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Samstag, 27. März 2021

Karthik Subbarajs MERCURY – Industriehorror ohne Worte

 

Junge Leute, Studenten, eine Party, ein böser Unfall, eine Leiche muss beseitigt werden, die Leiche ist plötzlich verschwunden, ein irres Killerwesen in einer alten Fabrik, der Zwang still zu sein, damit einen das Monster nicht hört. Man erkennt unschwer die bekannten Elemente, die Karthik Subbaraj in seinem Horror-Thriller MERCURY (2018) verwendet. Als einer der spannendsten jüngeren Tamil-Regisseure, dessen neuer Dhanush-Film JAGAME THANDIRAM (2021) bald gleichzeitig digital und in indischen Kinos herauskommt – wenn ich es richtig verstanden habe – und der mit dem schönen PETTA (2019) einen Rajinikanth-Starfilm als erfrischend jugendlichen Collegefilm drehte, benutzt Subbaraj diese Elemente nicht als Zitate, sondern zum einen natürlich als Zeichen der Vertrautheit und Wiedererkennung für die Zuschauer, aber ansonsten einfach als Bausteine für etwas ganz authentisch Eigenes. Das distanziert ironische, das selbstverliebt jonglierende Zitieren, das wird gemieden. Was hier passiert, ist blutiger und vor allem trauriger Ernst.

Beworben wird MERCURY als Stummfilm, also als Film ohne gesprochene Sprache. Das ist korrekt, denn die tauben Hauptfiguren kommunizieren in Gebärdensprache, also einer Zeichensprache. Subbaraj benutzt den Stummfilm nicht als nostalgischen Gimmick, und er ist nicht filmhistorisch orthodox, verschont den Zuschauer etwa mit Zwischentiteln. Ein Nebeneffekt ist aber – und ich bin mir nicht sicher, wie beabsichtigt der ist – das expressive Agieren der Darsteller mit Händen und Armen. Diese Spielweise erinnert mit sich steigernder Aufgeregtheit mitunter an frühe Stummfilme, wo die Schauspieler die Dinge mit dem ganzen Körper überdeutlich gemacht haben. Nur dass es dafür in MERCURY einen praktischen Grund gibt und es somit gleichzeitig wieder normal und natürlich wirkt.

Es beginnt mit einer auf den ersten Blick ungewöhnlich wirkenden Party von vier jungen Männern und einer Frau. Es dauert, bis man begreift, worum es geht. Der Streit um Lautstärke, das Spiel mit laut-leise machen alles klar. Ein Hausangestellter macht die dröhnende Rockmusik aus, ohne dass die Feiernden es merken, bis sie dann beim Tanzen spüren, dass die Vibrationen im Körper ausbleiben. Dies wird nach und nach ergänzt durch informative Bilder: Die fünf sind taub durch Quecksilbervergiftungen durch die örtliche Firma „Company Earth“, stellvertretend für all die vielen weltweiten Umweltkatastrophen mit Toten, Folgeschäden und auf die eine oder andere Art eingeschränkten Babys. Aber Subbaraj verzichtet auf jede Opferdarstellung. Die fünf waren auf dem Alumni-Treffen einer örtlichen Spezialschule für Quecksilberopfer-Kinder. Und sie sind einfach noch in Hochstimmung durch das Wiedersehen, halten die gute Laune aufrecht durch das Betrachten des Treffens auf dem Computerschirm.

Sie machen einen nächtlichen Ausflug mit dem Auto, besuchen ein Denkmal für die Opfer, beschmeißen die verfluchte Giftfabrik mit Steinen, machen Halt auf einem Hügel. Nach einer Verlobung der Frau mit einem der Männer kommt es zum Tanz am Abgrund. Ihre Schatten werden vom Autoscheinwerfer auf die Nebelwand in der Luft vor ihnen geworfen. An Kitsch grenzende Romantik, Glück, Trunkenheit, eine zu übermütige Stimmung: Bei der Rückfahrt schaltet der überglücklich Verliebte den Autoscheinwerfer aus und an. Ganz kurz sind sie dann im Auto blind. Die Straße verschwindet. So entsteht ein gefährliches Spiel mit Licht und Schatten, Sehen und Nicht-Sehen, das zu einem schkrecklichen Unfall mit Todesfolge führt, was ebenso wie das Spiel mit laut-leise auf den Horrorhöhepunkt des Films hinführt.

Sie lassen die Leiche ausgerechnet auf dem Gelände der Fabrik verschwinden, die ihre Behinderung verschuldet hat. Sie liegt da verlassen, umgeben von Dschungel. Die Leiche endet im trockenen Bett eines industriellen Abflussbaches, die leeren Rohre gucken aus der Erde hinaus. Aber es gibt Zeugen: Rehe, Hirsche, die zugucken, ohne wegzulaufen. Sie starren ausdruckslos, vielleicht verhängnisvoll, vielleicht vorwurfsvoll. Und wenn die fünf am nächsten Tag im Dunkeln noch einen verloren gegangenen, verräterischen Gegenstand suchen und sie noch einmal diesen Ort aufsuchen und entdecken, dass die Leiche weg ist, steht da wieder ein Rotwild und starrt sie an, als wüsste es, was passiert ist und was passieren wird. Ungerührt guckt es sie an. Wie eine Manifestation der ewigen Natur, des Karma. Nichts bleibt unbeobachtet, ungestraft. Man mag sich noch so sehr winden.

Dann dringen sie in sie Fabrik ein, wo der reine Zorn, die materialisierte Wut auf sie wartet. Hier kann man Prabhu Deva in einer ungewöhnlichen Rolle sehen. Jetzt ist der Film ein Slasher-Film, bei dem junge Opfer tot an Haken in der Luft hängen. Subbaraj nutzt ganz realistisch die verfallene Industriearchitektur, sehr minimalistisch, ohne überstiegene Effekte. Er jongliert mit den Prinzipien Licht und Dunkel, laut und leise, hörbar und nicht hörbar. Und er hat einen Sinn für dunkle Poesie, die stimmungsvolle Wirkung eines realistischen Bildes. Wenn etwa ein halbtoter Körper durch eine große, schwarze Pfütze geschleudert wird und die Kamera noch einen Augenblick aus der Vogelperspektive auf den sich wild kräuselnden Bewegungen der Flüssigkeit ruht.

Die stummen Hauptfiguren sind aber nicht nur Mittel zum Zweck. Das wird besonders deutlich, wenn der Horror plötzlich umschlägt in berührende Tragödie, wo es keinen Bösen mehr gibt, wo die Opfer sich gegenseitig gequält haben, ohne es zu wollen. Das Böse ist am Ende nur anwesend als toter, lebloser architektonischer Geist einer unheilbringenden Industrieruine, mit der Verbrecher einst viel Geld verdient haben. So wird aus MERCURY ein echt bewegender Film, der zugunsten von Versöhnlichkeit und Melodrama auf den ganz groß übersteigerten Horrorhöhepunkt verzichtet. Übrig bleibt die Zerstörung einer glücklichen Existenz, einer glücklichen Ehe trotz Behinderung. Ein Toter, der Abschied nimmt von seinem Zuhause, ein letztes Streichen mit der Hand über das Bild der geliebten Ehefrau an der Wand, ein sanftes kurzes Streicheln der traurig in einer Ecke sitzenden Frau, die er zum ersten Mal sehen kann, die ihn aber nicht erkennt, allenfalls erstaunt erahnt.