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Freitag, 21. Februar 2020

Imtiaz Alis LOVE AAJ KAL – Lebensplanung und Liebesmut


Imtiaz Ali kehrt mit LOVE AAJ KAL (2020) zu alter Form zurück. Es war ja irgendwie deprimierend, dass er zuletzt ausgerechnet mit Shah Rukh Khan, immerhin der beste Schauspieler seiner Hero-Generation, den eher mittelmäßigen JAB HARRY MET SEJAL (2017) drehte, ganz unterhaltsam zwar, aber mehr nicht. Da ging es unter anderem ums Älterwerden in einer Altersunterschied-Romanze zwischen Khan und Anushka Sharma.

In Alis neuem Film geht es nebenbei auch ums Alter, aber hier vermischen sich jung und alt nicht. Im Übrigen müsste es ja eigentlich LOVE AAJ KAL 2 heißen, da er 2009 einen Film mit demselben Titel und Saif Ali Khan und Deepika Padukone in den Hauptrollen gedreht hat, aber offiziell wird das nicht gemacht. Dann will ich mich dem anschließen. Nur zwei Jahreszahlen vermerkt das Plakat als Unterschied: Es geht um Liebe 1990 und Liebe 2020 in Indien, wohlgemerkt innerhalb einer gebildeten, gut situierten, städtischen Mittelschicht, deren größtes Problem nicht Essen oder Wohnung ist, sondern ob der geschiedene Ex-Mann genug Geld überweist, um den Gärtner zu bezahlen. Das sind im Grunde ja doch direkt beneidenswerte Probleme.

Ali ist ja einer der wenigen Mainstream-Regisseure in Bollywood, die konsequent sehr persönliche Filme drehen und bei denen es wirklich Sinn macht, von „Auteur“ zu reden. Er macht meistens Liebesfilme, in denen viel geredet wird, und die immer auch ein bisschen zwar sehr lebendige, aber nichts desto weniger theoretische Abhandlungen über das Leben und die Liebe sind. Gleichzeitig erzählt Ali nicht bloß gerne eine Geschichte, er erzählt auch verstärkt über das Erzählen selbst. Das war schon extrem der Fall in TAMASHA (2015), einem Film über Fiktion und Wirklichkeit zweier Menschen, über Urlaub vom Ich und Alltag des Ichs.

Hauptdarstellerin von LOVE AAJ KAL ist Sara Ali Khan, die jetzt endlich den richtigen Regisseur und den richtigen Film gefunden hat, um überzeugend zu beweisen, dass sie tatsächlich mehr ist als ein von Filmfare gepuschtes Covergirl. Sie ist sehr lebendig, sehr natürlich und offen. Und es kommt mir fast so vor, als käme die Art ihres Talentes mehr von der Großmutter als vom Vater, der immer ein bisschen spröde ist.

In LOVE AAJ KAL ist Sara Ali Khan die Verkörperung des jungen, modernen Mädchens, das Karriere machen will und alles geplant hat, bis sie 55 ist. Was diese Figur angeht, musste ich an ein nicht zu überhörendes Gespräch irgendwann im Bus von zwei junge Damen – hinter mir, ich weiß also nicht, wie sie aussahen – denken, wo die eine der anderen ihren gesamten Lebens- und Heiratsplan auseinandersetzte, sogar die Regelung der Vermögensverhältnisse beim Hauskauf hatte sie in ihrem Kopf schon geregelt. Nur den Mann dafür hatte sie glaube ich noch nicht. So jung, und schon so alt. Jedenfalls geht Sara Ali Khans Figur in diese Richtung. Dann aber trifft sie auf einen jungen Mann, der es ernst mit ihr meint und das bringt sie aus der leichtlebigen und bequemen Fassung und sie fürchtet um ihre schöne Lebensplanung.

Kartik Aaryan spielt diesen jungen Mann als intelligenten Schluffi, der wie aus der Zeit gefallen wirkt und der zwar nicht genau weiß, was er will – das wäre ja zu viel Planung – der aber ganz genau weiß, was er nicht will. Er will keine Oberflächlichkeit. Er will keinen Sex, den er, wie er einmal einer an ihm interessierten Arbeitskollegin sagt, auch mit sich selbst haben kann, aber er will auch keine oberflächliche Beziehung oder Ehe, wie seine Eltern sie haben. Khan und Aaryan harmonieren gut als Pärchen mit Schwierigkeiten, aber sie sind doch auch so unterschiedlich, dass es nicht bösartig ist, sich zu fragen, ob das denn gut gehen kann. Aber die Liebe fällt nun mal hin, wo sie hinfällt.

Doch Ali begnügt sich eben nicht damit, einfach eine chronologische, standardmäßige Liebesgeschichte zu erzählen. Denn womit Sara Ali Khan wirklich kämpfen muss, das sind all die Geschichten um sie herum. Denn schnell im Film stellt sich heraus, dass auch ihre Lebensplanung im Grunde schon von Geschichten ferngesteuert wurde. Denn sie ist sozusagen der Karriere-Avatar der unrealisierten Träume der frustrierten, geschiedenen Mutter. Wir sind eben alle auch auf die eine oder andere Art das Produkt von Erzählungen, Geschichten, Fiktion, seien es die mehr oder weniger subtilen Fernsteuerungen von Eltern, Erwachsenen, die die eigenen Fehler oder Versäumnisse mit Hilfe einer jungen Generation ausbügeln wollen, seien es die Geschichten aus Filmen und ihren Liebesgeschichten, vor allem in einer Zeit, wo das realistischere Melodrama durch das kitschige Seifenopern-Prinzip ersetzt wurde. Und sämtliche neoromantischen Bollywood-Filme haben davon etwas. Gar nicht zu reden von den vielen TV-Serien. Am Ende muss sie frustriert einsehen, dass das Reden der Mutter von Unabhängigkeit nur ein Ergebnis von Traurigkeit und Frustration, nicht von wirklichem Wissen oder echter Weisheit ist. Das kapiert sie, als die Mutter es plötzlich für eine gute Idee hält, dass die Tochter einen Reichen heiratet.

Und dann ist da der ältere Randeep Honda als Internet-Café-Besitzer Raghu, der das Jahr 1990 verkörpert, wo er einst die eine große, durch eigenes Verschulden traurig endende Liebesgeschichte erlebte, obwohl er seiner Angebeteten nach Delhi gefolgt war und dafür sein Medizinstudium, sein ganzes Leben hinter sich gelassen hatte. Diese Story wird in LOVE AAJ KAL in drei Etappen erzählt und jedes Mal bedeutet sie etwas anderes und löst eine andere Reaktion bei Sara Ali Khan aus, stürzt sie tatsächlich von einem Extrem ins andere. Und Kartik Aaryan spielt ziemlich brillant in einer Doppelrolle auch den jungen Raghu.

1990 und 2020, in LOVE AAJ KAL geht es um die Relativität von Zeit, Ort, Sitten und Werte. Nostalgie nach der guten alten Zeit ist ebenso dumm wie die Verherrlichung des moralischen Fortschritts, der vielleicht gar keiner ist. Es gibt keine Regeln, kein Prinzip. Es gibt keine Zeit, die einfacher war. Und ja, es ist kompliziert, aber auch nicht planbar. Aber das Leben ist auch unerbittlich. Man kann Versäumtes nichts nachholen. Es gibt Fehler, die kann man nicht wieder gutmachen.

LOVE AAJ KAL ist, wie gezeigt, eine sehr verschachtelte Geschichte. Aber Ali ist nicht nur dramaturgisch, sondern auch visuell und von der Inszenierung her ein in jeder Hinsicht sehr sorgfältiger Regisseur. Und daher wünschte ich, ich könnte den Film noch einmal sehen, um genauer darauf einzugehen. Da gibt es beispielsweise eine Szene in dem Café, wo Khan und Honda sich unterhalten. Sie kommt herein, während draußen vor der Tür noch Leute zu sehen sind. Sie muss erst einmal zur Ruhe kommen, die Leute draußen verlassen das Bild. Auf die Art wird ganz unmerklich Stille hergestellt und wie nach einem Atemholen kann das ernste, intimere Gespräch beginnen.

Während des Nachspanns, der früher ein Vorspann gewesen wäre, gibt es den schönen Song „Haan Main Galat“ in stiliserten Studiokulissen, die Personen, Themen und Orte des Films aufgreifen. Und während des richtigen Nachspanns sieht man das erstarrte Bild von Romeo, der vor dem Balkon steht, dazu Stimmen und Geräusche, die vielleicht in seinem Kopf herumspuken und ihn vom Klettern abhalten. Aber vielleicht auch inspirieren. Das ikonische Bild einer Liebesgeschichte mit „Magie“, wie der Film es nennt.