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Dienstag, 28. Mai 2019

CHANDIGARH AMRITSAR CHANDIGARH – Boy meets girl Punjabi-style

In gewisser Weise war CHANDIGARH AMRITSAR CHANDIGARH (2019) die zweite Punjab-Komödie in den deutschen Kinos innerhalb von nur einer Woche. Nur dass DE DE PYAAR DE (2019) mit Ajay Devgn eine Hindi-Komödie ist, die aber in der zweiten Hälfte im Punjab spielt und wo es richtig viel typische Musik und Rhythmen gibt. Doch Filme wie CHANDIGARH sind sozusagen das Original, eben ein echter regionaler Film, der durch sein authentisches Lokalkolorit überzeugt. Es ist ein sympathischer Film, der Spaß macht, auch wegen der zwei charmant spielenden Hauptdarsteller. Gippy Grewal und Sargun Mehta, die in Fernsehserien anfing und auch schon zwei Mal einen regionalen Filmfare Award gewonnen hat, sind beide sehr populär im Punjab. Es ist die zweite Regiearbeit von Karaan Gulian, der bei seinem ersten Werk SARVANN (2017), einer Priyanka-Chopra-Produktion, noch mit dem Nachnamen Guliani genannt wurde.

Eigentlich besteht der Film vor allem daraus, dass Grewal und Mehta sich zu Fuß oder auf dem Motorrad durch Amritsar bewegen und sich streiten und unterhalten. Die Story ist simpel: Eine junge Frau aus Chandigarh kommt nach Amritsar, um höchstpersönlich ihrem von den Eltern ausgesuchten Bräutigam eine Absage zu erteilen. Auf der Suche nach der richtigen Straße stößt sie auf einen auf der Straße Cricket spielenden jungen Mann, dem sie dadurch, dass sie ihn nach dem Weg fragt, fast den sicher geglaubten Sieg ruiniert. Und damit ist es passiert: Boy meets girl. Das Ende ist unausweichlich. Aber erst kann sie ihn gar nicht ausstehen, was für den Zuschauer ja auch immer viel lustiger ist als verträumte beiderseitige Liebe auf den ersten Blick. Es gibt in Form von Comedy zusätzlich ein paar Dramatisierungen, damit sie gezwungen ist, überhaupt für die Länge des Films in Amritsar zu bleiben. Sie verliert ihr Handy, dass in den Sitz einer Motor-Rikshaw gerutscht ist und zu seltsamen Vibrationen bei den nachfolgenden Fahrgästen führt. Ja, das ist ein bisschen niedlich unanständig.

Und das alles ist nicht zu lang. Der Film hat nur etwa 107 Minuten. Man verzichtet also auf einen Rattenschwanz an überflüssiger Handlung, mit der so mancher populäre indische Film auf die gewohnte Länge gedehnt wird und sich dann auch so anfühlt. Hier ist es umgekehrt. Es hätten ruhig ein paar Minuten mehr sein können, aber das ist dann ein Kompliment an den Film. Es gibt auch eine knallige Schlusspointe, die aber gar nicht so knallig ist, weil viele Zuschauer sie sicher schon erwarten, aber dann besteht das Vergnügen eben darin, zu überlegen, wie die Wahrheit wohl ans Tageslicht kommen wird. Aber um Originalität geht es hier auch nicht.

Wer die Filme von Imtiaz Ali mag, oder auch die plaudernde Pärchen-Trilogie von Richard Linklater mit Ethan Hawke und Julie Delpy, die in BEFORE SUNRISE (1995) und BEFORE SUNSET (2004) durch Paris spazieren, der dürfte auch CHANDIGARH AMRITSAR CHANDIGARH mögen. Die Feinheiten bei der Sprache, dem Akzent und Slang, diese regionalen Unterschiede eben, von denen der Dialog ganz offensichtlich lebt, sind mir natürlich entgangen. Aber die Gegensätze zwischen Chandigarh und Amritsrar, die den Kern des Films bilden, die beginnt man auch als Außenstehender sehr schnell zu begreifen, denn da geht es nicht um tiefe soziologische Erkenntnisse, sondern vor allem um Klischees, die der eine über den anderen mit sich herumträgt. Es geht um lockeren und arbeitsamen Lebensstil, moderne und traditionelle Kleidung oder auch weibliche, männliche Rollenverteilung, etwa die Selbstverständlichkeit, mit der er erwartet, dass die Frau nach der Hochzeit mit ihm bei den Eltern wohnt, dies aber umgekehrt nicht machen würde.

Und das alles ist eingebettet in authentische Amritsar-Atmosphäre, ohne einen gefälligen Touristen-Blick einzunehmen. Es geht durch normale Gassen, Wege, Geschäfte und ganz offensichtlich hat man gerne auf die passenden Menschen von der Straße zurückgegriffen. Das schafft einen angenehmen Hintergrund der Natürlichkeit und Lebendigkeit. Natürlich geht es nicht ganz ohne Goldenen Tempel. Aber einen Augenblick, zwei längere Einstellungen, und dabei lässt man es gut sein. Richard Linklater hatte ja in seinen beiden Filmen ganz konsequent auf den Eiffelturm verzichtet, was vielleicht doch ein bisschen übertrieben ist. Man sieht ihn nun mal oft in Paris. Im Nachspann gibt es dann einige Bilder von den Dreharbeiten, wo man überprüfen kann, dass tatsächlich an Ort und Stelle gedreht wurde.

Und wie passend zur Wirklichkeit ist die Methode, mit der die männliche Hauptfigur im Film sein Geld verdient! Er organisiert falsche Likes und Kommentare für Facebook und andere Internetseiten. Schlechtes Gewissen hat er keines, er argumentiert mit der Notwendigkeit seines Tuns: Das wäre die Grundlage der punjabischen Wirtschaft. Und vielleicht auch der Filmindustrie, musste ich abends, nach der Kinovorstellung am Samstag Vormittag, denken. Ich war neugierig auf die Bewertungen bei IMDb und entdeckte ein 10/10. Nun würde ich den Film sofort jedem empfehlen, der oder die auf der Suche nach entspannter, ganz intelligenter und kurzweiliger Unterhaltung ist. Aber Leute, das ist irreal. Es gibt inzwischen zig Rezensionen mit der Bewertung 10/10. Die meisten sehr kurz, ohne weitere Erklärungen, was nicht sehr typisch ist. Na ja, aber der Film liefert ja die eigene Rechtfertigung für diese absolut gängigen Manipulationen gleich mit. Doch ein bisschen geschickter und weniger offensichtlich wäre doch besser. 8/10 oder 9/10, das ist viel empfehlenswerter, da wird niemand so schnell stutzig. Das ist wie bei gefälschten Wahlergebnissen. Da scheut man auch die 100% und nennt 99% oder noch besser sogar ein ganzes Stück drunter.

Montag, 20. Mai 2019

Ajay Devgn in DE DE PYAAR DE – Jung trifft alt

Das war doch unterhaltsam. DE DE PYAAR DE (2019) ist eine hübsche Hindi-Komödie mit Ajay Devgn, Tabu und der jungen Süd-Schauspielerin Rakul Preet Singh. Der Film besteht aus drei Teilen: Er beginnt als romantische Komödie, wird dann zur ausgelassenen familiären Boulevard-Komödie mit viel Chaos und Durcheinander, sodass am Ende alles relativ ernst und sachlich einem glücklichen Ende zugeführt werden muss. Devgn spielt einen abgeklärten, von seiner in Indien lebenden Familie schon lange getrennten 50 Jahre alten Mann, einen reichen Investor in London. In dessen Wohnung hat sich am Anfang des Films eine Bachelor-Party-Gesellschaft angesagt, vermutlich jüngere Kollegen. Enttäuscht sind sie, denn er hat für nichts Wildes gesorgt. Es folgt eine falsche Striptease-Tänzerin als Testfalle für den zukünftigen Bräutigam. Die Verlobte taucht wutentbrannt auf. Tränen, Drama, fast Tragödie und dann doch Versöhnung. Und ein bisschen selbst schuld. Wer so gefährlich mit dem Feuer spielt, soll sich nicht wundern. Jedenfalls haben sich so die beiden Hauptfiguren - Investor und falsche Tänzerin – kennengelernt und es geht nun hin und her, um zu sehen, ob denn überhaupt was geht zwischen den beiden. Und da es einen Altersunterschied von 24 Jahren gibt, gibt es auch Diskussionen darüber sowie über Jugend, Alter und deren Kompatibilität. Alles geschmackvoll geschrieben, charmant gespielt und von Regisseur Akiv Ali kontrolliert inszeniert. Nur die Musik hätte man vielleicht ein bisschen sparsamer einsetzen können. Es ist absolut nicht nötig, jede Pointe mit einem musikalischen Effekt zu unterlegen.

Aber das alles ist eigentlich nur die Aufwärmphase für den lustigsten Teil des Films, für die Boulevard-Komödie. Wo Devgn seine Braut in Indien, genauer gesagt im Punjab, der Familie vorstellen will. Und wo er als höchst unerwünschter Gast mitten in die Hochzeitsanbahnung der Tochter platzt und wo die Familie des Mannes erwartet wird. Die Tochter darf aber offiziell gar nicht seine Tochter sein, denn sie hat ihn in ihrem Zorn auf seine ständige Abwesenheit längst für tot erklärt. Und wo der Papa, der dann notgedrungen zum Onkel wird, die eigene zukünftige Ehefrau verschreckt zu seiner Sekretärin erklärt, auf die der Sohn plötzlich eine gleichaltriges Auge wirft. Das alles lebt von der Situationskomik und der Besetzung. Ajay Devgn, der im Laufe des Films seine Geschäftsmannsouveränität immer mehr verliert, weil er Familienleben erst mal lernen muss. Etwas zerknautscht und ratlos steht er ein bisschen neben sich, beobachtet sein Leben wie von außen, weil es plötzlich von äußeren Faktoren, vor allem den Frauen, bestimmt wird. Wie im echten Leben eben. Tabu ist nach ANDHADHUN (2018) wieder ganz wunderbar, diesmal als souveräne Mutter, die in einer schönen und intimen Szene mit Ajay Devgn plötzlich zusammenbricht, weil sie es leid ist, immer die Starke zu spielen. Rakul Preet Singh kann da gut mithalten in einer Mischung aus lebenslustig-sexy und gefühlvoll-niedlich. Am meisten Spaß an dem Ganzen hat ganz offensichtlich Jimmy Shergill als exzentrischer Nachbar, der ein Auge auf Tabu geworfen hat.

Dabei verliert der Film die ganze Zeit nicht das Thema Altersunterschied aus dem Blickfeld. Und das ist ein Thema, das in Hindi-Filmen auf unterhaltsame Art nicht sehr oft problematisiert wurde, nicht zuletzt deshalb vermutlich, weil es einfach da ist. Zwischen älter werdenden Helden und Hauptdarstellerinnen tun sich eben nach und nach immer größere Alterslücken auf. Und in Devgns letztem Film RAID (2018) war seine Steuerfahnder-Figur mit Ileana d'Cruz verheiratet. Und zwischen Devgn und d'Cruz beträgt der Unterschied immerhin auch 20 Jahre. Aber offenbar plant ja sogar Bhansali in der Richtung etwas mit Alia Bhatt und Salman Khan, die 27 Jahre trennen. Es ist also ein scheinbar angesagtes Thema. Und es ist ironisch, dass Kritik daran kommt, da es sich doch in solchen Filmen um freiwillige Beziehungen handelt. Bisher war es im Hindi-Kino doch eher ein unangenehmes Thema, vielleicht verbunden mit einer sozialen Kritik an einer Verheiratungspraxis, wo jüngere Frauen ständig mit älteren Männern liiert werden, ohne dabei gefragt zu werden. Was besonders extrem wird, wenn ein Witwer noch mal heiratet. Wie in DEVDAS übrigens, wo die arme Parvati in einem Haus praktisch eingemauert ist mit Kindern in ihrem Alter. Und da möchte ich doch gerne auf den besten und eindringlichsten Film zu diesem Thema hinweisen. Der große Regisseur V. Shantaram hat in den 30ern einen seiner brillanten sozialen Marathi-Film über eine junge Frau mit einem richtig alten Ehemann gedreht. Der Einfachheit halber zitiere ich kurz aus einem Artikel von mir über Shantaram, der im Retro-Filmmagazin „35 Millimeter“ Nr.22 erschienen ist: „In KUNKU (1937) wird eine noch sehr junge Frau, eine Waise, auf betrügerische Weise mit einem viel älteren Anwalt verheiratet und benimmt sich dann in dessen Haus bewusst schroff und abweisend. Sie will keine Ungerechtigkeit dulden. Shanta Apne spielt eines der zornigsten jungen Mädchen der indischen Filmgeschichte.“ Ein großartiger, moderner Film. Und eine großartige Hauptdarstellerin.

Sonntag, 12. Mai 2019

STUDENT OF THE YEAR 2 – Tiger Shroff kämpft sich durch

Nach KALANK (2019) ist dann also mit STUDENT OF THE YEAR 2 (2019), unter der Regie von Punit Malhotra, die zweite große Karan-Johar-Produktion innerhalb von kurzer Zeit angelaufen. Nach dem ersten Teil mit Bhatt, Dhawan und Malhotra eine weitere College-Geschichte zwischen Arm und Reich, Männchen und Weibchen am edlen St. Teresa College, angereichert mit Beziehungsärger, Tänzen, Rivalitäten und sportlichen Wettkämpfen. Und wenn mir vor ein paar Monaten jemand vorausgesagt hätte, dass ich mich bei STUDENT OF THE YEAR 2 besser unterhalte als bei KALANK, dann wäre ich zumindest sehr, sehr skeptisch gewesen. Aber so war es. Und das hat einen ganz einfachen Grund: STUDENT OF THE YEAR 2 ist das, was er sein will, nicht mehr, nicht weniger. Bei KALANK spürte man ständig den Abgrund zwischen grandioser Absicht und realisiertem Leinwandprodukt. Und da rutsch ich halt schnell nervös auf meinem Kinositz herum. Das war diesmal nicht der Fall. Und wenn man sich entscheiden soll zwischen angestrengem Meisterwerkehrgeiz und einem einfachen Unterhaltungsfilm, dann fällt mir die Wahl nicht schwer.

Natürlich kommen jetzt wieder die selbsternannten Verteidiger der Filmkultur. Doch all die Einwände, die pseudointellektuelle Amateurkritiker gegen STUDENT 2 haben, kann man vergessen. Und es sind ja immer dieselben bei solchen Filmen. Das war schon beim ersten Teil so. Zwei Beispiele: Da ist nichts Originelles an dem Film? Originalität wäre hier völlig fehl am Platze. Geschmackvolle Anordnung altbekannter Zutaten ist schließlich das Prinzip. Tiger Shroff kann nicht wirklich schauspielern? Auch keine Überraschung. Aber wer guckt denn Tiger Shroff deswegen? Es sind vor allem sein agiler und beweglicher Tanzstil und seine langbeinigen Kämpfe, kurz: das Athletische. Und man merkt eine überzeugende Ernsthaftigkeit und eine verbissene Energie bei ihm, die einen Film sehr gut tragen können, die allerdings in einem B-Action-Film wie BHAAGI (2016) noch besser wirken. Im Übrigen ist die Welt voll von Film-Action-Kämpfern, die nicht mal einen Trostpreis-Schauspiel-Award gewonnen haben und heute doch so was wie nostalgischer Kult sind. Chuck Norris. Steven Seagal. Wären die Kritiker doch damals etwas netter gewesen! Aber man sollte Shroffs Liebesszenen nicht überdehnen. Als romantischer Held langweilt er mich auf die Dauer. Ich fand STUDENT 2 im Ganzen zu lang. Jetzt gehöre ich ja ich nicht unbedingt zur direkten Zielgruppe des Films und des Stars, habe also keine Wünsche anzumelden, aber wenn es doch nach mir ginge, wäre Shroff in seinen Filmen demnächst am Anfang schon glücklich verheiratet, damit es dann sofort direkt dynamisch losgehen kann.

Es ist auch ganz interessant, mal kurz auf den ersten Teil von 2012 zurückzublicken, der ja eine Art persönliche, glitzernde, glamouröse, durchgestylte Phantasie von Karan Johar war, der selbst Regie geführt hat. Das ist jetzt im zweiten Teil etwas anders. Es ist, als hätte Tiger Shroffs Rohan diesen ersten Teil gesehen, um an dessen Fiktion zu glauben und dann ganz böse vor die grausame Wand der Realität zu laufen, als er wieder vom College fliegt und in seiner alten Schule landet. Die Reichen akzeptieren jemanden ohne Geld eben nicht so schnell als ihresgleichen. Deshalb ist der sportliche Sieg der Underdogs als Revanche und Zeichen der Gleichberechtigung nötig. Aber mir fehlt ein bisschen der Look des ersten Films. Diese völlige Atmosphäre des irrealen glitzernden Glamours, der frisch lackierten Autos und der Masse an Designerklamotten. Im Kino ist das immer so hübsch anzugucken, auch wenn es mich im Privatleben nicht die Bohne interessiert. Aber egal. Ich habe mich amüsiert, werde STUDENT 2 aber vermutlich nie wieder gucken. Aber dafür ist es an der Zeit, sich JO JEETA WOHI SIKANDAR (1992) mit Aamir Khan anzusehen, um mal zu überprüfen, wie weit man sich für die beiden STUDENT-Teile tatsächlich von diesem Film von Mansoor Khan hat inspirieren lassen.

Mittwoch, 1. Mai 2019

Anurag Kashyaps MUKKABAAZ – Vom Raufbold zum Boxer

MUKKABAAZ (2017), das bedeutet Raufbold, Rabauke. Und wie der nicht mehr ganz junge Endzwanziger Shravan, in der Gestalt von Vineet Kumar Singh, vom stürmischen Raufbold zum denkenden Boxer wird, davon handelt Anurag Kashyaps Sportfilm, der in einer Kleinstadt im indischen Bundesstaat Uttar Pradesh spielt. Shravan ist einer, der lieber mit dem Kopf durch die Wand will, als brav zu schweigen, wenn ihm etwas nicht passt. Und er hat ein Ziel. Er will Boxer werden, sehr zum Leidwesen des Vaters, der ständig mault, der Sohn habe eine tolle akademische Karriere sausen lassen. Bis es aus dem Sohn in einer heftigen, aber auch lustigen, Szene herausbricht, dass er dazu zu blöd gewesen wäre, weil er einfach nichts im Hirn habe, und woher sollte er die Intelligenz auch geerbt haben. Allerdings macht er in seinem Feuereifer den großen Fehler, sich mit seinem Trainer Bhagwan Das Mishra anzulegen.

Der ist ein Gangster und hoher Funktionär der lokalen und bundesstaatlichen Boxorganisation in Uttar Pradesh und duldet keinen Widerspruch. Das Bollywood-Kino ist ja seit Einzug der vermeintlich realistischeren Psychologie ein bisschen sparsamer mit echten, unerträglichen, durch und durch widerlichen Bösewichte geworden. Aber hier gibt es mal wieder einen, ausgerechnet gespielt von Jimmy Sheirgill und er ist richtig gut hassenswert. Da möchte selbst der überzeugteste Pazifist zur tödlichen Selbstjustiz greifen. Er tyrannisiert alle um sich herum, besonders die eigene Familie, und ganz besonders die Frauen, die er als sein persönliches Eigentum betrachtet. Shravan fliegt also aus der Boxgruppe und Mishran hat die Macht, ihn nirgendwo mehr boxen zu lassen. Und er nutzt diese Macht.

Aber dann waren die Rebellion gegen und die Prügelei mit dem Trainer auch wieder gar kein Fehler, denn es bringt Shravan endgültig die Liebe von Sunaina, der Nichte des Trainers, ein. Denn MUKKABAAZ ist vor allem ein Liebesfilm. Und die Liebesgeschichte steht bei all dem Boxen immer im Mittelpunkt. Was Shravan auch tut, boxen für einen Job, arbeiten, boxen für einen Titel, oder auch gar nicht boxen, er tut es für sie beide. Da Sunaina stumm ist, drückt die beeindruckende filmische Neuentdeckung Zoya Hussain die Gefühle vor allem mit den Augen aus. Und wie sie am Anfang, wo Shravan sich prügelt, erst gewinnt und dann zusammengetreten wird, mit strahlenden Augen und leuchtendem Gesicht vom Dach auf ihn herabschaut, da braucht es tatsächlich keine Worte mehr. Was ihre Stummheit angeht, da kann Kashyap übrigens noch so sehr philosophieren, dass dies das Schweigen der Frauen in diesen Gegenden symbolisiere, so ist es doch bestimmt kein Zufall, dass die Frau von ROCKYs Schützling CREED taub ist, weshalb Zeichensprache auch dort eine große Rolle spielt. Und Shravan hat mit dieser Liebe einen doppelten Feind, denn auch dieser Beziehung widersetzt Mishran sich mit allen brutalen Mitteln.

Der ganze Film ist von den Motiven her ein einziges Sammelsurium aus Bekanntem. Alles, was man in Boxfilmen schon gesehen hat, scheint da irgendwo zu stecken. Doch es kommt ja darauf an, was Kashyap daraus macht. Und es ist ein ganz bewusst voller Film. Er ist bunt, grau, wild, lieb, witzig, grausam, emotional, sehr spannend und sehr berührend. Dem einen  oder anderen Kritiker war's zu viel des Guten, ich find's großartig. Es ist eine Mischung aus Realismus, teilweise sehr hartem und grauem Realismus und eben den populären Standards des Sportfilms. Wie eine Masala-Boxfilm, nur ohne irreale Übersteigerungen. Ein echter mainstreamtauglicher Boxfilm, nur mitten in authentischer Amateurboxatmosphäre, ohne je die glamourösen Arenen mit TV-Übertragung oder edle Olympia-Höhen zu erreichen. Da finden Kämpfe statt mit mehr Funktionären als normalen Zuschauern

Und dazwischen immer wieder stille, intime Szenen. Kashyap ist nah dran an den Figuren, für die er sich Zeit nimmt. Aber dann auch wieder verdichtend und distanzierter in Montageszenen mit vielen Bildern, vielen Schnitte und dazu die Lieder des brillanten Soundtracks mit Texten, die etwas beitragen zur Geschichte, zu den Gefühlen. Kashyap macht daraus immer wieder etwas wie lebendige Übungen in Stil. Es sind Lieder, die auch vom spannenden Sound her zur Szene passen. Da war zunächst eine leichte Enttäuschung, als ich bemerkte, dass die Musik nicht vom geschätzten Amit Trivedi ist, aber die verschwand schnell angesichts der Kompositionen von Nucleya und Rachita Arora. Kashyap ist wirklich brillant bei der Auswahl seiner Musik und die Musiker liefern für ihn oft ihre besten Arbeiten. So wie Trivedi plötzlich Jazzkomponist wurde für das verkannte Meisterwerk BOMBAY VELET (2015).

Ein erstes Drehbuch zu MUKKAABAAZ stammt vom bemerkenswert authentisch wirkenden Hauptdarsteller Vineet Kumar Singh selbst. Kashyap hat dann einen echten Kashyap draus gemacht, wie man es lieben muss. Hat zur perfekten Rekonstruktion Videoaufnahmen von echten Amateurkämpfen machen lassen. Hat Singh ein Jahr lang Boxen trainieren lassen. Und MUKKABAAZ ist gefüllt mit indischen Themen und Problemen. Einmal ist es eine Analyse der Sportwelt. Es gab ja in den letzten Jahren einige Sportfilme über indische internationale Medaillengewinner. Rakeysh Om Prakashas BHAAG MILKA BHAAG (2013), Reema Kagtis GOLD (2018) mit Akshay Kumar, der leider nie auf DVD erschienen ist, und auch DANGAL (2016) mit Aamir Khan. Aber in der Gesamtschau sieht es beim indischen Medaillenspiegel regelmäßig nicht berauschend aus. Und Kashyap geht an die Basis, da wo die Ursachen für die Fehlentwicklungen liegen. Denn Sporterfolge beginnen lokal, regional, beim Jugend- und Amateursport. Wenn das nicht gut organisiert ist, kommen keine Talente für bundesstaatliche und zuletzt nationale Förderung. Wie es Kashyaps Art, zeigt er Korruption und Nepotismus ziemlich ungeschönt.

Und er schneidet Themen an, die im Bollywood-Kino oft gar nicht mehr existieren, als gäbe es sie nicht mehr. Es geht um Kaste und Klasse. Der Film ist da sehr deutlich: Der Bösewicht Mishran ist eigentlich ein ganz rationaler Bösewicht, weil er denkt, er hat ein Recht darauf. Erstens ist er Brahmane und zweitens hat er Geld. Geld ist eben überall eine wichtige Kaste, die selbst in Indien niedrige Herkunft ausgleichen kann. Es ist einfach großartig, wie Kashyap bei all dem nicht den Überblick verliert, wie kein Thema aus seinem Blickfeld gerät, wie er Soziales, Politisches mit dem Populären, Melodramatischen und Actionreichemn verbindet und eine aufregende Mischung abliefert, die ruhig in Deutschland im Kino hätte laufen können. Aber ich verstehe sowieso nicht, warum nicht jeder von Kashyaps Filmen bei uns zumindest auf der großen kleinen Leinwand der Arthouse und Kommunalen Kinos zu sehen ist.