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Sonntag, 21. Juni 2020

Anubhav Sinhas MULK – Sippenhaft und Kollektivverdacht


Vor ARTICLE 15 (2019), über den nach wie vor vielerorts rechtlosen Status der Dalit, und THAPPAD (2020), über Gewalt in der Ehe, drehte Regisseur Anubhav Sinha den Hindi-Film MULK (2018) mit Rishi Kapoor und Taapsee Pannu in den Hauptrollen. MULK ist ein politischer Film über Familie, Religion und Terrorismus, über den Platz von Moslems in Indien, der im Zuge des Hindu-Nationalismus unsicherer geworden ist. Es geht um eine moslemische Familie, eine Joint Family in Benares, in einem religiös gemischten, aber mehrheitlich von Hindus bewohnten Viertel. Das inoffizielle Familienoberhaupt, Murad, ist Anwalt, dessen Bruder hat einen kleinen Elektronikladen. Die Schwiegertochter, ebenfalls Anwältin, ist angereist aus London. An Murads Geburtstag sieht man, wie die Familie mit der Nachbarschaft einträchtig feiert, aber am nächsten Tag wird Murads Neffe als Mittäter bei einem schweren Terroranschlag von der Polizei erschossen. Die Familie wird ermittlungstechnisch beleuchtet, und die naive Blauäugigkeit, mit der sie tatsächlich nichts mitbekommen haben, führt zu Anklagen und einem sippenhaftartigen Schauprozess, der vor allem der Abschreckung dienen soll. Auch das Verhalten des Umfeldes wird feindlich und misstrauisch.

MULK beruht, wenn auch nur im Kern, auf einem wahren Fall aus Kanpur in Uttar Pradesh, auf den Sinha durch einen Zeitungsausschnitt aufmerksam wurde. Am 9. März 2017 wurde in Lucknow nach 12-stündiger Belagerung der Terrorist Saifullah Khan erschossen. Er war mitverantwortlich für den Anschlag auf den Passagierzug Bhopal-Ujjain, bei dem 10 Menschen verletzt wurden. Saifullah hatte zwei Monate zuvor nach einem Streit mit Vater Safir Khan das Haus verlassen und wurde gemeinsam mit einem Freund Terrorist. Safir Khan verweigerte die Entgegennahme des von Kugeln zerfetzten Körpers von Sohn Saifullah, da er ein Verräter seines Landes sei und so einer könne nicht sein Sohn sein. Er wolle aber auch Beweise sehen. Von diesem Ereignis hat MULK eine der großen Schlüsselszenen entlehnt, nur dass hier die Mutter des Terroristen im Inneren des Hauses schon weinend diese Ablehnung herausschreit, und dann Murad als Onkel vor der Tür in aller Öffentlichkeit diesen Akt der demonstrativen Distanzierung vollzieht. Auch die Feindseligkeit der Nachbarschaft gegen die Familie, Steinwürfe, alles, was der Film in dieser Hinsicht zeigt, hat es in Wirklichkeit gegeben.

MULK ist ein Film, der es sich nicht einfach macht, weder in die eine noch in die andere Richtung. Einerseits nimmt er Moslems gegen Vorurteile der Mehrheitsgesellschaft in Schutz. Aber andererseits erzählt er auch nicht eine einfache Opfergeschichte. Der Film enthält immerhin genug Ambivalenz, damit Pakistan ihn verboten hat. Da ist beispielsweise die Schwiegertochter, eine Hindu, die sich scheiden lassen will, da der moslemische Ehemann eine Festlegung auf den Islam noch vor der Geburt von Kindern verlangt. Und es gibt auch moslemische Terror-Sympathisanten in Indien, wie bei einigen Gläubigen von Murads Moschee, die für den vermeintlichen Märtyrer beten wollen. So etwas lässt der Film nicht aus. Denn Filmen, die so etwas auslassen, muss man mit Misstrauen betrachten. Dann haben sie etwas zu verbergen und sind nicht aufrichtig. Sinha bemüht sich jedenfalls ohne Schablonen um ein reales, ausgewogenes Porträt einer Familie, einer Nachbarschaft, eines Staates.

Als Vergleich bietet sich ein Film an, den ich ziemlich zeitgleich mit MULK gesehen habe, der hingegen es sich einfach macht. Arun Karthicks NASIR (2020) war kurz auf einem der Corona-Internetfilmfestivals zu sehen. Unter dem europäisch finanzierten Deckmantel des Realismus tut die Geschichte denen, für die sie vermeintlich erzählt wird, keinen Gefallen. Ein einfacher moslemischer Angestellter geht seiner Arbeit nach und begegnet auf dem Nachhauseweg einem aufgehetzten Hindu-Mob und wird totgeprügelt. Was in der Vorlage, der Kurzgeschichte von Dilip Kumar (nur eine zufällige Namensähnlichkeit mit dem größten aller indischen Filmschauspieler), vermutlich ein kleiner poetischer und schockierend endender Ausschnitt aus dem Leben eines Mannes ist, bekommt im Kino ganz andere, allgemeingültige Dimensionen. Da ist einmal ein echter Vorbildmensch, arbeitsam, kultiviert, liebevoll, poetisch. Ein bemitleidenswerter Mensch, der den ganzen Hinduismus um sich herum ertragen muss. Und die bösen Hindus reden immer nur über unanständige Sachen und sind fürchterlich verkommen. Humanistische Propaganda ist auch Propaganda. NASIR ist im Grunde europäisch mitfinanzierte Anti-Hindu-Propaganda versteckt unter dem Siegel des Arthouse-Films. Würde man die Geschichte anders herum erzählen, etwa ein Hindu oder Christ in Pakistan, käme sofort der Vorwurf der „Islamophobie“.

Einen großen Raum nimmt in MULK der Prozess ein. Sartaj Khan ist wohl in irgendeiner Form auch vor Gericht gezogen, aber der Prozess in MULK ist Fiktion. Diese Anklagen und Verhaftungen hat es nicht gegeben. Das hat Anubhav Sinha bewusst auf die Spitze getrieben. Es geht ihm um etwas anderes, um Grundsätzlicheres, ganz einfach um die konkrete Frage des Kollektivverdachts, der an sich in weiten Kreisen der indischen Bevölkerung gegen indische Moslems existiert. Daher sind große Teile des Prozesses rein rhetorisch und haben eine Funktion. Der Film kritisiert zwar nicht die Tatsache, dass die Familie durchleuchtet wurde, aber er unterstellt den Behörden eine absichtlich einseitige Sicht, die den Prozess nicht auf Fakten, sondern auf Propaganda fußen lässt. Die Frage ist: Wie beweist man das Gegenteil? Wie beweist man Patriotimus, Zugehörigkeit, Heimatgefühl in Indien, dass man nicht mit dem Terroristen-Staat Pakistan sympathisiert. Anstatt die Familie nur für ihre Ahnungslosigkeit, ihre falsche Rücksicht zu kritisieren, arbeitet die Anklage mit einer Kollektivanklage, indem sie alles auf unwiderlegbare Verallgemeinerungen und unbewiesene Behauptungen gründet.

Sinha arbeitet mit einem beweglichen, fließenden Stil über 135 Minuten, und entgeht mit Hilfe von innerer Spannung und authentischer Lebendigkeit den Fallen des Thesenfilms, des Betroffenheitsfilms, den man nur für die Botschaft dreht. Allein am Anfang das Porträt der Familie mit einer beweglichen Kamera, dem Wechsel der Figuren hat echte Eleganz. Dann ist Sinha ganz dicht dran beim Wirbel um den Terroristen, die Schießerei, die Polizei, die Medien. So kann er es sich erlauben, den Prozess etwas statisch sein zu lassen, was Prozessfilme aber nun mal so an sich haben.

Taapsee Pannu spielt die weibliche Hauptrolle als Anklägerin, die gegen den aggressiven Stil des Staatsanwaltes den richtigen Ton finden muss. Aber der Film gehört vor allem den Darstellern der Brüder. Rishi Kapoor, der bis zu seinem Tod immer besser wurde, ist ernst, sachlich, würdevoll. Er verzichtet darauf, die Figur künstlich sympathisch zu machen, lässt ihn nur bei der Party am Anfang lächeln und lachen. Er biedert sich nicht an, bettelt nicht , lässt sich nicht zum Opfer machen. Ein Mann, der sich die ganze Zeit seine Würde bewahrt. Und Manoj Pahwa als der Darsteller des zuerst verhafteten und angeklagten Bruders Bilaal, Vater des Terroristen, hat hier einmal eine richtig große angemessene Rolle, ist mit der tragischen Figur des Films, die sich in seiner eigenen Nachlässigkeit verheddert sieht, fast der heimliche Hauptdarsteller. Pahwa verwandelt die Schwäche der Figur in großes mitleiderregendes Pathos.