme von etwa 45 Minuten, die
2018 beim indischen Sender StarPlus ausgestrahlt wurden: GOOD LUCK,
MIRCHI MALINI und COPY.
Und mit KAHAANI 2 hat
Ghosh jetzt ein echtes Franchise, nur dass im zweiten Teil Vidya
Balan eine ganz andere Frau spielt. Was ich ein bisschen schade
finde. Da „Kahaani“ „Geschichte“ bedeutet, heißt Fortsetzung
also nicht, dass die Geschichte weitergeht, sondern dass es eine
weitere Geschichte in demselben Stil, nach demselben Prinzip gibt.
Der erste Teil lebt vor allem von der Atmosphäre in den Straßen
Kalkuttas, der Durga-Puja-Feierlichkeiten. Der jetzige Film ist
intimer, ohne Massenszenen. Und da es hier keine Durga Puja gibt, hat
man die Hauptfigur einfach Durga genannt, sodass zumindest diese
Anspielung auf die Dämonentöterin da ist. Herz des Films ist
natürlich wieder Vidya Balan, die zurückhaltend eine Sekretärin an
einer Schule spielt. Dort ist ein auffälliges kleines Mädchen, das
immer im Unterricht einschläft und auch mal blaue Flecken hat. Das
erinnert Durga an ihre eigene Vergangenheit. Sie beschließt, dem
Mädchen zu helfen. Wenn im Vorspann auch Medizinern gedankt wird,
dann bezieht sich dies vermutlich auf eine korrekte Darstellung von
Kindesmissbrauch und ihren Folgen. Einmal das Verhalten des
6-jährigen Opfers, das der erwachsenen Durga mit ihren dunklen
Erinnerungen, aber auch das des Täters und der ihn bis zum Mord
beschützende Mutter, die bereit ist für ihren Monstersprössling
die Enkelin zu opfern. Im Großen und Ganzen ist es eine Mischung aus
realistisch Ernsthaftem und Thrillerklischees, wenn etwa plötzlich
auch noch eine Profikillerin auftaucht. Aber da es nicht langweilig
wird und Vidya Balan vor allem im Rückblendenteil, wo die Hauptfigur
voller Unsicherheit ist und sich nur langsam vortastet in ihren
Handlungen, ganz wunderbar ist, funktioniert es im Endeffekt, auch
wenn das Finale wie eine Pflichtübung mit ein paar Überraschungen,
die eigentlich gar keine sind, abgearbeitet wird. Die Seele des
Films liegt in der Beziehung aus Wahlmutter und Wahltochter.