Letztes Jahr kam Sandeep
Vangas Hindi-Film KABIR SINGH (2019) mit Shahid Kapoor in der
Hauptrolle in die Kinos, ein Remake des Telugu-Films ARJUN REDDY
(2017) von demselben Regisseur. Dass ich KABIR SINGH nicht gesehen
habe, erweist sich rückblickend plötzlich als Glücksfall,
denn so konnte ich jetzt das Original ganz frisch entdecken. Übrigens gibt
es auch noch das mir ebenfalls unbekannte Tamil-Remake ADITHYA VARMA
(2019) von Gireesaaya, mit Vikrams Sohn Dhruv Vikram in der
Hauptrolle.
ARJUN REDDY ist ein
Phänomen, ein absolut unperfekter, überlanger Film, dessen Charme
man sich aber unmöglich entziehen kann. Fürs indische, speziell
südindische Kino kam sicher auch noch der Reiz des Ungewöhnlichen,
des Anderen dazu, aber auch so, wenn man hier in Westeuropa mit
sogenanntem Arthouse-Kino vollgestopft ist, hat er seine Faszination,
wobei gerade die Schwächen das Interessante ausmachen. Wie gesagt,
der Film ist zu lang, aber man möchte dann doch nichts
herausschneiden. Den Figuren, der Logik an sich, kann man manchmal
geistig nicht ganz folgen, es dann doch einfach zu tun, ist das
Lustige daran. Man kann den Kult-Status dieses Films voller abrupter, unvermittelter Brüche also
nachvollziehen.
ARJUN REDDY wirkt wie ein
äußerst persönlicher Film, wo jemand ziemlich ungefiltert private Erfahrungen
verarbeitet, wo der direkte Ausdruck wichtiger ist als das kalkuliert
Glatte. Schon die beiden Hauptfiguren sind seltsam. Arjun Reddy
selbst ist eine seltsame Hauptfigur, mit charmanter und ungerührter
Arroganz gespielt von Vijay Devarakonda. Er hat die Wutanfälle eines
Masala-Bösewichts oder eines Psycho-Mafiosi, aber er ist
Vorzeige-Mediziner auf dem College. Er beschimpft und verprügelt
andere, aber am meisten schadet er sich selbst. Dann ist da eine
seltsame weibliche Hauptfigur, die erziehungsbedingt sehr schweigsam
ist, kaum zu existieren scheint. Und da fragt man sich schon, ob sie
den autoritären Vater bloß durch eine andere starke Persönlichkeit
ersetzt. Aber das ist nicht wirklich Thema des Films, das dachte ich
bloß nach Ende des Films so nebenbei. Auf jeden Fall ist sie für
einen Egomanen wie Arjun die ideale Projektionsfläche. So hat er
jemanden zum Beschützen. Andererseits schläft er ein mit dem Kopf
auf ihrem Schoß, woraufhin sie es eine ganze Nacht lang nicht wagt,
sich zu rühren und selbst sitzend einschläft. Und stille Wasser
sind manchmal tief. Die Liebe zwischen beiden übersteht sogar eine
jahrelange Fernbeziehung.
ARJUN REDDY ist auch ein
Gesellschaftsporträt, das zwei scheinbar schwer
vereinbare Welten darstellt. Da ist einmal die Jugend, das freie
Leben der jungen gut Begüterten auf dem College, wo es tatsächlich
sehr frei und sehr wild zugehen kann. Und dann ist da das
ritualisierte Leben der Ehe, wo die Familie dazukommt, selbst wenn
man Jahre vorher in wilder Ehe gelebt hat. Plötzlich existiert man
nicht mehr für sich alleine. Alles, was man tut, hat Auswirkungen
auf das familiäre Kollektiv. Grenzenloser Individualismus und
Einordnung in eine Gruppe mit traditionelleren Vorstellungen. Das ist
ein Widerspruch, den man erst einmal unter einen Hut stopfen muss.
Und in ARJUN REDDY geht das zunächst gar nicht gut. Und der junge
Mediziner sucht einsam und verlassen Trost in Alkohol und Drogen.
ARJUN REDDY hat aber
absolut nichts Tragisches. Ganz im Gegenteil. Es ist schon fast
unmoralisch, wie viel Spaß der Film in dieser Beziehung vermittelt.
Und das ist man vom indischen Kino nicht so gewohnt. Der absurde,
manchmal sprachlos machende Humor, der sich mit den Drogen, aber auch
den Wutanfällen verbindet, ist einer der Stärken des Films, während
die Liebesgeschichte nicht wirklich innerlich ist. Es hat einfach
etwas, wie man Reddy aus dem Alkoholkoma holt mit ein paar dicken
Linien Kokain. Und es hat etwas, wenn er voller Drogen eine Operation
leitet, indem er den Schwestern sagt, was sie tun sollen und dann vom
Stuhl kippt. Überraschenderweise gibt es keine Sex-Exzesse. Er heult
sich überall aus und alle Frauen bemuttern ihn. Allenfalls sucht er
mal eine Freundin für die physischen Bedürfnisse. Und dann muss er
doch „Ich liebe dich“ hören, und das ist der Satz, den er nicht
hören will. Wunderbar ist Arjuns sinnloses Gerede, die seltsamen
Theorien, die er in seinem Nebel aufstellt. Alles klingt so logisch
und ist doch nur Käse. Und das ist realistisch, diese unglaublich
reale Parallelwelt des Drogen- und Alkoholkonsumenten, bei der man
aufpassen muss, sich nicht anstecken zu lassen.
ARJUN REDDY könnte
man durch folgende Reihung legendärer Filmgestalten
zusammenfassen: DEVDAS trifft PIERROT LE FOU trifft den HULK. Dabei ist
Devdas die Grundlage, und anders geht es in Indien vermutlich
nicht, wenn unglückliche Liebe und Selbstzerstörung sich verbinden.
Die Struktur ist dieselbe: Mann und Frau, die füreinander geschaffen
sind, kriegen sich nicht. Hauptschuld ist die Unversöhnlichkeit und
Verwöhntheit des Mannes, der es nicht gewohnt ist, mit
Schwierigkeiten umzugehen. Seine Aggressionen sind auch ein
Schutzmechanismus dagegen. Sie heiratet jemand anders. Er kann sie
nicht vergessen und säuft sich in den Abgrund. Ein Freund hilft ihm.
Aber es muss heutzutage
eine unstillbare Sehnsucht nach einem Happy End geben, so harmonisch
wandelt sich am Ende alles. Aber die Zeiten haben sich ja wirklich
geändert. ARJUN REDDY nutzt die Moderne, wo auch eine indische Frau
nach drei Tagen Ehe einfach gehen kann und wo sie notfalls auch
alleine ein Kind großziehen kann. Schon Anurag Kashyap hatte seine
moderne Devdas-Version DEV.D (2009) vor zehn Jahren auf die Leinwand gebracht, und bei ihm
gab es ebenfalls ein glückliches Ende, wenn auch mit Chandramukhi, bekanntlich die Prostituierte, bei der der
originale Devdas nicht bleiben kann, weil seine Erziehung ihn eben
doch sehr elitär gemacht hat. Da soll noch einer sagen, früher wäre alles besser gewesen.