Anurag Kashyaps neuer
Film CHOKED: PAISA BOLTA HAI (2020), eine Netflix-Produktion, beginnt
mit einer Ehe auf dem Tiefpunkt. Die Frau arbeitet, der Mann macht
mal dies, mal das, auf jeden Fall macht er zu wenig Hausarbeit.
Findet sie. Und zu allem Überdruss hat er auch noch einen Haufen kaum zurückzahlbarer Schulden. Aber in Wirklichkeit schwelt
hinter diesen konkreten Problemen ein zerplatzter Traum von
etwas Schönerem, Glamouröserem, denn bis zu einem Talentshow-Auftritt,
wo der Frau vor Lampenfieber vor versammeltem Publikum die Stimme
wegblieb, hatten die beiden als Musiker und Sängerin einiges vor.
Der tote Traum ist jetzt ihr großes Trauma. Vor allem sie wirft es sich selbst vor und
wirft ihrem Mann vor, es ihr vorzuwerfen. Eine deprimierende Spirale.
Jetzt arbeitet sie als vorbildliche Angestellte in der Zweigstelle
einer staatlichen Bank.
In diesem Haushalt in
einem nicht mehr ganz frischen Mittelklasse-Appartementblock in Mumbai herrscht
jedenfalls ständige Spannung und Unzufriedenheit, die auch der junge
Sohn zu spüren bekommt. Da gibt es eine tragikomische, absurde
Szene, wie sie auf diese Weise vielleicht nur Kashyap hinkriegt, wo der Sohn in der
Mitte im Bett schläft und das Ehepaar eine Diskussion beginnt. Erst
ganz leise, man will den Kleinen ja nicht wecken, dann etwas lauter,
und dann gewinnt alles eine faszinierende Eigendynamik. Sie werden
richtig laut und heftig, verlieren jede Rücksicht und zu guter Letzt
rütteln sie den Jungen auch noch aus dem Schlaf, damit er als
Schiedsrichter bei der Uneinigkeit fungiert, obwohl es sich, wie
meistens bei solchen Ehestreitigkeiten, um eine Bagatelle dreht.
Alles in einer Einstellung. Schrecklich. Komisch. Gespielt werden die
beiden von Saiyami Kher als spröde und im Laufe des Films immer mehr in sich und ihrem Traum vom materiellen Paradies zurückgezogenen
Ehefrau und Roshan Mathew als mit sich selbst unzufriedener Ehemann, der unter seiner eigenen Schwäche leidet.
Wie auch diese eine Szene
schon zeigt, handelt es sich bei CHOKED, nach einem Drehbuch von
Nihit Bave, also um alles andere als einfach ein graues Ehedrama.
Dass man das schon von Anfang an weiß, dafür sorgt ein surrealer
Prolog, der nicht nur die Stimmung und die Stimmungen vorgibt, er
saugt den Zuschauer auch förmlich auf und in den Film hinein. Man folgt einer anonymen Gestalt, deren Gesicht nicht gezeigt wird: Ein Mann geht mit einer Tasche in
eine Wohnung, in ein Bad und macht sich am Abfluss im Fußboden zu
schaffen. Da hinein kommen wasserdicht verpackte kleine Geldrollen.
Und dann taucht die Kamera hinterher in den schmalen Abgrund, und
hinter der Dunkelheit schwebt eine glitzernde Discokugel, aber nur
kurz, denn alles verwandelt sich in dunklen Schlamm, in schwarzes
Abwasser, das nach oben quillt. So könnte ein Horrorfilm anfangen,
eine Episode aus dem Kollektivfilm GHOST STORIES (2020), zu dem
Kashyap eine Episode beigetragen hat.
Aber es ist kein
Horrorfilm, kein Thriller, dafür ist zu viel Ironie und Humor dabei, es ist eher
ein fantastisch-reales, heiter-düsteres Alltagsmärchen mit
subtil-hysterischen Zwischentönen, wo das Geld nachts aus dem schlammigen Küchenabfluss auftaucht, wie
aus der Unterwelt, und wo man durch das Brackwasser watet und sich dann glücklich bei einer höheren
Macht bedankt. Rein praktisch kommt das Geld aus der geheimnisvollen
Obergeschoss-Wohnung eines Assistenten eines korrupten Politikers. Diese Wohnung fungiert in der Geschichte als sagenumwobene Schatzkammer, auf die es heimlich
das ganze Haus abgesehen hat. Doch das Märchen entwickelt sich zu
einem immer unübersichtlicher werdenden Alptraum, parallel zu der
immer hektischer und wilder die Banken stürmenden Bevölkerung, denn
CHOKED spielt 2016, zur Zeit der Entwertung der 500- und
1000-Rupienscheine, eine Maßnahme, mit der Premier Modi illegal
gehorteten Schwarzgeldmassen, als Ergebnis verbreiteter Korruption,
zu Leibe rücken wollte.
Denn außer um eine Ehe,
eine Familie, geht es hier um ein Wohnhaus in Geldsorgen, um ein
ganzes Land im Stillstand, denn die Schlangen vor den Banken sind
lang, und man darf pro Transaktion nur eine begrenzte Summe altes
Geld in neues wechseln. So verwandelt sich alles von einem Tag auf
den anderen in Wahnsinn. Kashyap
nutzt alte Fernsehbilder, was dem Ganzen als Hintergrund eine breite
soziale Atmosphäre gibt. Und eine Bankangestellte als Hauptfigur
gibt Gelegenheit, auch das Innere der überfüllten Banken zu zeigen,
die Hektik, die Drängeleien, der Wahnsinn, die Nervosität. Die
Nerven liegen blank. Das alles fängt er adäquat ein. Wirkungsvoll
wie eigentlich immer in einem Kashyap-Film ist auch die Musik,
diesmal von Karsh Kale. Vor allem das jazzige, rhythmische Schlagzeug
treibt alles dynamisch voran. Aber dann gibt es auch wieder harmonische Wechsel
zum ganz Intimem, Stillem. Und mitten in all dem ist eben die korrekte
Bankangestellte, die ja auch ihr illegales Geld aus dem Abfluss umwechseln will. Aber
so sehr sie sich auch beim Hausaltar bedankt, sie ist tatsächlich
dabei, den Verstand zu verlieren, hat einen gruseligen Alptraum.
Überhaupt bekommen Ausdrücke wie „Geld aus dem Untergrund“ oder
„schwarzes Geld“ hier eine faszinierend konkrete Bedeutung. Ein kleiner, großer, großartiger Film.