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Freitag, 25. Januar 2019

Raj Kumar Guptas RAID – Der heroische Steuerbeamte

Gehortetes, an der Steuer vorbei in heimische Kammern und Verstecke, Säulen und doppelte Fußböden umgeleitetes Schwarzgeld ist Gift für die Wirtschaft. Nicht nur fehlt dem Staat das Geld, es ist auch dem Kreislauf entzogen. Der Kampf in Form von Hausdurchsuchungen bei Reichen mit seltsam niedrigem Steueraufkommen ist also ein patriotischer Akt für den Staat, ja für das ganze Volk, dem man das Geld geraubt hat. Davon ist der unbestechliche Einkommenssteuerbeamte Amay Patnaik in Raj Kumar Guptas RAID (2018), der im Jahr 1981 spielt, überzeugt. Zwar hat Amay die bewaffnete Staatsmacht hinter sich, aber seine entscheidende persönliche Waffe ist seine Korrektheit, seine strenge Beachtung der Regeln. Und wenn es in einem Club verboten ist, Sandalen zu tragen, dann geht er so auch nicht hinein, selbst wenn die wichtigen Männer der Stadt ihn dazu drängen. Er trinkt mit den Reichen nur den billigsten Whiskey, damit er es selbst bezahlen kann. Beamte lassen sich eben nichts schenken. Im Idealfall, und er ist so einer.

Daher hat Amay im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen auch keine Besitztümer. Leere Schränke würden das ständige Umziehen ja auch erleichtern, stellt ironisch seine Frau fest. Denn in 7 Jahren ist der unbequeme Beamte 49 mal versetzt worden. Zu Anfang des Films hat ihn seine Unbeugsamkeit diesmal nach Lucknow gebracht. Ajay Devgn, sonst oft ein Actionheld, spielt diesen friedlichen Beamten mit sanfter Geradlinigkeit und entschlossener Souveränität. Er wird nicht laut und zeigt ohne Pathos die Opferbereitschaft, bei der Sicherung von Beweismitteln notfalls zu sterben. Er ist ein selbstverständlicher Held, der einfach seinem Beamteneid folgt. Sein Wort zu halten, das unterscheide den Menschen vom Tier. Das ist Amays Credo. Dahinter steckt natürlich die Erkenntnis, dass wir uns alle immer nur einen Schritt entfernt von der Barbarei befinden. Und die bricht am Ende des Films auch aus.

Amay ist an Information über im Haus verstecktes Schwarzgeld des wichtigsten Bürgers der Stadt, genannt „Tauji“, gelangt. Es geht hier um einen angesehenen Politiker, langjähriges Mitglied des Parlaments, und erfolgreichen Geschäftsmann, der mit Großfamilie in einem palastartigen Haus wohnt. Amay studiert Akten, rechnet und kommt auf 4,2 Billionen Rupien, die zu finden sein müssten. Er geht das hohe Risiko ein. Und nun handelt der Film von fast nichts anderem als dieser einen, sich über drei Tage hinziehenden Hausdurchsuchung. Ganz detailliert wird sie gezeigt, in all ihren formalen Vorgängen. Wie der Beamte mit seiner großen Gruppe von Mitarbeitern nach und nach ins Zentrum des Hauses vordringt und man dann überallhin ausschwärmt und das Haus auf den Kopf stellen. Und während man erst nichts findet, nimmt es hinterher groteske Züge an, wenn weit mehr Schätze auftauchen als berechnet. Das ist die materielle Seite, die reine Schatzsuche.

Dann ist da die menschliche Seite der Geschichte. Denn der Film taucht auch tief hinab in die Abgründe der Gier. Da sind zum einen die Konflikte Amays mit den wütenden Hausbewohnern, allen voran natürlich Tauji selbst. Aber als erst einmal die geheimen Verstecke entdeckt werden, kommt es auch zu Konflikten innerhalb der Familie. Jeder hat heimlich in einer architektonischen Verbesserung des Hauses seine eigenen Schätze untergebracht. Und schließlich führt der Film die politische Seite vor. Dafür lässt das Drehbuch den Beamten fast einen Fehler machen, indem es Tauji losziehen lässt, damit dieser direkt erlebt, dass die Hausdurchsuchung trotz seiner Beziehungen nicht zu stoppen ist. Und tatsächlich. Nach und nach dringt der Politiker zwar bis zur Premierministerin vor, aber alles erfolglos. Der Film zeigt ein System in seinem Versagen und seinem Funktionieren, vorausgesetzt man hält sich an die Regeln.

Das Drehbuch zu RAID ist von Ritesh Shah, der zuletzt den heroischen Rettungsfilm AIRLIFT (2017) und das Gerichtsdrama PINK (2016) geschrieben hat. PINK ist angesichts des wichtigen Themas der Vergewaltigung ein etwas überdeutlicher Thesen- und Diskussionsfilm ist. Und auch wenn in der Story und in den Dialogen von RAID manchmal diese Gefahr besteht, lässt Raj Kumar Gupta die kalkulierten Zahnräder der Drehbuchmechanismen ganz weich ineinander übergehen und die einzelnen Bereiche, die vielen kleinen Handlungen, Dialoge, Auseinandersetzungen sich auf ganz natürliche, fließende Weise durch Kamera, Schnitt, Bewegung im Bild verbinden. Kumar schafft eine sehr ruhige, nie mit künstlicher Spannung angeheizte Atmosphäre. Manchmal sehen wir Amay auch nur beim Denken zu, wie er den Raum um sich herum geistig untersucht, prüft. Diese solide Grundlage des Drehbuchs erlaubte Gupta, seinen bisher besten, visuell sichersten und damit, so habe ich das Gefühl, auch persönlichsten Film zu drehen. Aber erst, wenn ich endlich den dritten seiner inzwischen vier Filme, GHANCHAKKAR (2013), gesehen habe, lege ich mich da endgültiger fest. Der Terroristenfilm AAMIR (2008) ist eine einsam-paranoide Erforschung des echten Mumbais auch in seinen düsteren Ecken und der Zivilcourage-Thriller NOBODY KILLED JESSICA (2011) hat wie RAID einen wahren Fall als Grundlage.

Biedermann und Bösewicht Tauji ist übrigens ein Mann, dem alles entgleitet, ein Mann, der alle Sicherheiten verliert. Er fällt, weil er sich der Loyalität seiner privaten und seiner politischen Familie zu sicher war. Das ist die Hybris des Bösen. Und da wäre die deutlich angesprochene mythologische Dimension gar nicht nötig gewesen. Doch die Parallele wird direkt gezogen zum Kampf vom bösen Dämon Ravana gegen den edlen König Rama, zum Überlaufen von Ravanas Bruder Vibishana, der sich auf die Seite Ramas stellt, und zur Bedrohung von Ramas Frau Sita durch den Dämon, auch wenn im Film keine Entführung stattfindet. Deshalb wird die mustergültige Ehe des Beamten so sehr betont, die als Stütze und geistige Rückendeckung eminent wichtig für ihn ist. Schließlich kann seine Arbeit lebensgefährlich sein. Dafür sorgt am Ende Tauji als passiver, besoffener, armseliger Dämon, der nur noch seine herbeigerufene Meute Gewalt ausüben lassen kann. Der Film beruht übrigens auf Tatsachen. Erst vor gar nicht langer Zeit wurde die Identität der gerechten Verräterin im Hause des Politikers öffentlich gemacht, weil sie gestorben ist. Getreu seinem Versprechen hat der echte Beamte so lange geschwiegen, und im Film verrät er es nicht mal seiner Frau. Man könnte sich vorstellen, in Wirklichkeit auch. Und abschließend frage ich mich, ob mir nicht doch noch ein weiterer Film einfällt, der von fast nichts anderem als einer Hausduchsuchung handelt ...

Dienstag, 22. Januar 2019

Hansal Mehtas SIMRAN - Die Lippenstift-Banditin

Simran – den Namen kennt jeder Bollywood-Fan. Und selbst wenn man ihn nicht sofort zuordnen kann, reichen zwei Sekunden Filmausschnitt aus Aditya Chopras Klassiker DILWALE DULHANIA LE JAYENGE (1995 – Wer zuerst kommt, kriegt die Braut), um daran zu erinnern, dass das ja die junge Dame in der Gestalt von Kajol ist, wegen derer Shah Rukh Khan als Raj sich fast totschlagen lässt. Und wenn in Hansal Mehtas Film SIMRAN (2017) eine indische Mutter hypnotisiert vor dem Fernseher sitzt, wo der 22 Jahre alte Film zu sehen ist, den sie wahrscheinlich schon in mindestens zweistellig-facher Anzahl gesehen hat, dann sagt sie geistesabwesend auch schon mal „Simran“ zu ihrer Tochter Praful, gespielt von Kangana Ranaut. Und die gibt dann kurz danach diesen Namen an, als sie bei einem Banküberfall gleich im Eingangsbereich von einer überfreundlichen Bankangestellten abgefangen und direkt zum Beratungsgespräch für eine Kontoeröffnung gelotst wird. Bald hat die berühmte Lippenstift-Banditin, die mit vorgetäuschter Bombe um den Bauch die Kassierer zu verschrecken pflegt, in der Öffentlichkeit einen Namen.

Hauptfigur Praful ist eigentlich eine nette junge Frau, solange man sich nicht zu sehr mit ihr einlässt. Ein Mann ergreift die Flucht, als sie ihn anmacht. Oder der Souvenir-Verkäufer in Vegas, den sie so lange nervt, bis der ihr die Mütze, die sie ganz billig erwerben möchte, schenkt. Ihr Vater kriegt bei jedem Gespräch mit ihr einen Wutanfall. Praful ist intelligent, energisch, provozierend und gleichzeitig fürchterlich naiv. Eine gefährliche Mischung. Vor allem bei dem Besuch einer Stadt wie Las Vegas, wenn einen die Spieltische anziehen und die Geldverleiher mit ihren Wucherzinsen so nett Geld vergeben, das sie doch tatsächlich hinterher zurückbezahlt haben wollen. SIMRAN ist wie die andere Seite der Medaille von Kangana Ranauts Erfolgsfilm QUEEN über eine junge Inderin im Westen, die die Freiheit entdeckt. In SIMRAN hat die junge Dame die Freiheit schon ausgiebig gekostet, ist Zimmermädchen in einem Hotel, eine geschiedene Frau mit 30 und hat wechselnde Freunde. Mit Vater und Mutter lebt sie in Atlanta, Georgia, USA ein nicht übermäßig erfolgreiches Leben als NRI – Non-resident Indian. Ihre einzige, bald scheiternde Zukunftshoffnung ist der Kauf eines Hauses, für das sie sieben Jahre geackert und gespart hat.

QUEEN war ja ein großer Erfolg, dessen Regisseur Vikas Bahl übrigens Ende letzten Jahres erst einmal nach Vorwürfen der sexuellen Belästigung im Karriereniemandsland gelandet ist. Nebenbei bemerkt ist der von einer Mitarbeiterin berichtete Vorfall aus dem Jahre 2015 so absurd eklig, dass man ihn sich schwer ausdenkt. Jedenfalls konnte Kangana Ranaut dazu unterstützend berichten, dass Bahl bei den Dreharbeiten zu QUEEN (2014) ständig mit außerehelichem Sex prahlte und er bei Begegnungen mit ihr auf Veranstaltungen seine Nase in ihren Nacken steckte und davon schwärmte, dass sie gut rieche. Höchst unangenehm. Aber man soll jetzt bloß nicht behaupten, dass ihr diese Unterstützung einer armen Belästigten nicht doch auch etwas Spaß gemacht hätte. Schließlich war weil Vikas Bahl zu dem Zeitpunkt offiziell noch Regisseur von Hrithik Roshans neuem Film „Super 30“ über einen Mathematiker. Und mit Roshan, laut Ranauts Aussage ihr Geliebter, als der noch verheiratet war, lieferte sie sich ja sogar eine gerichtliche Auseinandersetzung, denn Roshan beschuldigte sie der Belästigung und des Cyber-Stalkings. Kangana Ranaut lässt keinen Streit aus, provoziert, sagt, was sie denkt. Aber da ist auch immer angelerntes Kalkül dabei. Sie ist als Außenseiterin ohne Clan im Rücken in das Business gekommen, da bekommt man vor allem als Frau nichts geschenkt. Doch sie versteckt ihr Ego ja auch gar nicht. Gegen den Protest des Drehbuchautors von SIMRAN ließ sie sich Drehbuchcredits geben, behauptete, Apurva Asrani hätte nur den Entwurf eines Thrillers abgegeben und sie erst eine Komödie daraus gemacht. Das darf man dann doch bezweifeln. Hansal Mehta schwieg dazu.

Aber mir fällt tatsächlich keine Hindi-Schauspielerin ein, die dieser schwer fassbaren, widersprüchlichen Figur Praful eine Logik und einen Zusammenhang geben könnte, ohne dass es konstruiert wirkt oder auf psychologische Klischees zurückgegriffen wird. Jedem der Gefühle auf einer äußerst breiten Skala von einem Extrem zum anderen verleiht sie Glaubwürdigkeit. Und sie hat die Fähigkeit, ihrer Figur unangenehme Seiten zu verleihen, ohne dass sie unsympathisch wird. Man schaue sich mal die unglaubliche Eheberatungsszene am Anfang von Aanand L. Rais TANU AND MANU WEDS RETURNS (2015) an. Aber natürlich war in SIMRAN auch wieder einmal der richtige Regisseur, denn bisher war sie bei den individuellen und persönlichen Filmemachern am besten. Wie das in MANIKARNIA (2019) ist, wo sie zumindest laut eigener Aussage zu 70% Regie geführt hat und der jetzt leider doch nicht in Deutschland im Kino zu sehen sein wird, muss man abwarten. Hansal Mehta jedenfalls hat mit SIMRAN seinen ersten echten Unterhaltungsfilm gedreht. Sonst ist er ja eher für ernste Stoffe bekannt. Doch er hält den Film in einem schönen ambivalenten Gleichgewicht aus Ernst, Komik, Satire und Absurdität. Alles ist sehr temporeich, aufgenommen mit einer beweglichen Kamera, das Gegenteil seines vorherigen Films, ALIGARH (2015), mit seinen vielen dunklen Szenen und seiner bedrückenden Statik. Dieser Film hingegen ist oft grell und bunt – besonders in Las Vegas – und dann auch wieder eintönig monochrom – wie in den Räumen im Hotel, besonders im grünen Schließfachraum.

SIMRAN erfüllt keine Zuschauererwartungen. Immer wenn man denkt, der Film gehe jetzt in eine bestimmte Richtung ein, schlägt alles wieder um. Hier wird nicht zwischen Drama und Komödie abgewechselt. Hier passiert alles gleichzeitig. Man könnte sich die Story auch in Form eines tiefenpsychologischen, tief deprimierenden Sozialrealismus denken. Das bleibt einem erspart, denn davon hatten Mehta und Autor Asrani schon genug mit dem zwar ausgezeichneten, aber düsteren ALIGARH. Die indischen Kritiker attackierten ja vor allem das vermeintlich schlechte Drehbuch von SIMRAN, vor allem in der zweiten Hälfte, aber das Lose und Unzusammenhängende, die Tragödie in der Farce – oder umgekehrt – das alles ist gerade das ungeheuer Amüsante und auch Bewegende des Ganzen. Zwar ist der Film nicht perfekt ist, die Gangster beispielsweise sind eher misslungen. Aber nicht, weil sie Klischees sind, sondern weil sie langweilig sind. Man würde sich da solche wie aus der letzten Twin-Peaks-Staffel wünschen. Aber vielleicht hatten die Kritiker ja auch unbewusst etwas dagegen, dass die Hauptfigur nur begrenzt zur Identifikation einlädt. Prafuls größter Feind ist sie selbst. Und das bleibt so bis zum Schluss. Sie macht also überhaupt keine charakterliche oder moralische Entwicklung durch. Sie kommt nicht mit dem netten jungen Mann zusammen, den sie bloß vor sich selbst warnt. Sie ist immer noch besessen vom amerikanischen Traum des schnellen Reichwerdens. Sie hat am Ende echt tolle neue Pläne. Weshalb ihr Vater ihr im Schlussbild des Films an die Kehle geht. Was vorwiegend komisch und realistisch begann, zwischendurch sogar den Hauch einer Tragödie bekommt, hat sich längst in eine reine Farce verwandelt und ist gerade dadurch ganz nah dran an der Wirklichkeit.

Montag, 14. Januar 2019

Shoojit Sircars OCTOBER – Keine Liebesgeschichte



OCTOBER (2018) ist Varun Dhawans Film. Natürlich sind da noch andere gute Darsteller. Aber sämtliche emotionalen Qualitäten des Films hängen an der Art, wie er die Hauptfigur Dan spielt, einen ziemlich unausstehlichen Kerl, der am Anfang nichts und niemanden mag und vermutlich vor allem nicht sich selber. Nicht, dass Dhawan sich egomanisch in den Vordergrund spielt. Ganz im Gegenteil. Er betont die Leere und Bedeutungslosigkeit dieses Dans, der sein Studium durch ein Praktikum in einem 5-Sterne-Hotel beenden soll. Selbst wenn er am Anfang des Films bei der Arbeit etwas Bösartiges sagt, murmelt er es nur halblaut in sich hinein. Und wenn er großkotzige Reden unten in der Wäscherei schwingt, wohin man ihn strafversetzt hat, bläht er sich nicht wirklich auf, sondern rattert Phrasen herunter, an die er selbst nicht glaubt. Dhawans wichtigste Leistung besteht darin, dass er als Bollywood-Star diese Figur Dan nicht mit seinem Hero-Charisma ausstattet. Obwohl die Figur Dan sich schon für etwas Besseres hält. Er erträgt es nicht, für andere zu arbeiten, Befehle entgegenzunehmen, unbedeutende Aufgaben auszuführen. Wobei es selbst für lockere Vorstellungen seltsam erscheint, was man ihm da in dem Nobelhotel einer Kette, die auch eine Filiale hinter Hamburgs Dammtor-Bahnhof hat, alles durchgehen lässt. Dies nur als kleine Randbemerkung zu der allgemeinen Begeisterung über den vermeintlichen Realismus von OCTOBER, im Sinne von Einfangen des wahren Lebens. Auf jeden Fall vermeidet OCTOBER jede Eindeutigkeit, um diesen Kerl zu verstehen, der sich mit dem, was er tut, nur selbst schadet. Und man muss dankbar sein, dass auch keine billigen psychologischen Erklärungen geliefert werden. Dans Vater ist in Kaschmir stationiert und dann taucht kurz die Mutter, eine scheinbar einfache und nette Frau, auf. Dabei bleibt es.

Und weil Dan am Anfang so ein arroganter, abgeschotteter Kotzbrocken ist, würde er es nie merken, dass da jemand ist, der ihn vielleicht mögen könnte. Als aber Kollegin Shiuli bei einer Silvester-Feier durch eine Ungeschicklichkeit von der Hotelterrasse des vierten Stocks fällt und im Krankenhaus im Koma liegt, fühlt er sich wirklich involviert, denn er erfährt, dass ihr letzter Satz lautete: „Wo ist Dan?“ Und aus irgendeinem Grund beginnt er, sich zu kümmern und immer öfter bei ihr im Krankenhaus aufzutauchen, direkt ein Teil der Familie zu werden. Es ist keine wirkliche Liebesgeschichte, die da erzählt wird, auch nicht, als Shiuli aufwacht und zumindest Augen und dann den Kopf bewegen kann. Wir wissen nicht, was Dan fühlt. Schuld, Mitleid, Liebe oder einfach die Entdeckung, dass er Gefühle hat, vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben. Oder er will, dass sie aufwacht, damit er endlich erfährt, warum sie auf der Party nach ihm gefragt hat. Aber es verändert ihn. Er nimmt plötzlich andere Menschen wahr. Aber diese moralische Erneuerung macht aus ihm keinen völlig neuen Menschen, schon gar keinen allseits beliebten Heiligen. Denn so wenig die Umwelt den alten Dan mochte, so wenig kann sie mit dem neuen anfangen. Denn wie schon zuvor ist sein Verhalten so gar nicht praktisch. Andere gehen zurück in ihre Routine. Er macht Shiuli zu seinem Lebensinhalt. Und die alltäglichen Szenen, die gar nicht viel erzählen, mit Dhawan allein, an Shiulis Bett oder nur mit einer anderen Person als Gesprächspartner sind die schönsten. Wenn er nur am Fenster steht, während es draußen regnet. Wenn er auf einem Rollstuhl herumturnt und mit einer Krankenschwester redet. Wenn er Shiuli ihren geliebten Nachtjasmin hinlegt. Wenn er abends eine Medizin holen fährt, die es im Krankenhaus gerade nicht gibt.

Aber diese Geschichte von Dan und von Shiuli ist eben nicht der ganze Film. Denn man versucht auch, medizinisch so präzise wie möglich zu sein, eine Familiengeschichte zu erzählen. Und so gibt es endlose Diskussionen und ärztliche Informationen. Alles sehr korrekt und wie in der Wirklichkeit, nur dass es dem Film nichts nützt. Es lähmt ihn emotional. Aber die vorherigen von Shoojit Sircar verfilmten Drehbücher von Juri Chaturvedi funktionierten schon nach diesem Prinzip des Themen-Films. Im Mittelpunkt steht jedes Mal ein zentrales, für indisches Kino ungewöhnliches Thema, das sachlich aufgearbeitet wird und das hinterher von den Zuschauern auf dem Heimweg diskutiert werden kann. Bei VICKY DONOR (2012) waren es Samenspenden und bei PIKU (2015) Verdauungsprobleme bei älteren Herrschaften. Das hat bis jetzt gut funktioniert, aber nicht unbedingt wirklich gute Filme hervorgebracht, bei denen das größte Vergnügen eigentlich darin besteht, den Schauspielern zuzugucken. Man guckt, bleibt aber distanziert. Aber selbst Amitabh Bachchan als Verstopfungsopfer in PIKU wird irgendwann ermüdend.

Man spürt in OCTOBER allerdings den Versuch, dem allzu Sachlichen entgegenzuwirken, denn es herrscht eine Atmosphäre von Uneindeutigkeit, die es in VICKY DONOR und PIKU nicht gibt. Zwar ist das schon im Drehbuch angelegt, aber erst Varun Dhawan unter der bewusst leicht manipulativen Regie von Shoojit Sorcar, der seinen Star geschickt und mit kleinen Tricks aus seiner Zone der Bequemlichkeit brachte, lässt diese Uneindeutigkeit wirklich zur Entfaltung kommen. Doch das Thema sorgt immer wieder für Sachlichkeit. Und wenn in der betroffenen Familie ein gefühlloser Onkel ist, der lieber früher als später den Stecker der Koma-Patientin ziehen möchte, dann soll nicht bezweifelt werden, dass es solche Onkels gibt. Aber dieser Onkel in diesem Film existiert nur für das Drehbuch, um Diskussionen und Widerstand auszulösen. Das ist von einer ermüdenden und vorhersehbaren Mechanik. Zur Ruhe kommt der Film erst, als Shiuli die Intensivstation verlässt, ein Einzelzimmer hat und dann nach Hause kommt. Da finden intime Gespräche statt, die die Kranke mit ihren Augen stumm verfolgt. Und immer wieder wird der Film von Naturbildern unterbrochen.

Und so zeigt Sircar dann seine Stärke als ausgezeichneter Regisseur der stillen Emotionen und des Lyrischen. Qualitäten, die man interessanterweise vor allem in zwei politischen Filmen findet, die für mich seine beiden besten sind, aber leider eben keine Erfolge waren: YAHAAN (2005) und MADRAS CAFE (2013). YAHAAN habe ich gerade zum ersten Mal gesehen, ein sehr schönes Melodrama in verwaschenen Farben, damit das geplagte Kaschmir nicht zu schön aussieht. „Kaum zu glauben, dass hier mal Shammi Kapoor getanzt hat“, sagt ein Soldat in Srinagar. Sogar Songs gibt es in der ersten Hälfte. Danach drehte Sircar Filme ohne Musik, was kein Problem ist, denn YAHAAN würde auch ohne die Lieder funktionieren, das sie sowieso ein wenig wie Pflichtübungen wirken. Und so sehr ich ein Anhänger des klassischen Hindi-Film-Songs in der Tradition von Raj Kapoor, Guru Dutt und Yash Chopra bin, ist es besser, gar keine Lieder in einem Film zu haben, wenn der Regisseur dazu denn keine Lust hat. Für OCTOBER wurde ohne Sircars Zutun allerdings ein Promovideo mit einem Lied gedreht, das aber im Film gar nicht auftaucht. Ganz ohne Lied geht es eben dann doch nicht.

Sonntag, 6. Januar 2019

DIE SCHNEIDERIN DER TRÄUME – Sag bitte nicht Sir

Die nächtliche Stadt leuchtet im Dunkeln. Die Hausangestellte Ratna, eine junge Frau vom Land, und ihr Hausherr Ashwin, reicher Sohn eines Bauunternehmers, stehen am Rande eines Hochhausdaches und schauen über Mumbai hinweg. Nur hier hinauf konnten sie von der irgendwo darunter liegenden Wohnung ungestört und unbeobachtet gehen, um einmal auf neutralem Gebiet zu reden. Es ist einer der Schlüsselsätze von Rohena Geras sympathischer zarter Liebesgeschichte DIE SCHNEIDERIN DER TRÄUME (2018), wenn er erstaunt sagt: „Ich wusste gar nicht, dass man hier herauskann.“ So spricht jemand, der gefangen ist, aber sich bisher nicht wirklich darüber im klaren war.

Die beiden Hauptfiguren lernt man zunächst vor allem durch die Räume kennen, in denen sie sich bewegen oder aufhalten. Vor allem seine Wohnung, da ist der Film zu großen Teilen ein Kammerspiel für zwei, zu dem sich hin und wieder ein Besuch gesellt. Und für beide ist der Bewegungsraum begrenzt. Eben auch für den jungen Mann aus der Oberschicht. Schon wenn er die Küche, die eigentlich ihr Reich ist, betritt, wirkt er wie ein Fremder. Allerdings muss sie sich dann zwanghaft seiner Welt anpassen, etwa vom Boden aufstehen, wo sie sitzt und traditionsgemäß mit den Fingern isst. Selbst die Außenwelt gehört dem Mann nicht. Die Umgebung wirkt sofort verstört, wenn er in Shorts das bewachte Gebäude verlässt, nicht in den Wagen steigt, dessen Tür der Chauffeur ihm offen hält, und sich selbst an einem kleinen Kiosk eine Schachtel Zigaretten holt. Man sieht ihn zu Hause, bei der Arbeit, in einer Bar. Einmal streift er einsam verloren durch die armen Gegenden, wirkt ausgeschlossen, als suchte er Anschluss an etwas anderes. Für sie gibt es ebenfalls viele verbotene Räume. Einmal wird sie aus dem Laden einer Designerin geworfen. Aber auch, weil sie nicht den Mund aufbekommt, als sie angesprochen wird. Als sie mit einem selbst genähten Kleid vor dem einzig großen Spiegel der Wohnung angetroffen wird, betont sie ihm gegenüber, dass sie sein Schlafzimmer sonst nur zum Aufräumen betrete. Allerdings sei sie eine gewissenhafte Hausangestellte, die alle Regeln befolge und im Gegensatz zu vielen anderen Hausnagestellten „nie den großen Fernseher benutzt“. Gleichzeitig bewegt sie sich im Gegensatz zum Mann frei auf der Straße, den Märkten, in der einfachen Arbeitswelt.

Beide sind allein. Ashwin hat eine Hochzeit platzen lassen, weil die Braut eine Affäre hatte, aber auch weil er diese gar nicht wirklich liebte. Ratna ist noch nicht lange Witwe, was auf dem Land den lebenden Tod bedeutet, während die moderne Großstadt ihr ein ungestörtes, freies Leben bietet. Symbolisiert durch das Tragen von Armreifen, was sie in Mumbai darf. Er arbeitet auf dem Bau für die Firma des Vaters. Sie verdient Geld für das College der Schwester und hat dabei zunächst ihren eigenen Traum vernachlässigt, Schneiderin und möglichst sogar Modedesignerin zu werden. Nach seiner geplatzten Hochzeit kommen sie sich langsam näher, wechseln immer öfter ganz persönliche Worte, was sonst eher ungewöhnlich ist. Er verliebt sich in sie und drückt es ihr gegenüber aus, als gäbe es keine richtende Gesellschaft um sie herum. „Sag bitte nicht Sir!“, bittet er sie, worauf sie mit Verständnislosigkeit reagiert. Was soll sie denn statt dessen sagen? Im Übrigen würde ein Weglassen der Anrede nichts an den Realitäten in der Welt und im Bewusstsein ändern. Er war lange in den USA und hat offensichtlich vergessen, wie Indien funktioniert. Er macht nichts falsch, und dadurch macht er alles falsch, etwa, wenn er nach einer Party zu ihr und den anderen Hausangestellte geht, die gemeinsam essen, und fragt, ob er warten solle, um sie mit nach Hause mitzunehmen. Sie erntet dafür Spott. Sein Freund sagt ihm, er solle sie in Ruhe lassen, wenn er sie liebe. Gezeigt wird eine Klassengesellschaft, in der beide Seiten sich mit ihrer gegenseitigen unterschwelligen Verachtung oder zumindest Missachtung für die jeweil andere Seite eingerichtet haben. Das Lästern der Angestellten über ihre Hausherren ist im Grunde nicht weniger deprimierend anzuhören als die Unverschämtheiten der Reichen, übrigens in dem Film durchweg Frauen.

Dennoch hat Rohena Gera es bewusst geschafft, einen Film ohne Opfer und Unterdrücker zu drehen. Diesen Gegensatz bis zur Unerträglichkeit auszuspielen, wäre ein Leichtes gewesen, aber – wie gesagt – sie verzichtet auf diese heutzutage so beliebte, das Publikum geistig niederdrückende Masche der sozialen Ausweglosigkeit, die Tiefe und Bedeutung nur suggeriert. Gleichzeitig gehört der Film nicht zu dem belanglosen, sogenannten Feelgood-Kino, bei dem ich mich zumindest oft ganz elend fühle. Dass der Film jetzt durch die europäischen Festivals getourt ist und dank Neue Visionen einen Deutschlandstart hatte, haben wir wohl seiner Teilnahme an der „Semaine de la Critique“ auf den letzten Filmfestspielen in Cannes zu verdanken. DIE SCHNEIDERIN DER TRÄUME ist der Spagat zwischen Festivalanspruch und dem gleichzeitigen Wunsch, vom indischen Publikum gesehen zu werden. Im Grunde eine kühle Kalkulation: Ein indischer Indie-Film braucht Festivalehren, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Und indische Presseaufmerksamkeit hat es ja gegeben. Kann man im Netz leicht feststellen. Einen indischen Kinostarttermin habe ich bisher nicht entdeckt, auch nicht in der Region Maharashtra, denn gedreht wurde in deren Sprache Marathi.

Rein stilistisch wirkt sich dieser Spagat in dem Versuch aus, absolut realistisch zu sein, aber Emotionen und Schönheit nicht zu vernachlässigen. Der Wille zum Realismus nimmt mitunter direkt dokumentarische Qualität an, wenn gerade zu Anfang Ratnas Hausarbeit, ihr Kochen, ihr Einkaufen gezeigt werden. Gleichzeitig wird die Stimmung des Films von der Hauptfigur geprägt, die mit Wärme und Präzision von Tillotama Shome verkörpert wird. Shome hatte 2001 ihr Kinodebüt in Mira Nairs MONSOON WEDDING. Sie war in der Folge nicht nur in indischen, sondern auch in internationalen Produktionen zu sehen. Shome ist sozusagen der Dreh- und Angelpunkt für die beiden Qualitäten des Films. Denn von ihr gehen auch die Emotionen aus. Einmal, als sie voller Zukunftshoffnung ist, ertönt im Hintergrund ein munteres Lied und Ratnas Glücksgefühl geht von der Leinwand förmlich auf den Zuschauer über. Sogar eine halb-dokumentarische Prozessions- und Massentanzszene hat Rohena Gera untergebracht. Und selbst ein Happy End für Ratna und Ashwin beiden könnte ja irgendwann vielleicht doch möglich sein.

Ratna hat es schwer, aber gleichzeitig ist sie glücklich, da zu sein, wo sie ist und sie hat eine positive Grundeinstellung, die sie immer wieder vorantreibt, auch wenn Ashwin etwas nachhilft bei ihrem beruflichen Vorankommen am Ende. So kann er Geld und Einfluss einmal zu etwas Positivem nutzen. Die Regisseurin hat als Drehbuchautorin Erfahrung in der Unterhaltungsindustrie. Es waren wohl schwere Jahre, aber sie weiß, wie Bollywood-Kino und TV-Seifenopern funktionieren. Von ihr stammt beispielsweise das Drehbuch zu Kunan Kohlis THODA PYAAR THODA MAGIC (2008 – Ein Engel zum Verlieben), eine hübsche himmlische Liebesgeschichte mit den Stars Saif Ali Khan und Rani Mukherjee sowie vier Kindern – und Rishi Kapoor als Gott. Der deutsche Titel DIE SCHNEIDERIN DER TRÄUME ist also doch nicht so unpassend, wie man auf den ersten Augenblick vielleicht denken mag, da er ja in eine völlig andere Richtung weist als das sachliche SIR des Originaltitels, das das Hauptthema des Klassenunterschieds betont und das in Frankreich als MONSIEUR übernommen wurde. Vielleicht wär der deutsche Kinotitel ja  auch der passendere, weil ansprechendere und positivere, für Indien.




Bilder: © Neue Visionen Filmverleih

Donnerstag, 3. Januar 2019

SIMMBA – Ranveer Singh Superstar



Rohit Shetty gehört nicht zu meinen Lieblingsregisseuren. Und daher habe ich auch nicht alle seine Filme gesehen. Aber er ist sehr unterhaltsam, mit Augenblicken der Brillanz, in Wahnsinnskomik und deftiger Action. Und er ist eine Katastrophe, wenn es um echte Emotionen geht. So war es beispielsweise in DILWALE (2015), der wirklich witzige Momente hat, während das von vielen so ersehnte Aufeinandertreffen von Traumpaar Shah Rukh Khan und Kajol eher enttäuschte und jedenfalls kein legendärer Augenblick in der Karriere der beiden war. Oder ein anderer Shetty-Film mit Shah Rukh Khan, CHENNAI EXPRESS (2013), da war die erste Hälfte sehr unterhaltsam, während die zweite dann bloß eine müde Wiederholung und Variation der ersten lieferte.

Aber seine Filme haben ein großes Verdienst. Er macht noch echtes Masala-Kino, wo Gerichtsverhandlungen ihrer ganz eigenen Logik folgen, wo ein eigentlich superintelligenter, sonst alles vorausahnender Held nicht auf die Idee kommt, dass der wichtigste Zeuge vielleicht bewacht werden müsste, wo es von einer entscheidenden Videodatei keine Kopie gibt, sodass sie in der Asservatenkammer gelöscht werden kann. Der Film muss ja eine bestimmte Länge haben. Wenn Bollywood nicht mehr solche Filme herstellt, wäre es kein Bollywood mehr. Dann müsste der Begriff Hindi-Film wieder regieren. Im Masala-Kino können die Schauspieler noch Helden sein, ohne vom Drehbuch eingeengt zu werden. Und jemand wie Ranveer Singh kann froh sein, in Indien und nicht in Hollywood zu sein, denn da müsste er in Marvel-Filmen funktionieren. Aber hier funktioniert der Film für ihn. Allerdings gibt es doch eine Gemeinsamkeit zwischen Shetty-Masala und Marvel. Er geht auch auf Nummer sicher und verschreibt sich ganz dem Franchise-Prinzip. Das hatte der große Masala-Meister Manmohan Desai einst nicht nötig. So gibt es gleich vier GOLMAAL-Filme (2006+2008+2010+2017). Und SIMMBA ist ein Spin-off von Shettys zwei SANGHAM-Filmen (2011+2014) mit Ajay Devgn, der ja am Ende des Films auch persönlich auftritt. Und gerade lese ich irgendwo das Gerücht, beide könnten mal zusammen einen ganzen Film machen, also eine Art SIMMBA-SANGHAM.

Obwohl natürlich der größte Spaß an SIMMBA Ranveer Singhs Soloauftritte sind. Ranveer Singh als Polizist Simmba, zu Anfang ein korrupter, perfekt gescheitelter Schmierenkomödiant mit dem breiten Grinsen eines Cartoonwolfes, der sein Verhalten für völlig angemessen hält angesichts einer seiner Meinung nach durch und durch egoistischen und materialistischen Welt. Zwischendurch entdeckt er echte Emotionen und es ist eine intelligente Idee, dass dies nicht nur durch die Liebesgeschichte geschieht, die überhaupt das Schwächste und Überflüssigste am ganzen Film ist, sondern durch seine Sympathie für eine, arme Kinder unterrichtende, Medizinstudentin, die versucht, die Kleinen von den skrupellosen Drogenhändlern wegzubekommen. Und als sie vergewaltigt und ermordet wird, wird Simmba wirklich zum zornigen SIMMBA, zum Löwen. Der Film lebt, weil Ranveer Singh das Talent hat, die klischeehafteste Szene mit echten Emotionen zu füllen.

Und wie kein anderer Schauspieler seiner Generation vermag er es, die Leinwand zu füllen. Dass er ein großartiger Schauspieler ist, weiß man seit seinem Debüt mit Anushka Sharma in dem „Hochzeitsplaner“-Film BAND BAAJA BARAT (2010), ein Ruf, der gefestigt wurde durch seine dreifache Zusammenarbeit mit Sanjay Leela Bhansali. Aber mit Masala hatte er bisher nicht wirklich Glück. Doch jetzt hat er diese letzte, so wichtige Stufe auch genommen. Bei ihm wird ja selbst normalerweise öde Werbung zum Erlebnis. So macht er in schrillen Fantasy-Filmen als Ranveer Ching Werbung für „Ching's Secret“, indisches China-Essen. In RANVEER CHING RETURNS (2016), auch unter der Regie von Rohit Shetty, serviert er in einer postapokalyptischen Welt leckeres Essen von der Pferdekutsche aus. Und in CAPTAIN CHING RISES (2018) rettet er als Superheld die Welt vor einem Meteoriten. Der feurige Antrieb, der bei ihm hinten heraus schießt, wird erzeugt durch würziges Essen.

Neben Ranveer Singh verblassen natürlich die anderen Schauspieler in SIMMBA, selbst der grimmige Bösewicht. Da Rohit Shetty so weise war, die Liebesgeschichte auf ein Pflicht-Minimum zu reduzieren, geht Sara Ali Khans Leinwanddebüt leider voll ins Leere. Die Tochter von Saif Ali Khan ist anwesend, aber austauschbar und im zweiten Teil des Films nimmt man sie gar nicht mehr war. Was gar nicht ihre Schuld ist, denn der Film interessiert sich nicht für sie. Die Schauspielerin, die man nach dem Film in Erinnerung behält, ist ja sowieso Vaidehi Parshurami als Mordopfer Aakruti Dave. Denn ein ernstes Thema hat der Film auch noch. Und man merkt, dass er es im Rahmen des Möglichen ernst meint. Da werden sogar Verbrechensstatistiken herangezogen. Es geht um männliche Ehre als idiotisches Konzept, um Vergewaltigung, Mord, Todesstrafe. Und ganz bewusst setzt SIMMBA sich vom reinen individuellen Selbstjustizfilm ab. Simmba befragt ja einen Querschnitt der Bevölkerung, vor allem die Frauen, und die sind dann auch aktiv beteiligt. Auf jeden Fall ist es ein Plädoyer für den Tod für solche Mörder und Vergewaltiger. Damit die anderen Angst kriegen. Was würde Gandhi dazu sagen? Aber selbst der mit Engeln kommunizierende Emanuel Swedenborg war der praktischen Ansicht, dass nur die Aussicht auf Strafe Verbrechern Angst macht und sie abschreckt.