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Donnerstag, 25. März 2021

Roberto Rossellinis INDIEN, MUTTER ERDE – Ursprünglichkeit und Entwicklung

 

Mitte der 1950er steckte der italienische Regisseur Roberto Rossellini in einer beruflichen und persönlichen Krise. Die Ehe mit Ingrid Bergman ging langsam dem Ende entgegen. Und auch sein letzter Spielfilm ANGST (1954), eine Stefan-Zweig-Verfilmung mit seiner Frau, hatte, trotz aller Qualitäten, nicht die Kraft der drei spirituellen Meisterwerke STROMBOLI (1949), EUROPA '51 (1952) und REISE IN ITALIEN (1953). Als er 1956 für ein Judas-Theaterstück in Paris engagiert wurde, wurde er bald wieder gefeuert. Man bot ihm Robert Andersons Drama „Tea and Sympathy“ an, aber das fand er unerträglich. Also inszenierte jemand anders Ingrid Bergman in der Hauptrolle. Dass das Ganze ein Riesenerfolg wurde, machte ihn erst recht wütend. Die Möglichkeit einer Rückkehr zu den Wurzeln im fernen und schon länger ersehnten Indien kam ihm gerade recht.

Das Angebot eines indischen Film im neorealistischen Sinne hatte es schon in den 40ern nach seinem Meisterwerk PAISÀ (1946) gegeben, aber es war nie dazu gekommen. Jean Renoirs DER FLUSS (1946) hatte damals sein Interesse an Indien geweckt. Es war auch Renoir, der ihm den Kontakt zu dem Dokumentarfilmregisseur Harisadhan das Gupta vermittelte. Geld gab es von verschiedenen öffentlichen Stellen. Eigentlich war ein Film mit jeweils einer Episode über die neun Regionen Indiens geplant. Daraus wurde nichts, denn wieder einmal in seinem Leben übermannten Rossellini tiefe Gefühle, und er kehrte 1957 nicht nur mit Filmmaterial, sondern auch mit einem neuen Eheskandal nach Europa zurück. Harisadhan das Guptas Ehefrau Sonali, deren mütterlicher Onkel übrigens Hindi-Regisseur Bimal Roy war, hatte zu Anfang am Drehbuch des Projekts mitgewirkt und war dabei für Rossellini zur Verkörperung Indiens geworden. Sie wurde 1957 seine nächste Ehefrau.

INDIEN, MUTTER ERDE / INDIA: MATRI BHUMI (1959) erinnert von der Art der Herstellung her an den frühen Neorealismus, obwohl ein Film wie ROM, OFFENE STADT (1945) von Leistungen professioneller Schauspieler wie Anna Magnani oder Aldo Fabrizi geprägt ist. Der Vergleich mit PAISÀ, dessen Buch im Laufe der Dreharbeiten entstand und in dem viele Amateure mitwirken, liegt da näher. Neben dem Indien-Spielfilm in Farbe wurde auch viel mit schwarzweißem 16mm-Material gefilmt, woraus eine 10-teilige Serie wurde, die im italienischen und französischen Fernsehen im Rahmen von Gesprächen Rossellinis mit einem Moderator gezeigt wurde. Ich hoffe, dass das einmal einen zweiten Blogbeitrag ergeben wird. Hier wird diese Doku-TV-Serie aber völlig ausgespart.

Rossellini verzichtet in INDIEN, MUTTER ERDE auf ermüdende Informationen von der Art, mit der Dokus über ein fremdes Land sonst zugepflastert sind. Es gibt immer nur ein paar Bilder mit gesprochenem Begleittext ganz allgemeiner Art, was aber eigentlich eher einer atmosphärischen Überleitung zum Folgenden dient. Am Anfang sieht man die heterogene Menge in Bombay in den Straßen, alle möglichen Kasten, Ethnien. Aber Rossellini geht schnell über zum Individuellen, das, pars pro toto sozusagen, gleichzeitig vom großen Ganzen handelt und universale, mythische Bedeutung annimmt. Alles ist ganz einfach gehalten, alles Überflüssige weggekratzt. Insofern ist es direkt ein großes Glück, dass aus den geplanten neun Episoden am Ende nur vier wurden. In Rossellinis Leben war sogar das Chaos immer für etwas gut. Es sind vier Geschichten, gedreht mit den Menschen selbst. Der Erzähler berichtet aus ihrer Perspektive, in der Ich-Form. Alles wurde gedreht mit Amateuren.

In der ersten, der schönsten Episode filmt Rossellini den Traum von Indien. Er zeigt eine ländliche Idylle, das Paradies: Die langsame Arbeit mit Elefanten, die mit ihrer Kraft Bäume umstürzen. Er vollzieht lange dieses gemächliche Tempo. Da ist absolute Stille außer dem Knacken des Unterholzes und der umgestoßenen Bäume. Und die Elefanten dürfen nicht in der Hitze arbeiten, aber die Menschen sind ohne Pause mit ihnen beschäftigt: das Waschen, das viele Fressen. Es gibt auch eine tierische Liebesgeschichte mit einem schüchternen Männchen. Man lässt das Pärchen im Dschungel allein. Parallel dazu kommt Kultur ins anliegende Dorf in Form eines reisenden Puppentheaters. Einer der Elefantenführer, ein Mahut, hat sich in ein Mädchen der Truppe verliebt. Es kommt zu unproblematischer Eheanbahnung durch die Väter. Wie bei den Elefanten ist hier am Ende jemand schwanger. Alles ist gekennzeichnet von Stille, Ruhe, Harmonie. Harmonie zwischen den Menschen, zwischen Mensch und Tier, Mensch und Natur. Alles eingebettet in den ewigen Kreislauf.

Die zweite Episode beginnt mit dem Himalaya und den majestätischen Flüssen, die daraus entspringen. Aber dann ist man schnell bei der technischen Moderne, beim Bau eines gigantischen 24 Meilen langen Damms in Orissa, was für sich genommen auch eine gewisse Poesie und Schöpferkraft hat. Eine überwältigende Weite, eine riesige Baustelle, eine unendlich weite Sandlandschaft bis zum Horizont, was in absehbarer Zukunft überflutet sein wird. Hier sieht man nun das moderne Indien der Unabhängigkeit, das Industriestaat werden will, oder, besser gesagt, werden muss. Im Zentrum der Episode steht ein Facharbeiter oder Ingenieur. Er ist soeben versetzt worden. Der Damm ist fast fertig. Die Familie muss also, zum muffigen Leidwesen seiner Frau, umziehen. Die Moderne verhindert die ruhige Verwurzelung an einem festen Ort. Er streift noch einmal durch die riesige Baustelle, schaut sich nicht ohne Wehmut und Nostalgie alles an, was geschaffen wurde und auch ein Stück mit sein Werk ist. Eine große Totale zeigt einen wunderschönen, in Blau getauchte Himmel während seines rituellen Bades bei dem kleinen Tempel, der auch bald überschwemmt sein wird. Die Frau schimpft: „Immer den Kopf in den Wolken. Ich verstehe dich nicht.“ Auch die Eheharmonie ist bei so einem Wanderleben in ständiger Gefahr.

In der dritten Episode treffen diese beide Welten aufeinander. Rossellini taucht ein in das Geheimnis Dschungel: Die Kamera bewegt sich vorwärts zwischen dichten, kaum zu durchdringenden Bäumen und ihren Ästen. Die Natur kann gut ohne den Menschen auskommen. Sonst ist fast alles Land in Indien bebaut oder wird beackert. Es gibt lange Kamerafahrten durch die kultivierten Felder. Natürlich ist auch das indische irdische Paradies von der Moderne bedroht. Hier geht es um die Ausbeutung von Bodenschätzen im Dschungel. Diese Konflikte dauern bis heute und haben so manchen gewalttätigen Widerstand der eingeborenen Bevölkerung verursacht, deren Umgebung man ruiniert, aber nicht einmal an den Profiten beteiligt. Es kommt zu einem friedlichen Widerstand eines 80-Jährigen, der gewöhnlich im Wald meditiert. Er legt Feuer, um die Tigerin zu vertreiben, mit der der Mensch die ganze Zeit in friedlicher Koexistenz den Dschungel bewohnte. Man will sie töten, aber wenn man den Lebensraum der Tiere umkrempelt, dann werden sie nun einmal feindselig und fressen auch Menschen.

Der Film unternimmt mit den drei Episoden und ihren Ideen von Ursprünglichkeit, Moderne und Begegnung der beiden eine dialektische Bewegung, aber ohne eine versöhnliche Synthese. Man mag sich noch so sehr in öko-ökonomische Utopien flüchten, doch im Grunde handelt es sich um zwei absolut unvereinbare Prinzipien. Statt einer konstruierten Synthese liefert Rossellini einen Epilog, der anhand eines kleinen Affen die geistige Verwirrung zeigt, die die Entfremdung vom Ursprünglichen anrichtet.

Die Gegensätze verkörpern sich im Schicksal dieses kleinen, gezähmten, an die Menschenwelt gewöhnten Affen. Der Affe ist der Begleiter eines Mannes. Gemeinsam verdienen sie wohl Geld auf den Straßen, auf den Märkten. Es ist eine fürchterliche Hitze und in der weiten Einöde fällt der Mann tot um, mit niemandem in der Nähe. Da liegt der Tote, über ihm die kreisenden Geier, eine Zeitlang beschützt der Affe auf rührende Weise die Leiche vor den Vögeln, dann läuft er aber weg. In der Stadt macht der gezähmte Affe, dem die Wildnis fremd geworden ist, ganz von alleine Kunststücke, kann aber mit dem Geld, das man ihm zuwirft, natürlich nichts anfangen. Er findet dann einen neuen Meister, kann also überleben. Jetzt gehört der Affe zu einer Truppe, die Trapezkünste aufführt, was aber irgendwie traurig aussieht. Ist man einmal vom Ursprünglichen entfremdet, gibt es nur schwer ein Zurück. Ein Dilemma, mit dem dieser große und wunderschöne Rossellini-Film endet.