Vor ARTICLE 15 (2019),
über den nach wie vor vielerorts rechtlosen Status der Dalit, und
THAPPAD (2020), über Gewalt in der Ehe, drehte Regisseur Anubhav
Sinha den Hindi-Film MULK (2018) mit Rishi Kapoor und Taapsee Pannu
in den Hauptrollen. MULK ist ein politischer Film über Familie,
Religion und Terrorismus, über den Platz von Moslems in Indien, der
im Zuge des Hindu-Nationalismus unsicherer geworden ist. Es geht um
eine moslemische Familie, eine Joint Family in Benares, in einem
religiös gemischten, aber mehrheitlich von Hindus bewohnten Viertel.
Das inoffizielle Familienoberhaupt, Murad, ist Anwalt, dessen Bruder
hat einen kleinen Elektronikladen. Die Schwiegertochter, ebenfalls
Anwältin, ist angereist aus London. An Murads Geburtstag sieht man,
wie die Familie mit der Nachbarschaft einträchtig feiert, aber am
nächsten Tag wird Murads Neffe als Mittäter bei einem schweren
Terroranschlag von der Polizei erschossen. Die Familie wird
ermittlungstechnisch beleuchtet, und die naive Blauäugigkeit, mit
der sie tatsächlich nichts mitbekommen haben, führt zu Anklagen und
einem sippenhaftartigen Schauprozess, der vor allem der Abschreckung
dienen soll. Auch das Verhalten des Umfeldes wird feindlich und
misstrauisch.
MULK beruht, wenn auch
nur im Kern, auf einem wahren Fall aus Kanpur in Uttar Pradesh, auf
den Sinha durch einen Zeitungsausschnitt aufmerksam wurde. Am
9. März 2017 wurde in Lucknow nach 12-stündiger Belagerung der
Terrorist Saifullah Khan erschossen. Er war mitverantwortlich für
den Anschlag auf den Passagierzug Bhopal-Ujjain, bei dem 10 Menschen
verletzt wurden. Saifullah hatte zwei Monate zuvor nach einem Streit
mit Vater Safir Khan das Haus verlassen und wurde gemeinsam mit einem
Freund Terrorist. Safir Khan verweigerte die Entgegennahme des von
Kugeln zerfetzten Körpers von Sohn Saifullah, da er ein Verräter
seines Landes sei und so einer könne nicht sein Sohn sein. Er wolle
aber auch Beweise sehen. Von diesem Ereignis hat MULK eine der großen
Schlüsselszenen entlehnt, nur dass hier die Mutter des Terroristen
im Inneren des Hauses schon weinend diese Ablehnung herausschreit,
und dann Murad als Onkel vor der Tür in aller Öffentlichkeit diesen
Akt der demonstrativen Distanzierung vollzieht. Auch die
Feindseligkeit der Nachbarschaft gegen die Familie, Steinwürfe,
alles, was der Film in dieser Hinsicht zeigt, hat es in Wirklichkeit
gegeben.
MULK ist ein Film, der es
sich nicht einfach macht, weder in die eine noch in die andere
Richtung. Einerseits nimmt er Moslems gegen Vorurteile der
Mehrheitsgesellschaft in Schutz. Aber andererseits erzählt er auch
nicht eine einfache Opfergeschichte. Der Film enthält immerhin genug
Ambivalenz, damit Pakistan ihn verboten hat. Da ist beispielsweise
die Schwiegertochter, eine Hindu, die sich scheiden lassen will, da
der moslemische Ehemann eine Festlegung auf den Islam noch vor der
Geburt von Kindern verlangt. Und es gibt auch moslemische
Terror-Sympathisanten in Indien, wie bei einigen Gläubigen von
Murads Moschee, die für den vermeintlichen Märtyrer beten wollen.
So etwas lässt der Film nicht aus. Denn Filmen, die so etwas
auslassen, muss man mit Misstrauen betrachten. Dann haben sie etwas
zu verbergen und sind nicht aufrichtig. Sinha bemüht sich jedenfalls
ohne Schablonen um ein reales, ausgewogenes Porträt einer Familie,
einer Nachbarschaft, eines Staates.
Als Vergleich bietet sich
ein Film an, den ich ziemlich zeitgleich mit MULK gesehen habe, der
hingegen es sich einfach macht. Arun Karthicks NASIR (2020) war kurz auf einem der
Corona-Internetfilmfestivals zu sehen. Unter dem europäisch
finanzierten Deckmantel des Realismus tut die Geschichte denen, für
die sie vermeintlich erzählt wird, keinen Gefallen. Ein einfacher
moslemischer Angestellter geht seiner Arbeit nach und begegnet auf dem
Nachhauseweg einem aufgehetzten Hindu-Mob und wird totgeprügelt. Was
in der Vorlage, der Kurzgeschichte von Dilip Kumar (nur eine
zufällige Namensähnlichkeit mit dem größten aller indischen
Filmschauspieler), vermutlich ein kleiner poetischer und schockierend
endender Ausschnitt aus dem Leben eines Mannes ist, bekommt im Kino ganz andere, allgemeingültige Dimensionen. Da ist einmal ein echter
Vorbildmensch, arbeitsam, kultiviert, liebevoll, poetisch. Ein
bemitleidenswerter Mensch, der den ganzen Hinduismus um sich herum
ertragen muss. Und die bösen Hindus reden immer nur über
unanständige Sachen und sind fürchterlich verkommen. Humanistische Propaganda
ist auch Propaganda. NASIR ist im Grunde europäisch mitfinanzierte
Anti-Hindu-Propaganda versteckt unter dem Siegel des Arthouse-Films.
Würde man die Geschichte anders herum erzählen, etwa ein Hindu oder Christ in Pakistan, käme sofort der
Vorwurf der „Islamophobie“.
Einen großen Raum nimmt
in MULK der Prozess ein. Sartaj Khan ist wohl in irgendeiner Form
auch vor Gericht gezogen, aber der Prozess in MULK ist Fiktion. Diese
Anklagen und Verhaftungen hat es nicht gegeben. Das hat Anubhav Sinha
bewusst auf die Spitze getrieben. Es geht ihm um etwas anderes, um
Grundsätzlicheres, ganz einfach um die konkrete Frage des
Kollektivverdachts, der an sich in weiten Kreisen der indischen
Bevölkerung gegen indische Moslems existiert. Daher sind große Teile des Prozesses rein
rhetorisch und haben eine Funktion. Der Film kritisiert zwar nicht
die Tatsache, dass die Familie durchleuchtet wurde, aber er
unterstellt den Behörden eine absichtlich einseitige Sicht, die den
Prozess nicht auf Fakten, sondern auf Propaganda fußen lässt. Die
Frage ist: Wie beweist man das Gegenteil? Wie beweist man
Patriotimus, Zugehörigkeit, Heimatgefühl in Indien, dass man nicht
mit dem Terroristen-Staat Pakistan sympathisiert. Anstatt die Familie
nur für ihre Ahnungslosigkeit, ihre falsche Rücksicht zu
kritisieren, arbeitet die Anklage mit einer Kollektivanklage, indem
sie alles auf unwiderlegbare Verallgemeinerungen und unbewiesene Behauptungen gründet.
Sinha arbeitet mit einem
beweglichen, fließenden Stil über 135 Minuten, und entgeht mit
Hilfe von innerer Spannung und authentischer Lebendigkeit den Fallen
des Thesenfilms, des Betroffenheitsfilms, den man nur für die
Botschaft dreht. Allein am Anfang das Porträt der Familie mit einer
beweglichen Kamera, dem Wechsel der Figuren hat echte Eleganz. Dann
ist Sinha ganz dicht dran beim Wirbel um den Terroristen, die
Schießerei, die Polizei, die Medien. So kann er es sich erlauben,
den Prozess etwas statisch sein zu lassen, was Prozessfilme aber nun
mal so an sich haben.
Taapsee Pannu spielt die weibliche Hauptrolle als Anklägerin, die gegen den
aggressiven Stil des Staatsanwaltes den richtigen Ton finden muss.
Aber der Film gehört vor allem den Darstellern der Brüder. Rishi
Kapoor, der bis zu seinem Tod immer besser wurde, ist ernst,
sachlich, würdevoll. Er verzichtet darauf, die Figur künstlich
sympathisch zu machen, lässt ihn nur bei der Party am Anfang lächeln
und lachen. Er biedert sich nicht an, bettelt nicht , lässt sich
nicht zum Opfer machen. Ein Mann, der sich die ganze Zeit seine Würde
bewahrt. Und Manoj Pahwa als der Darsteller des zuerst verhafteten
und angeklagten Bruders Bilaal, Vater des Terroristen, hat hier
einmal eine richtig große angemessene Rolle, ist mit der tragischen
Figur des Films, die sich in seiner eigenen Nachlässigkeit
verheddert sieht, fast der heimliche Hauptdarsteller. Pahwa
verwandelt die Schwäche der Figur in großes mitleiderregendes
Pathos.