Die nächtliche Stadt
leuchtet im Dunkeln. Die Hausangestellte Ratna, eine junge Frau vom
Land, und ihr Hausherr Ashwin, reicher Sohn eines Bauunternehmers,
stehen am Rande eines Hochhausdaches und schauen über Mumbai hinweg.
Nur hier hinauf konnten sie von der irgendwo darunter liegenden
Wohnung ungestört und unbeobachtet gehen, um einmal auf neutralem
Gebiet zu reden. Es ist einer der Schlüsselsätze von Rohena Geras
sympathischer zarter Liebesgeschichte DIE SCHNEIDERIN DER TRÄUME
(2018), wenn er erstaunt sagt: „Ich wusste gar nicht, dass man hier
herauskann.“ So spricht jemand, der gefangen ist, aber sich bisher
nicht wirklich darüber im klaren war.
Die beiden Hauptfiguren
lernt man zunächst vor allem durch die Räume kennen, in denen sie
sich bewegen oder aufhalten. Vor allem seine Wohnung, da ist der Film
zu großen Teilen ein Kammerspiel für zwei, zu dem sich hin und
wieder ein Besuch gesellt. Und für beide ist der Bewegungsraum
begrenzt. Eben auch für den jungen Mann aus der Oberschicht. Schon wenn
er die Küche, die eigentlich ihr Reich ist, betritt, wirkt er wie
ein Fremder. Allerdings muss sie sich dann zwanghaft seiner Welt
anpassen, etwa vom Boden aufstehen, wo sie sitzt und traditionsgemäß
mit den Fingern isst. Selbst die Außenwelt gehört dem Mann nicht. Die
Umgebung wirkt sofort verstört, wenn er in Shorts das bewachte
Gebäude verlässt, nicht in den Wagen steigt, dessen Tür der
Chauffeur ihm offen hält, und sich selbst an einem kleinen Kiosk
eine Schachtel Zigaretten holt. Man sieht ihn zu Hause, bei der
Arbeit, in einer Bar. Einmal streift er einsam verloren durch die
armen Gegenden, wirkt ausgeschlossen, als suchte er Anschluss an
etwas anderes. Für sie gibt es ebenfalls viele verbotene Räume.
Einmal wird sie aus dem Laden einer Designerin geworfen. Aber auch,
weil sie nicht den Mund aufbekommt, als sie angesprochen wird. Als
sie mit einem selbst genähten Kleid vor dem einzig großen Spiegel
der Wohnung angetroffen wird, betont sie ihm gegenüber, dass sie
sein Schlafzimmer sonst nur zum Aufräumen betrete. Allerdings sei
sie eine gewissenhafte Hausangestellte, die alle Regeln befolge und
im Gegensatz zu vielen anderen Hausnagestellten „nie den großen
Fernseher benutzt“. Gleichzeitig bewegt sie sich im Gegensatz zum
Mann frei auf der Straße, den Märkten, in der einfachen Arbeitswelt.
Beide sind allein. Ashwin
hat eine Hochzeit platzen lassen, weil die Braut eine Affäre hatte,
aber auch weil er diese gar nicht wirklich liebte. Ratna ist noch
nicht lange Witwe, was auf dem Land den lebenden Tod bedeutet,
während die moderne Großstadt ihr ein ungestörtes, freies Leben
bietet. Symbolisiert durch das Tragen von Armreifen, was sie in
Mumbai darf. Er arbeitet auf dem Bau für die Firma des Vaters. Sie
verdient Geld für das College der Schwester und hat dabei zunächst
ihren eigenen Traum vernachlässigt, Schneiderin und möglichst sogar
Modedesignerin zu werden. Nach seiner geplatzten Hochzeit kommen sie sich
langsam näher, wechseln immer öfter ganz persönliche Worte, was
sonst eher ungewöhnlich ist. Er verliebt sich in sie und drückt es
ihr gegenüber aus, als gäbe es keine richtende Gesellschaft
um sie herum. „Sag bitte nicht Sir!“, bittet er sie, worauf sie
mit Verständnislosigkeit reagiert. Was soll sie denn statt dessen sagen? Im
Übrigen würde ein Weglassen der Anrede nichts an den Realitäten in
der Welt und im Bewusstsein ändern. Er war lange in den USA und hat
offensichtlich vergessen, wie Indien funktioniert. Er macht nichts
falsch, und dadurch macht er alles falsch, etwa, wenn er nach einer
Party zu ihr und den anderen Hausangestellte geht, die gemeinsam
essen, und fragt, ob er warten solle, um sie mit nach Hause
mitzunehmen. Sie erntet dafür Spott. Sein Freund sagt ihm, er solle
sie in Ruhe lassen, wenn er sie liebe. Gezeigt wird eine
Klassengesellschaft, in der beide Seiten sich mit ihrer gegenseitigen
unterschwelligen Verachtung oder zumindest Missachtung für die
jeweil andere Seite eingerichtet haben. Das Lästern der Angestellten
über ihre Hausherren ist im Grunde nicht weniger deprimierend
anzuhören als die Unverschämtheiten der Reichen, übrigens in dem
Film durchweg Frauen.
Dennoch hat Rohena Gera
es bewusst geschafft, einen Film ohne Opfer und Unterdrücker zu drehen.
Diesen Gegensatz bis zur Unerträglichkeit auszuspielen, wäre ein
Leichtes gewesen, aber – wie gesagt – sie verzichtet auf diese
heutzutage so beliebte, das Publikum geistig niederdrückende Masche
der sozialen Ausweglosigkeit, die Tiefe und Bedeutung nur suggeriert.
Gleichzeitig gehört der Film nicht zu dem belanglosen, sogenannten
Feelgood-Kino, bei dem ich mich zumindest oft ganz elend fühle. Dass
der Film jetzt durch die europäischen Festivals getourt ist und dank
Neue Visionen einen Deutschlandstart hatte, haben wir wohl seiner
Teilnahme an der „Semaine de la Critique“ auf den letzten
Filmfestspielen in Cannes zu verdanken. DIE SCHNEIDERIN DER TRÄUME
ist der Spagat zwischen Festivalanspruch und dem gleichzeitigen Wunsch, vom
indischen Publikum gesehen zu werden. Im Grunde eine kühle
Kalkulation: Ein indischer Indie-Film braucht Festivalehren, um
Aufmerksamkeit zu bekommen. Und indische Presseaufmerksamkeit hat es
ja gegeben. Kann man im Netz leicht feststellen. Einen indischen
Kinostarttermin habe ich bisher nicht entdeckt, auch
nicht in der Region Maharashtra, denn gedreht wurde in deren Sprache
Marathi.
Rein stilistisch wirkt
sich dieser Spagat in dem Versuch aus, absolut realistisch zu sein,
aber Emotionen und Schönheit nicht zu vernachlässigen. Der Wille
zum Realismus nimmt mitunter direkt dokumentarische Qualität an,
wenn gerade zu Anfang Ratnas Hausarbeit, ihr Kochen, ihr Einkaufen
gezeigt werden. Gleichzeitig wird die Stimmung des Films von der
Hauptfigur geprägt, die mit Wärme und Präzision von Tillotama
Shome verkörpert wird. Shome hatte 2001 ihr Kinodebüt in Mira Nairs
MONSOON WEDDING. Sie war in der Folge nicht nur in indischen, sondern
auch in internationalen Produktionen zu sehen. Shome ist sozusagen
der Dreh- und Angelpunkt für die beiden Qualitäten des Films. Denn
von ihr gehen auch die Emotionen aus. Einmal, als sie voller
Zukunftshoffnung ist, ertönt im Hintergrund ein munteres Lied und
Ratnas Glücksgefühl geht von der Leinwand förmlich auf den
Zuschauer über. Sogar eine halb-dokumentarische Prozessions- und
Massentanzszene hat Rohena Gera untergebracht. Und selbst ein Happy End für Ratna und Ashwin beiden könnte ja irgendwann vielleicht doch möglich sein.
Ratna hat es schwer, aber
gleichzeitig ist sie glücklich, da zu sein, wo sie ist und sie hat eine
positive Grundeinstellung, die sie immer wieder vorantreibt, auch
wenn Ashwin etwas nachhilft bei ihrem beruflichen Vorankommen am
Ende. So kann er Geld und Einfluss einmal zu etwas Positivem nutzen.
Die Regisseurin hat als Drehbuchautorin Erfahrung in der
Unterhaltungsindustrie. Es waren wohl schwere Jahre, aber sie weiß,
wie Bollywood-Kino und TV-Seifenopern funktionieren. Von ihr stammt
beispielsweise das Drehbuch zu Kunan Kohlis THODA PYAAR THODA MAGIC
(2008 – Ein Engel zum Verlieben), eine hübsche himmlische
Liebesgeschichte mit den Stars Saif Ali Khan und Rani Mukherjee sowie
vier Kindern – und Rishi Kapoor als Gott. Der deutsche Titel DIE
SCHNEIDERIN DER TRÄUME ist also doch nicht so unpassend, wie man auf
den ersten Augenblick vielleicht denken mag, da er ja in eine völlig
andere Richtung weist als das sachliche SIR des Originaltitels, das
das Hauptthema des Klassenunterschieds betont und das in Frankreich
als MONSIEUR übernommen wurde. Vielleicht wär der deutsche
Kinotitel ja auch der passendere, weil ansprechendere und positivere, für Indien.
Bilder: © Neue Visionen Filmverleih