Raj
Kumar Guptas INDIA'S MOST WANTED (2019) beginnt ganz harmonisch. Es
ist ein schöner sonniger Tag in Pune. Junge Leute sitzen vor einem
Café. Ein Pärchen macht Musik. Drinnen sieht man jemanden an einem
Tisch, immer in der Rückenansicht, und so wie Hindi-Kino
funktioniert, könnte man sich zunächst vorstellen, dass hier gleich
der Hauptdarsteller einen mysteriös-spektakulären Eingangsauftritt
hat. Aber diese Person steht
bloß auf und
geht weg, und kurz darauf geht eine Bombe hoch. Es ist ein
schlimmer Terrorakt in einer Reihe von vielen. Und in gewisser Weise
ist dieser Mann ein heimlicher, unheimlicher, unsichtbarer zweiter
Hauptdarsteller, denn er ist das große Phantom, nach dem gesucht
wird. Immer wieder ertönt seine Stimme aus dem Off mit der
bekannten Terrorlogik, nach der sterben muss, wer sich nicht
bekehren lässt. Dazu gibt es Bilder von den Terroranschlägen, um
die Echtheit des
Geschehens zu
untermauern. Auf grausige Details wird dankenswerterweise
verzichtet. Die wichtigen indischen Sicherheitsdienste stehen vor
einem Rätsel. Sie haben noch keine Ahnung, dass Ahmed
Siddibapa der Chef der Indian Mujaheedin ist, die ab 2008 für eine
Reihe von Bombenanschlägen mit mehreren 100 Toten verantwortlich
war.
Auch Guptas zweiter Film
NO ONE KILLED JESSICA (2011) orientierte
sich an einem wahren Mordfall, aber darüber
war ja alles
bekannt. Es war ein Mordfall, dessen
Vertuschung die Medien und die Öffentlichkeit verhinderten. Alles
steht in den Akten und in den Zeitungen. Diesmal ist nur der
grobe Rahmen absolut sicher: 2013 ging ein indisches Undercover-Team
nach Nepal, um diesen zu der Zeit schlimmsten indischen Terroristen
ausfindig zu machen und mit nach Indien zu bringen. Es gelang ihnen.
Aus Sicherheitsgründen kennt man weder
die Details noch die Namen der Beteiligten. Auf jeden Fall war es
eine Aktion ohne Waffen, denn die durften sie nicht tragen in Nepal.
Das wiederum erinnert an Guptas letzten, sehr gelungenen Film
RAID (2018), wo ein Steuerbeamter ohne Gewalt eine ganze Mob-Familie
auseinandernimmt und ihr verstecktes Schwarzvermögen ausfindig
macht. Auch diesmal geht es um Teamwork mit einem nicht minder
besessenen Chef, der sein Leben dem Dienst am Land untergeordnet hat.
Hier herrscht ein
praktischer, unpompöser Patriotismus vor, einer des Einsatzes, der
Tat, nicht der hohlen Rhetorik. Die Agenten sind Alltagsmenschen,
keine Superhelden. Arjun Kapoor spielt mit stiller Entschlossenheit
den Leiter des Teams, dem bequeme Bürokraten das Leben
schwer machen. Das ist zwar Standard in Spionagefilmen, aber dadurch
nicht weniger wahr. Das Team besteht aus Männern, die zwar
Terroristen jagen können, aber wie alle normalen Männer Angst vor
der Ehefrau haben. Die sind nicht zu Unrecht oft böse, denn die
Männer zweigen für ihren Job schon mal privates Geld ab, obwohl sie sowieso schon so wenig bekommen. Der Jüngste
verschweigt seiner Mutter diesen Job sogar, weil die ihn sonst im
Zimmer einsperren würde. Es ist der Einsatz des Einzelnen, der hier alles am
Laufen hält, nicht die überbezahlte Staatsmaschinerie.
Die Story ist sehr
einfach, sehr geradlinig. Es geht darum, einen Informanten zu
treffen, dessen Glaubwürdigkeit zu überprüfen, den Terroristen
ausfindig zu machen, ihn zu fangen und über die Grenze nach Indien
zu verschleppen. Das ist alles ganz normale Agentenarbeit. INDIA'S
MOST WANTED ist dicht und spannend, kommt aber fast ohne Schießerei
aus. Da hat man einfach Vergnügen an den Mechanismen, die da
ablaufen. Klassische Katz-und-Maus-Spannung entsteht durch die Gegner
vom pakistanischen Geheimdienst, die den Indern hinterherjagen und
ihren Verbündeten, den Terroristen, schützen wollen. Eingebettet
ist alles in das städtische Flair von Kathmandu und die Landschaft Nepals. Die
Wiedergabe dieser Atmosphäre ist sehr gelungen, was überhaupt eine der Stärken von
Gupta ist. In AAMIR (2008) schickte er durch die dunklen Straßen von Mumbai einen unbeteiligten Mann, den anonyme Terroristen auf perfide Weise als
Attentäter missbrauchen. INDIA'S MOST WANTED ist nicht so düster.
Und der Terrorist wird aus seiner Anonymität gezogen. Ahmed
Siddibapa ist inzwischen zum Tode verurteilt worden.