OCTOBER (2018) ist Varun
Dhawans Film. Natürlich sind da noch andere gute Darsteller. Aber
sämtliche emotionalen Qualitäten des Films hängen an der Art, wie
er die Hauptfigur Dan spielt, einen ziemlich unausstehlichen Kerl,
der am Anfang nichts und niemanden mag und vermutlich vor allem nicht
sich selber. Nicht, dass Dhawan sich egomanisch in den Vordergrund
spielt. Ganz im Gegenteil. Er betont die Leere und
Bedeutungslosigkeit dieses Dans, der sein Studium durch ein Praktikum
in einem 5-Sterne-Hotel beenden soll. Selbst wenn er am Anfang des
Films bei der Arbeit etwas Bösartiges sagt, murmelt er es nur halblaut
in sich hinein. Und wenn er großkotzige Reden unten in der Wäscherei
schwingt, wohin man ihn strafversetzt hat, bläht er sich nicht
wirklich auf, sondern rattert Phrasen herunter, an die er selbst
nicht glaubt. Dhawans wichtigste Leistung besteht darin, dass er als
Bollywood-Star diese Figur Dan nicht mit seinem Hero-Charisma
ausstattet. Obwohl die Figur Dan sich schon für etwas Besseres hält.
Er erträgt es nicht, für andere zu arbeiten, Befehle
entgegenzunehmen, unbedeutende Aufgaben auszuführen. Wobei es selbst
für lockere Vorstellungen seltsam erscheint, was man ihm da in dem
Nobelhotel einer Kette, die auch eine Filiale hinter Hamburgs
Dammtor-Bahnhof hat, alles durchgehen lässt. Dies nur als kleine
Randbemerkung zu der allgemeinen Begeisterung über den
vermeintlichen Realismus von OCTOBER, im Sinne von Einfangen des
wahren Lebens. Auf jeden Fall vermeidet OCTOBER jede Eindeutigkeit,
um diesen Kerl zu verstehen, der sich mit dem, was er tut, nur selbst
schadet. Und man muss dankbar sein, dass auch keine billigen
psychologischen Erklärungen geliefert werden. Dans Vater ist in
Kaschmir stationiert und dann taucht kurz die Mutter, eine scheinbar
einfache und nette Frau, auf. Dabei bleibt es.
Und weil Dan am Anfang so
ein arroganter, abgeschotteter Kotzbrocken ist, würde er es nie
merken, dass da jemand ist, der ihn vielleicht mögen könnte. Als
aber Kollegin Shiuli bei einer Silvester-Feier durch eine
Ungeschicklichkeit von der Hotelterrasse des vierten Stocks fällt
und im Krankenhaus im Koma liegt, fühlt er sich wirklich involviert,
denn er erfährt, dass ihr letzter Satz lautete: „Wo ist Dan?“
Und aus irgendeinem Grund beginnt er, sich zu kümmern und immer öfter
bei ihr im Krankenhaus aufzutauchen, direkt ein Teil der Familie zu
werden. Es ist keine wirkliche Liebesgeschichte, die da erzählt
wird, auch nicht, als Shiuli aufwacht und zumindest Augen und dann
den Kopf bewegen kann. Wir wissen nicht, was Dan fühlt. Schuld,
Mitleid, Liebe oder einfach die Entdeckung, dass er Gefühle hat,
vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben. Oder er will, dass sie
aufwacht, damit er endlich erfährt, warum sie auf der Party nach ihm
gefragt hat. Aber es verändert ihn. Er nimmt plötzlich andere
Menschen wahr. Aber diese moralische Erneuerung macht aus ihm keinen
völlig neuen Menschen, schon gar keinen allseits beliebten Heiligen.
Denn so wenig die Umwelt den alten Dan mochte, so wenig kann sie mit
dem neuen anfangen. Denn wie schon zuvor ist sein Verhalten so gar
nicht praktisch. Andere gehen zurück in ihre Routine. Er macht
Shiuli zu seinem Lebensinhalt. Und die alltäglichen Szenen, die gar
nicht viel erzählen, mit Dhawan allein, an Shiulis Bett oder nur mit
einer anderen Person als Gesprächspartner sind die schönsten. Wenn
er nur am Fenster steht, während es draußen regnet. Wenn er auf
einem Rollstuhl herumturnt und mit einer Krankenschwester redet. Wenn er
Shiuli ihren geliebten Nachtjasmin hinlegt. Wenn er abends eine
Medizin holen fährt, die es im Krankenhaus gerade nicht gibt.
Aber diese Geschichte von
Dan und von Shiuli ist eben nicht der ganze Film. Denn man versucht
auch, medizinisch so präzise wie möglich zu sein, eine
Familiengeschichte zu erzählen. Und so gibt es endlose Diskussionen
und ärztliche Informationen. Alles sehr korrekt und wie in der
Wirklichkeit, nur dass es dem Film nichts nützt. Es lähmt ihn
emotional. Aber die vorherigen von Shoojit Sircar verfilmten
Drehbücher von Juri Chaturvedi funktionierten schon nach diesem
Prinzip des Themen-Films. Im Mittelpunkt steht jedes Mal ein
zentrales, für indisches Kino ungewöhnliches Thema, das sachlich
aufgearbeitet wird und das hinterher von den Zuschauern auf dem
Heimweg diskutiert werden kann. Bei VICKY DONOR (2012) waren es
Samenspenden und bei PIKU (2015) Verdauungsprobleme bei älteren
Herrschaften. Das hat bis jetzt gut funktioniert, aber nicht
unbedingt wirklich gute Filme hervorgebracht, bei denen das größte
Vergnügen eigentlich darin besteht, den Schauspielern zuzugucken.
Man guckt, bleibt aber distanziert. Aber selbst Amitabh Bachchan als
Verstopfungsopfer in PIKU wird irgendwann ermüdend.
Man spürt in OCTOBER
allerdings den Versuch, dem allzu Sachlichen entgegenzuwirken, denn
es herrscht eine Atmosphäre von Uneindeutigkeit, die es in VICKY
DONOR und PIKU nicht gibt. Zwar ist das schon im Drehbuch angelegt,
aber erst Varun Dhawan unter der bewusst leicht manipulativen Regie
von Shoojit Sorcar, der seinen Star geschickt und mit kleinen Tricks
aus seiner Zone der Bequemlichkeit brachte, lässt diese
Uneindeutigkeit wirklich zur Entfaltung kommen. Doch das Thema sorgt
immer wieder für Sachlichkeit. Und wenn in der betroffenen Familie
ein gefühlloser Onkel ist, der lieber früher als später den
Stecker der Koma-Patientin ziehen möchte, dann soll nicht bezweifelt
werden, dass es solche Onkels gibt. Aber dieser Onkel in diesem Film
existiert nur für das Drehbuch, um Diskussionen und Widerstand
auszulösen. Das ist von einer ermüdenden und vorhersehbaren
Mechanik. Zur Ruhe kommt der Film erst, als Shiuli die
Intensivstation verlässt, ein Einzelzimmer hat und dann nach Hause
kommt. Da finden intime Gespräche statt, die die Kranke mit ihren
Augen stumm verfolgt. Und immer wieder wird der Film von Naturbildern unterbrochen.
Und so zeigt Sircar
dann seine Stärke als ausgezeichneter Regisseur der stillen Emotionen und des Lyrischen. Qualitäten, die man interessanterweise vor allem in zwei politischen
Filmen findet, die für mich seine beiden besten sind, aber leider
eben keine Erfolge waren: YAHAAN (2005) und MADRAS CAFE (2013).
YAHAAN habe ich gerade zum ersten Mal gesehen, ein sehr
schönes Melodrama in verwaschenen Farben, damit das geplagte
Kaschmir nicht zu schön aussieht. „Kaum zu glauben, dass hier mal
Shammi Kapoor getanzt hat“, sagt ein Soldat in Srinagar. Sogar
Songs gibt es in der ersten Hälfte. Danach drehte Sircar Filme ohne
Musik, was kein Problem ist, denn YAHAAN würde auch ohne die Lieder
funktionieren, das sie sowieso ein wenig wie Pflichtübungen wirken.
Und so sehr ich ein Anhänger des klassischen Hindi-Film-Songs in der
Tradition von Raj Kapoor, Guru Dutt und Yash Chopra bin, ist es
besser, gar keine Lieder in einem Film zu haben, wenn der Regisseur
dazu denn keine Lust hat. Für OCTOBER wurde ohne Sircars Zutun
allerdings ein Promovideo mit einem Lied gedreht, das aber im Film
gar nicht auftaucht. Ganz ohne Lied geht es eben dann doch nicht.