Dieses Blog durchsuchen

Donnerstag, 16. Januar 2020

ARJUN REDDY – Sex, Drogen & Wutanfälle

Letztes Jahr kam Sandeep Vangas Hindi-Film KABIR SINGH (2019) mit Shahid Kapoor in der Hauptrolle in die Kinos, ein Remake des Telugu-Films ARJUN REDDY (2017) von demselben Regisseur. Dass ich KABIR SINGH nicht gesehen habe, erweist sich rückblickend plötzlich als Glücksfall, denn so konnte ich jetzt das Original ganz frisch entdecken. Übrigens gibt es auch noch das mir ebenfalls unbekannte Tamil-Remake ADITHYA VARMA (2019) von Gireesaaya, mit Vikrams Sohn Dhruv Vikram in der Hauptrolle.

ARJUN REDDY ist ein Phänomen, ein absolut unperfekter, überlanger Film, dessen Charme man sich aber unmöglich entziehen kann. Fürs indische, speziell südindische Kino kam sicher auch noch der Reiz des Ungewöhnlichen, des Anderen dazu, aber auch so, wenn man hier in Westeuropa mit sogenanntem Arthouse-Kino vollgestopft ist, hat er seine Faszination, wobei gerade die Schwächen das Interessante ausmachen. Wie gesagt, der Film ist zu lang, aber man möchte dann doch nichts herausschneiden. Den Figuren, der Logik an sich, kann man manchmal geistig nicht ganz folgen, es dann doch einfach zu tun, ist das Lustige daran. Man kann den Kult-Status dieses Films voller abrupter, unvermittelter Brüche also nachvollziehen.

ARJUN REDDY wirkt wie ein äußerst persönlicher Film, wo jemand ziemlich ungefiltert private Erfahrungen verarbeitet, wo der direkte Ausdruck wichtiger ist als das kalkuliert Glatte. Schon die beiden Hauptfiguren sind seltsam. Arjun Reddy selbst ist eine seltsame Hauptfigur, mit charmanter und ungerührter Arroganz gespielt von Vijay Devarakonda. Er hat die Wutanfälle eines Masala-Bösewichts oder eines Psycho-Mafiosi, aber er ist Vorzeige-Mediziner auf dem College. Er beschimpft und verprügelt andere, aber am meisten schadet er sich selbst. Dann ist da eine seltsame weibliche Hauptfigur, die erziehungsbedingt sehr schweigsam ist, kaum zu existieren scheint. Und da fragt man sich schon, ob sie den autoritären Vater bloß durch eine andere starke Persönlichkeit ersetzt. Aber das ist nicht wirklich Thema des Films, das dachte ich bloß nach Ende des Films so nebenbei. Auf jeden Fall ist sie für einen Egomanen wie Arjun die ideale Projektionsfläche. So hat er jemanden zum Beschützen. Andererseits schläft er ein mit dem Kopf auf ihrem Schoß, woraufhin sie es eine ganze Nacht lang nicht wagt, sich zu rühren und selbst sitzend einschläft. Und stille Wasser sind manchmal tief. Die Liebe zwischen beiden übersteht sogar eine jahrelange Fernbeziehung.

ARJUN REDDY ist auch ein Gesellschaftsporträt, das zwei scheinbar schwer vereinbare Welten darstellt. Da ist einmal die Jugend, das freie Leben der jungen gut Begüterten auf dem College, wo es tatsächlich sehr frei und sehr wild zugehen kann. Und dann ist da das ritualisierte Leben der Ehe, wo die Familie dazukommt, selbst wenn man Jahre vorher in wilder Ehe gelebt hat. Plötzlich existiert man nicht mehr für sich alleine. Alles, was man tut, hat Auswirkungen auf das familiäre Kollektiv. Grenzenloser Individualismus und Einordnung in eine Gruppe mit traditionelleren Vorstellungen. Das ist ein Widerspruch, den man erst einmal unter einen Hut stopfen muss. Und in ARJUN REDDY geht das zunächst gar nicht gut. Und der junge Mediziner sucht einsam und verlassen Trost in Alkohol und Drogen.

ARJUN REDDY hat aber absolut nichts Tragisches. Ganz im Gegenteil. Es ist schon fast unmoralisch, wie viel Spaß der Film in dieser Beziehung vermittelt. Und das ist man vom indischen Kino nicht so gewohnt. Der absurde, manchmal sprachlos machende Humor, der sich mit den Drogen, aber auch den Wutanfällen verbindet, ist einer der Stärken des Films, während die Liebesgeschichte nicht wirklich innerlich ist. Es hat einfach etwas, wie man Reddy aus dem Alkoholkoma holt mit ein paar dicken Linien Kokain. Und es hat etwas, wenn er voller Drogen eine Operation leitet, indem er den Schwestern sagt, was sie tun sollen und dann vom Stuhl kippt. Überraschenderweise gibt es keine Sex-Exzesse. Er heult sich überall aus und alle Frauen bemuttern ihn. Allenfalls sucht er mal eine Freundin für die physischen Bedürfnisse. Und dann muss er doch „Ich liebe dich“ hören, und das ist der Satz, den er nicht hören will. Wunderbar ist Arjuns sinnloses Gerede, die seltsamen Theorien, die er in seinem Nebel aufstellt. Alles klingt so logisch und ist doch nur Käse. Und das ist realistisch, diese unglaublich reale Parallelwelt des Drogen- und Alkoholkonsumenten, bei der man aufpassen muss, sich nicht anstecken zu lassen.

ARJUN REDDY könnte man  durch folgende Reihung legendärer Filmgestalten zusammenfassen: DEVDAS trifft PIERROT LE FOU trifft den HULK. Dabei ist Devdas die Grundlage, und anders geht es in Indien vermutlich nicht, wenn unglückliche Liebe und Selbstzerstörung sich verbinden. Die Struktur ist dieselbe: Mann und Frau, die füreinander geschaffen sind, kriegen sich nicht. Hauptschuld ist die Unversöhnlichkeit und Verwöhntheit des Mannes, der es nicht gewohnt ist, mit Schwierigkeiten umzugehen. Seine Aggressionen sind auch ein Schutzmechanismus dagegen. Sie heiratet jemand anders. Er kann sie nicht vergessen und säuft sich in den Abgrund. Ein Freund hilft ihm.

Aber es muss heutzutage eine unstillbare Sehnsucht nach einem Happy End geben, so harmonisch wandelt sich am Ende alles. Aber die Zeiten haben sich ja wirklich geändert. ARJUN REDDY nutzt die Moderne, wo auch eine indische Frau nach drei Tagen Ehe einfach gehen kann und wo sie notfalls auch alleine ein Kind großziehen kann. Schon Anurag Kashyap hatte seine moderne Devdas-Version DEV.D (2009) vor zehn Jahren auf die Leinwand gebracht, und bei ihm gab es ebenfalls ein glückliches Ende, wenn auch mit Chandramukhi, bekanntlich die Prostituierte, bei der der originale Devdas nicht bleiben kann, weil seine Erziehung ihn eben doch sehr elitär gemacht hat. Da soll noch einer sagen, früher wäre alles besser gewesen.