Imtiaz Ali kehrt mit LOVE
AAJ KAL (2020) zu alter Form zurück. Es war ja irgendwie
deprimierend, dass er zuletzt ausgerechnet mit Shah Rukh Khan,
immerhin der beste Schauspieler seiner Hero-Generation, den eher
mittelmäßigen JAB HARRY MET SEJAL (2017) drehte, ganz unterhaltsam
zwar, aber mehr nicht. Da ging es unter anderem ums Älterwerden in
einer Altersunterschied-Romanze zwischen Khan und Anushka Sharma.
In Alis neuem Film geht
es nebenbei auch ums Alter, aber hier vermischen sich jung und alt
nicht. Im Übrigen müsste es ja eigentlich LOVE AAJ KAL 2 heißen,
da er 2009 einen Film mit demselben Titel und Saif Ali Khan und Deepika Padukone in den Hauptrollen gedreht hat, aber offiziell wird das
nicht gemacht. Dann will ich mich dem anschließen. Nur zwei
Jahreszahlen vermerkt das Plakat als Unterschied: Es geht um Liebe
1990 und Liebe 2020 in Indien, wohlgemerkt innerhalb einer
gebildeten, gut situierten, städtischen Mittelschicht, deren größtes
Problem nicht Essen oder Wohnung ist, sondern ob der geschiedene
Ex-Mann genug Geld überweist, um den Gärtner zu bezahlen. Das sind
im Grunde ja doch direkt beneidenswerte Probleme.
Ali ist ja einer der
wenigen Mainstream-Regisseure in Bollywood, die konsequent sehr persönliche Filme
drehen und bei denen es wirklich Sinn macht, von „Auteur“ zu
reden. Er macht meistens Liebesfilme, in denen viel geredet wird, und
die immer auch ein bisschen zwar sehr lebendige, aber nichts desto
weniger theoretische Abhandlungen über das Leben und die Liebe sind.
Gleichzeitig erzählt Ali nicht bloß gerne eine Geschichte, er
erzählt auch verstärkt über das Erzählen selbst. Das war
schon extrem der Fall in TAMASHA (2015), einem Film über Fiktion und
Wirklichkeit zweier Menschen, über Urlaub vom Ich und Alltag des
Ichs.
Hauptdarstellerin von
LOVE AAJ KAL ist Sara Ali Khan, die jetzt endlich den richtigen
Regisseur und den richtigen Film gefunden hat, um überzeugend zu
beweisen, dass sie tatsächlich mehr ist als ein von Filmfare
gepuschtes Covergirl. Sie ist sehr lebendig, sehr natürlich und
offen. Und es kommt mir fast so vor, als käme die Art ihres Talentes
mehr von der Großmutter als vom Vater, der immer ein bisschen spröde
ist.
In LOVE AAJ KAL ist Sara
Ali Khan die Verkörperung des jungen, modernen Mädchens, das
Karriere machen will und alles geplant hat, bis sie 55 ist. Was diese
Figur angeht, musste ich an ein nicht zu überhörendes Gespräch
irgendwann im Bus von zwei junge Damen – hinter mir, ich weiß
also nicht, wie sie aussahen – denken, wo die eine der anderen
ihren gesamten Lebens- und Heiratsplan auseinandersetzte, sogar die
Regelung der Vermögensverhältnisse beim Hauskauf hatte sie in ihrem
Kopf schon geregelt. Nur den Mann dafür hatte sie glaube ich noch
nicht. So jung, und schon so alt. Jedenfalls geht Sara Ali Khans
Figur in diese Richtung. Dann aber trifft sie auf einen jungen Mann,
der es ernst mit ihr meint und das bringt sie aus der leichtlebigen
und bequemen Fassung und sie fürchtet um ihre schöne Lebensplanung.
Kartik Aaryan spielt
diesen jungen Mann als intelligenten Schluffi, der wie aus der Zeit
gefallen wirkt und der zwar nicht genau weiß, was er will –
das wäre ja zu viel Planung – der aber ganz genau weiß, was
er nicht will. Er will keine Oberflächlichkeit. Er will keinen Sex,
den er, wie er einmal einer an ihm interessierten Arbeitskollegin
sagt, auch mit sich selbst haben kann, aber er will auch keine
oberflächliche Beziehung oder Ehe, wie seine Eltern sie haben. Khan
und Aaryan harmonieren gut als Pärchen mit Schwierigkeiten, aber sie
sind doch auch so unterschiedlich, dass es nicht bösartig ist, sich
zu fragen, ob das denn gut gehen kann. Aber die Liebe fällt nun mal
hin, wo sie hinfällt.
Doch Ali begnügt sich
eben nicht damit, einfach eine chronologische, standardmäßige
Liebesgeschichte zu erzählen. Denn womit Sara Ali Khan wirklich
kämpfen muss, das sind all die Geschichten um sie herum. Denn
schnell im Film stellt sich heraus, dass auch ihre Lebensplanung im
Grunde schon von Geschichten ferngesteuert wurde. Denn sie ist
sozusagen der Karriere-Avatar der unrealisierten Träume der
frustrierten, geschiedenen Mutter. Wir sind eben alle auch auf die
eine oder andere Art das Produkt von Erzählungen, Geschichten,
Fiktion, seien es die mehr oder weniger subtilen Fernsteuerungen
von Eltern, Erwachsenen, die die eigenen Fehler oder Versäumnisse
mit Hilfe einer jungen Generation ausbügeln wollen, seien es die
Geschichten aus Filmen und ihren Liebesgeschichten, vor allem in
einer Zeit, wo das realistischere Melodrama durch das kitschige
Seifenopern-Prinzip ersetzt wurde. Und sämtliche neoromantischen
Bollywood-Filme haben davon etwas. Gar nicht zu reden von den vielen TV-Serien. Am Ende muss sie frustriert
einsehen, dass das Reden der Mutter von Unabhängigkeit nur ein Ergebnis von
Traurigkeit und Frustration, nicht von wirklichem Wissen oder echter
Weisheit ist. Das kapiert sie, als die Mutter es plötzlich für eine
gute Idee hält, dass die Tochter einen Reichen heiratet.
Und dann ist da der
ältere Randeep Honda als Internet-Café-Besitzer Raghu, der das Jahr
1990 verkörpert, wo er einst die eine große, durch eigenes
Verschulden traurig endende Liebesgeschichte erlebte, obwohl er
seiner Angebeteten nach Delhi gefolgt war und dafür sein
Medizinstudium, sein ganzes Leben hinter sich gelassen hatte. Diese
Story wird in LOVE AAJ KAL in drei Etappen erzählt und jedes Mal
bedeutet sie etwas anderes und löst eine andere Reaktion bei Sara
Ali Khan aus, stürzt sie tatsächlich von einem Extrem ins andere.
Und Kartik Aaryan spielt ziemlich brillant in einer Doppelrolle auch
den jungen Raghu.
1990 und 2020, in LOVE
AAJ KAL geht es um die Relativität von Zeit, Ort, Sitten und Werte.
Nostalgie nach der guten alten Zeit ist ebenso dumm wie die
Verherrlichung des moralischen Fortschritts, der vielleicht gar
keiner ist. Es gibt keine Regeln, kein Prinzip. Es gibt keine Zeit,
die einfacher war. Und ja, es ist kompliziert, aber auch nicht
planbar. Aber das Leben ist auch unerbittlich. Man kann Versäumtes
nichts nachholen. Es gibt Fehler, die kann man nicht wieder
gutmachen.
LOVE AAJ KAL ist, wie
gezeigt, eine sehr verschachtelte Geschichte. Aber Ali ist nicht nur
dramaturgisch, sondern auch visuell und von der Inszenierung her ein
in jeder Hinsicht sehr sorgfältiger Regisseur. Und daher wünschte
ich, ich könnte den Film noch einmal sehen, um genauer darauf
einzugehen. Da gibt es beispielsweise eine Szene in dem Café, wo
Khan und Honda sich unterhalten. Sie kommt herein, während draußen
vor der Tür noch Leute zu sehen sind. Sie muss erst einmal zur Ruhe
kommen, die Leute draußen verlassen das Bild. Auf die Art wird ganz
unmerklich Stille hergestellt und wie nach einem Atemholen kann das
ernste, intimere Gespräch beginnen.
Während des Nachspanns,
der früher ein Vorspann gewesen wäre, gibt es den schönen Song
„Haan Main Galat“ in stiliserten Studiokulissen, die Personen,
Themen und Orte des Films aufgreifen. Und während des richtigen
Nachspanns sieht man das erstarrte Bild von Romeo, der vor dem Balkon
steht, dazu Stimmen und Geräusche, die vielleicht
in seinem Kopf herumspuken und ihn vom Klettern abhalten. Aber vielleicht auch inspirieren. Das ikonische Bild einer Liebesgeschichte mit
„Magie“, wie der Film es nennt.