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Montag, 17. Februar 2020

Kabir Khans THE FORGOTTEN ARMY – Der Traum von Indien

Author: Kevin Thomas71293 (Wikimedia Commons)

Regisseur Kabir Khan, vor allem bekannt durch den Salman-Khan-Film BAJRANGI BHAIJAAN (2015), hat mit der empfehlenswerten Amazon-Prime-Miniserie THE FORGOTTEN ARMY (2020) endlich den Film über die Indian National Army gedreht, den er schon seit Jahren machen wollte. Über diese indische, antibritische Befreiungsarmee unter japanischer Protektion während des Zweiten Weltkrieges gibt es von Khan ja schon einen Dokumentarfilm von 1999, übrigens sein Debütfilm an sich, bevor er mit dem satirisch angehauchten Afghanistan-Spielfilm KABUL EXPRESS (2006) seinen Fiktionsdurchbruch hatte. THE FORGOTTEN ARMY – AZAADI KE LIYE (2020), ist seit Ende Januar bei Amazon Prime zu sehen. Wenn man die einzelnen Laufzeiten der fünf Folgen addiert, kommt man im Endeffekt auf gut 3 Stunden, also etwa so lang wie Bollywood-Filme früher viel öfter dauerten, bevor Drehbuch-Effizienz alles irgendwie kürzer und knapper machte. Das Ganze ist sehr ambitioniert. Man merkt, dass Khan sehr lange über das Thema nachgedacht hat.

Die INA, Indian National Army, mit ihrem zweiten Befehlshaber Subhash Chandra Bose ist ja kein einfaches Thema, weil Bose ausgerechnet mit Hilfe des Faschismus Indien befreien wollte. Erst war er deshalb in Deutschland bei Hitler, aber als das nicht so recht klappte, wandte er sich den Japanern zu. Die hatten gerade bei der Eroberung Singapurs die gesamte dort stationierte britische Armee als Kriegsgefangene genommen und die bestand nun einmal mehrheitlich aus der indisch-britischen Armee, also aus Indern. Dazu kamen Freiwillige, die in ostasiatischen Ländern lebten und teilweise nie in Indien gewesen waren. Sogar eine Fraueneinheit wurde aufgestellt. Militärisch war man dann nicht so erfolgreich, wobei der Monsun und fehlende Hilfe der Japaner, die gerade mit ihrem Rückzug aus Burma beschäftigt waren, das Ihrige dazu taten, die indische Armee krank zu machen und zu dezimieren.

Das Problem ist, dass ein freies und unabhängiges Indien in einer faschistischen, von Deutschland und Japan dominierten Welt, schwer vorstellbar ist. Aber gerade in der Niederlage wurde die INA siegreich, denn die indischen Proteste gegen die britischen Hochverratsprozesse der Nachkriegszeit gegen INA-Soldaten legten den Grundstein für das Erstarken der Unabhängigkeitsbewegung, die die Briten schließlich aus Indien wegfegen sollte. Die Person Boses selbst existiert in THE FORGOTTEN ARMY allerdings vor allem als lebender Mythos, als Ikone, als „Netaji“, als „respektierter Führer“. Dass es für ihn andernorts auch Begriffe wie „Indiens Quisling“, nach dem obersten Nazi-Kollaborateur in Norwegen gab, interessiert hier nicht.

Dass die Serie sehenswert ist, liegt ganz einfach daran, dass es Khan um etwas anderes geht als die politischen Zusammenhänge, die sich in Zeiten weltweiter totalitärer Herrschaft sowieso nicht mit dem moralischen Millimeterstab messen lassen. Auch in Osteuropa kämpften Menschen auf der Seite Hitlers, um einen verhassten Bolschewismus zu beseitigen. Es gab auch eine Russische Befreiungsarmee unter dem ehemaligen Generalleutnant der Roten Armee Andrej Wlassov. Auch Finnland stellte sich nach den Erfahrungen mit dem Winterkrieg-Überfall Stalins auf die deutsche Seite, um Gebiete von den Sowjets zurückzuholen. Und so sehr die Japaner Ostasien mit einem Terrorregime überzogen, so gab es auch in anderen asiatischen Ländern Befreiungsarmeen, die das Ganze als gute Gelegenheit betrachteten, den britischen Kolonialismus abzuschütteln.

Und man sollte nicht vergessen, dass es nicht zuletzt der Zweite Weltkrieg war, der die Briten so sehr schwächte, dass sie gar nicht mehr die Kraft besaßen, ihr Weltreich aufrechtzuerhalten. Ohne Krieg hätte sich das alles sicher noch länger hinausgezögert. Weltgeschichte ist wie ein Kaleidoskop. Nach jedem Schütteln sieht es anders aus. Und ist doch immer dasselbe. Khan klammert also folglich das große böse, widersprüchliche Weltgeschehen um die indische Armee herum aus und konzentriert sich auf die Schaffung eines schönen realistisch-pathetischen, idealistisch-patriotischen Films, wobei der Regisseur gleichzeitig seine Vorstellung von Indien hineinprojiziert. Hier wird sein Ideal eines demokratischen, säkularen Indiens Wirklichkeit: ein Indien ohne Kaste, Klassen, Religionen, das sagt sogar einmal jemand innerhalb des Films. Gleichzeitig steht die Serie in einer Reihe mit dem momentan in Bollywood stark gepflegten Patriotismus, auch wenn der in verschiedenen Facetten existiert.

Um diese alten Geschichten aus der musealen Heldenverehrung – es gibt ja einige INA-Gedenkstätten, an denen sich Politiker gerne fotografieren lassen – herauszuholen, hat Kabir Khan die Geschichte zweigeteilt und einen Bezug zur heutigen Zeit geschaffen. Zum einen wird die Geschichte der INA von der Schlacht um Singapur bis zu den Prozessen in Britisch Indien anhand einiger einzelner Figuren dargestellt, die auf realen Menschen beruhen. Auch sein eigener Dokufilm lieferte Khan da ausreichend Material. Und dann gibt es einen Gegenwartsteil, der 2009 spielt, wo ein alter INA-Kämpfer mit einem jungen Verwandten in das unter einer Militärdiktatur leidende Myanmar fährt, wo der Alte nach heftigen Auseinandersetzungen einen Soldaten erschießt, weshalb sie gemeinsam mit anderen indischstämmigen Birmanesen durch den Dschungel auf der damaligen Marschroute der INA durch das damalige Birma Richtung indische Grenze fliehen. Das alles ist korrekt, spannend, anschaulich, enthält gelungene Schlachtszenen. Gleich die vernichtende Schlacht um Singapur, in dem die Japaner auf Fahrrädern durch den dichten Wald fahren und überraschend angreifen, ist eine der beeindruckendsten Sequenzen des Films. Es gibt auch ein paar weniger überzeugende digitale Bilder, aber die stören das Gesamtbild nicht.

Eine Reihe junger ausgezeichneter, unbekannterer Darsteller, darunter Vicky Kaushals jüngerer Bruder Sunny, spielen die jungen Menschen, die ganz in ihrem Idealismus aufgehen. Sie haben zunächst alle verschiedene Gründe, dabei zu sein. Die junge Tochter eines indischen Fotografen, die aktuelle Bilder machen will und die Kämpferin in sich entdeckt. Ein paar Straßenmusiker, die für ihre englische Musik Prügel von den Japanern beziehen. Eine junge Inderin, die auf einer Farm arbeitete und vom britischen Besitzer missbraucht wurde. Bei den Soldaten ist es größtenteils einfach die Verhinderung einer Kriegsgefangenschaft. Und sie sehen ja auch die Gräueltaten der Japaner, die reihenweise Feinde köpfen.

Als einmal ein Inder und eine Inderin durch Singapur fahren und die abgeschlagenen Köpfe sehen, die die Japaner überall aufgehängt haben, sagt er zu ihr: „Gucken Sie nicht hin.“ Und sie gucken nicht mehr hin. Sie machen das Beste daraus und denken nur an Indien. Kann man es ihnen verdenken. Am Ende eint sie ein großer Idealismus. Aber erst müssen vor allem die vereidigten Soldaten ein neues Denken lernen. Ein Denken Indiens ohne Briten. Und das ist es auch, das ein großes Dilemma der Kämpfenden auflöst. Die Frage ist, ob man seinen Soldateneid brechen und hinterher die eigenen Landsleute, die in britischem Dienst stehen, angreifen darf. Dafür wird die Baghavad Gita zitiert. Bekanntlich ist die große Schlacht des Mahabharata eine Schlacht unter Familienmitgliedern, und als Arjun deshalb moralische Probleme hat, erklärt ihm Krishna, warum er die nicht zu haben braucht.

Diesen Idealismus möchte Khan nicht nur zeitgemäß machen, er will ihn auch für die Gegenwart nutzbar machen. Deshalb schlägt er den Bogen herüber ins Jahr 2009 und zeigt moderne junge Leuten, die sich in Birma gegen das Militärregime engagieren. Außerdem geht es darum, die Orte in der Gegenwart zu betrachten, so wie auch der Film voller Doku-Aufnahmen oder Zeitungsfotos ist. Aus verschiedenen Perspektiven wird das Geschehen betrachtet, zeitlich, räumlich und medial. Im Zentrum steht am Ende eine große, friedliche Höhle mit einer Buddha-Statue, ein spiritueller Ort der Ruhe, wo die Gegensätze und die Zeit sich auflösen, gleichzeitig Symbol einer großen,  unerfüllten Liebe.

Aber draußen geht alles weiter seinen bösen Gang. Es ist ein ewiger Kampf gegen Unterdrückung. Und natürlich bremst die Gegenwartsgeschichte die interessantere Vergangenheitsgeschichte aus. Das flüssige Storytelling wird durchaus in seiner Wirkung beschnitten. Aber man muss zugestehen, dass Khans Methode sein Ziel erreicht. Wenn man sich an den Film erinnert, ist es nicht bloß ein historischer Kriegsfilm unter vielen, den man geistig-visuell zu den Akten legt. Die beiden Handlungsstränge haben sich ineinander verwoben. Man kann den einen nicht ohne den anderen denken.