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Montag, 30. Mai 2022

Talapathy Vijay in BEAST – Stirb schnell

 

Wenn sich der Seelenklempner, der einen wieder einrenken soll, versucht zu verleugnen, weil er wegen dieses belastenden Patienten neuerdings selbst zum Psychiater gehen muss, dann ist der Ton eines kruden Films eingeschlagen, auch wenn es tragisch beginnt. Der von Talapathy Vijay dargestellte Spion-Elitesoldat Veeraraghavan in Nelsons tamilische Actionkomödie BEAST (2022) kann es nicht verwinden, dass ein kleines Mädchen, dem er immer bunte Luftballons gekauft hat, bei einem seiner Einsätze ums Leben gekommen ist. Die Zentrale hatte ihn bewusst nicht korrekt informiert und das Kind als Kollateralschaden in Kauf genommen. Natürlich für das große Ganze. Er quittiert den Dienst.

Die Rezeption von BEAST wae teilweise sehr durchwahsen, aber für mich ist der Film einer der neuen Werke mit dem höchsten Unterhaltungswert, mit dem ich mich dieses Jahr im Kino vergnügt habe. Alles ist bunt, poppig, originell, einfallsreich und komisch. Der absurde Humor ist zwar teilweise grenzwertig und Geschmackssache, etwa wenn eine alte Frau bei der Geiselnahme der Geschichte nervös und unkontrolliert anfängt zu brabbeln. Und da schießt der genervte Islamistenchef ihr völlig unvermittelt in den Kopf. Endlich ist Ruhe. Der Psychiater des Soldaten nimmt ihn zur Therapie mit auf eine Nordhochzeit, wo er plötzlich verlobt ist, ohne dass er sich gegen die energische junge Dame wehren kann. Die junge Frau namens Preethi will den Idioten nicht, den sie nehmen müsste, wenn sie nicht jemand anderen auftreibt. Der abservierte Verlobte sorgt dann noch für viel blühenden Irrsinn, vor allem da er sich das Gesicht seiner Angebeteten überlebensgroß auf den Rücken hat tätowieren lassen.

Die Story ist ja einfach. Fast alles spielt in einem modernen Einkaufszentrum, wo mörderische Konflikt mit islamischen Terroristen,  die die Besucher als Geiseln genommen haben, ausgekämpft werden. Es gibt ein hin und her, bei dem die Bösen nach und nach dezimiert werden. Die Parallelen zu STIRB LANGSAM sind unverkennbar, aber während Bruce Willis schwitzend durch die Gänge kriecht, behält Vijay eine gewisse saubere und jungenhafte Leichtigkeit.

Gleichzeitig gehen Humor und brutale Gewaltszenen eine teilweise angenehm einfallsreiche, unterhaltsame Mischung ein, da ist es doch mal egal, dass Regisseur Nelson und Hauptdarsteller Vijay, Joseph Vijay, bessere und wichtigere Filme gemacht haben. Die Mall bietet so manchen Konsumgegenstand an, den man ganz wunderbar als Waffe benutzen kann. Ein Auto, ein Skateboard. Dazu kommen meist in Zeitlupe gezeigte Messerkämpfe, die etwas Tänzerisches haben.

Pooja Hegde spielt eine energische Verlobte, während ihr Ex-Verlobter die erwähnte Nervensäge ist. Dazu kommen Johnny Lever und ein paar andere als Comedy-Verstärkung, was wunderbar funktioniert.  Hegde könnte durchaus ein paar energisch-witzige Szenen mehr haben. Übrigens kann man hier tatsächlich mal das Nachspannlied empfehlen, wo einem da doch manchmal bloß überproduzierte Geschmacklosigkeiten geboten werden. BEAST aber fährt auf mit einem munteren Mexikostück, gesungen von Vijay höchstpersönlich. Ein kleiner Nachschlag in tanzbarer Leichtigkeit sozusagen.

Sonntag, 22. Mai 2022

Prashant Neels K.G.F.: CHAPTER 2 – Die El-Dorado-Goldfabrik

 

Der zweite Teil (2022) des im Original Kannada-sprachigen Gangster-Epos K.G.F. ist der Dauererfolg Nummer eins dieses Frühjahrs. Selbst hier in Deutschland werden immer noch vereinzelte Vorstellungen angesetzt, was über einen so langen Zeitraum nicht so häufig geschieht. Man musste ja lange warten auf die Premiere, denn die wurde coronabedingt immer wieder verschoben.

Der erste Teil zeigte den Aufstieg des geprügelten Straßenkindes Rocky zum Gangsterboss, Volkshelden und zum Eroberer und Besitzer einer riesigen westernartig festungsgleich gesicherten Goldschürfanlage mit dem Namen El Dorado, wo Menschen als Sklaven für die mühselige Handarbeit gehalten werden. In K.G.F.: CHAPTER 2 (2022) geht es nun um den Erhalt und den modernen Ausbau dieses Besitzes. Es endet mit einer grandiosen Niederlage und einem genau getimten Tod auf hoher tiefer See. Aber es bleiben eben einige Fragezeichen. Vor allem eine Sache lässt die kleine Gruppe, die das alte Dokument mit Rockys vermeintlichen Erlebnissen liest, nicht los. Ist das Ganze Mythos oder Wirklichkeit, Wirklichkeit oder Fiktion? Vielleicht kommt es ja zur großen Rocky-Wiederauferstehung im dritten Teil, der sich ganz am Ende andeutet. Und ohne den Hauptdarsteller, den Star Yash, kann man einen dritten K.G.F. unmöglich drehen.

K.G.F. ist ein sehr formalistischer Film. Der größte Teil ist schmutzig-dunkel stilisiert, wozu die wilde, barbarische Gewalt passt. Das Ganze ist mehr überbordendes Spektakel als dramaturgisch ausgefeilt spannend. Es ist ein Film der Gegensätze und Extreme, immer am Rande der irrealen Phantasie. Ein harmloses, aber aussagekräftiges Beispiel ist Rockys Designer-Kleidung. Die sitzt perfekt und ist entweder einwandfrei fleckenlos oder aber ist, so wie sein Gesicht dann, rot verschmiert, weil er mal wieder bei einem heftigen Kampf ausgiebig in Blut gebadet hat. Dazwischen geht es nicht.

Dazu kommt eine äußerst komplexe Erzählweise. Denn man muss höllisch aufpassen. Schon beim ersten Teil hatte ich Schwierigkeiten, der Handlung bis ins Detail zu folgen. Manchmal ist es, als habe Jean-Luc Godard einen Michael-Bay-Film inszeniert. So wird zwischen den Zeit- und Ortsebenen auf eine Weise hin- und hergeschnitten, die für Mainstream-Filme eher ungewöhnlich ist, aber erfreulicherweise ganz offensichtlich vom Publikum angenommen wird. Das Süd-Kino ist in der Beziehung wirklich in der Moderne angekommen, während große Teile des Hindi-Films in der Vergangenheit festsitzen.

Die Exzesse des Films, die heftigen grenzenlosen Gewaltausbrüche dürften eine der Erfolgsursachen von K.G.F. sein. Tote gibt es hier in Massen. Zwei Höhepunkte sind die Kämpfe gegen den wikingerartig ausstaffierten Sanjay Dutt und seine Männer. Auf ein Niedermähen mit modernen Gewehren folgt eine klassische Schlacht in blutroter Handarbeit. Und so ist das K.G.F.-Universum hemmungslos, wild, brutal, unmoralisch: eine Welt, in der fast jeder in Wirklichkeit ein Gangster ist, vom Abgeordneten bis zum ehemaligen Straßenkind. Rocky hat mehr Energie und Durchsetzungsvermögen, ist seinen Gegnern immer einen Schritt, einen schnellen Gedanken voraus, kann das Verhalten der anderen erahnen. So zeigt er sich einmal selbst an bei der der ihn wie eine Besessene verfolgende Premierministerin, die von ihren Beratern gebeten wird, dem nicht nachzugehen, denn alle ihre Parlamentarier würden von Rockys illegalen Spekulationen finanziell profitieren. Und wenn ein Kampf zunächst eine scheinbare Niederlage ist, kann sich plötzlich alles wenden, weil Rocky die Niederlage schon mit eingeplant hat. Yash spielt Rocky, dem exzessive Gewalt Spaß macht, unbeweglich, ungerührt, lauernd, beobachtend, gleichzeitig unterkühlt und brennend wild,

Montag, 2. Mai 2022

S.S. Rajamoulis RRR – Göttlicher Freiheitskampf

 

Es gibt ein aktuelles Interview mit dem Regisseur des Telugu-Hits RRR, mit S.S. Rajamouli, wo dieser davon redet, dass die Leute wegen des Stars ins Kino gehen. Nicht wegen des Filmemachers. Und natürlich ist das indische Kino ein Starkino par excellence, aber dennoch ist diese Aussage in Rajamoulis  Fall einfach falsche Bescheidenheit. Denn RRR gilt ja in Gegenden, wo die beiden Hauptdarsteller NTR jr. und Ram Charan keinen Starstatus haben, vor allem als der neue Film des Machers der zwei Teile von BAHUBALI (2015/2017).

Vor dem Vintage-Hintergrund der 1920er wird in RRR die Geschichte von Freiheitskampf und, parallel dazu, von einer aus Feindschaft und Missverständnis langsam wachsenden, tiefen Freundschaft erzählt. Der scheinbar für die Briten aktive Karrierepolizist Ram trifft auf den Stammesanführer Komaram aus dem Dschungel, der mit einigen Mitkämpfern ein kleines, von einer reichen Engländerin entführtes Mädchen befreien will. Räumlicher Mittelpunkt ist das stark befestigte britische Fort, in dem sowohl gelebt als auch begehrte Munition gelagert wird. Und Ram will in Wirklichkeit an die Waffen herankommen, Komaram geht es nur um das Mädchen. Individuelles, kurzfristiges Interesse und kollektives langfristiges Denken treffen aufeinander. Ram Charan spielt den kontrollierten und intellektuellen, manchmal etwas verbissenen Polizisten, und NTR jr. den naiveren Hau-Drauf-Helden aus dem Dschungel, bei dem sich Wagemut und ein gewisser Leichtsinn mischen. Hier finden sich Motive aus dem Ramayana, aber stark abgewandelt. Nicht Sita etwa wird entführt, sondern das einfache Waldmädchen. Hier steht das Volk im Mittelpunkt, nicht der Adel.

Man findet in RRR die Qualitäten von Rajamoulis Filmen, die oft große, epische, extrem gewaltige, gewalttätige und wilde Szenen enthalten. Aber immer wird alles in einem harmonischen Gleichgewicht gehalten. Rajamouli ist ein Meister solcher Gegensätze, was sich schon in den kleinen Dingen zeigt. Eines der anschaulichsten und augenfälligsten Beispiele ist der bildliche Anfang von BAHUBALI. Auf der einen Seite ist da das beindruckende Bild dieses riesigen Wasserfalls, auf der anderen Seite das in seinem Korb schwimmende kleine Baby, das als erwachsener Mann immer wieder versuchen wird, den steilen, hohen Berg, von dem das Wasser sich kraftvoll ergießt, hinaufzusteigen,. IN RRR findet sich Entsprechendes gleich zu Anfang. Szenen des Tempos, der kraftvollen Energie mit blitzschnellem Laufen einerseits und andererseits ein fast statischer, unglaublich-ungerührter Kampf gegen eine direkt irreale Riesenmenge, um einen einzigen Mann zu verhaften.

Dabei spielt die perfekt choreographierte Bewegung eine große Rolle. Sowohl die Tanzchoreographie als auch die im weiteren Sinne, vor allem der Kamerachoreographie. In dem Lied „Naacho Naacho“ verbindet sich das auf perfekte Weise. Bei Rajamouli gibt es noch schöne Musik- und Tanzszenen, die zur Story beitragen. Man darf übrigens nicht vergessen, dass Rajamouli auch anderes beherrscht als Fantasy und Action. MARYADA RAMANNA (2010) ist das wunderbare Remake der Buster-Keaton-Komödie OUR HOSPITALISY (1923). Hauptdarsteller Sunil ist hier in ständiger artistischer Bewegung. Oder der temporeiche Fliegenfilm EEGA (2012), auch eine Übung in digitalem Filmen, das bei Rajamouli nie in stumpfsinnige Videospiel-Hässlichkeit abgleitet und sich von Film zu Film malerisch perfektioniert.

Ästhetischer Höhepunkt von RRR ist die Schönheit der Zeitlupe beim Endsieg Komarams und Rams über die britischen Truppen des Forts. Da verbinden sich pure Gewalt, pure Ästhetik, pures Vergnügen, wenn Politik und Religion sich hier verbinden. Rajamouli verliert sich nie selbstverliebt in seine Stärken. Es ist die Leichtigkeit, die einen ganz offensichtlich genau durchdachten und durchkomponierten Film wie RRR auszeichnet. Rajamouli sorgt für fließende Dynamik und Abwechslung. Auch in RRR macht er aus jeder kleinen Szene ein visuell-dramatisches Juwel, das immer den Dimensionen des Gezeigten angemessen ist. Das sind unzählige kleine Ideen, ohne demonstrativ darauf hinzuweisen: intelligente, präzise Einstellungen, kleine und große dramaturgische Höhepunkte. Nichts wirkt aufgesetzt oder konstruiert. Rajamouli verbindet das heroische „Bigger-than-life“ mit einem alltäglichen „All-das-ist-möglich“. RRR ist eine der besten Filme des Jahres. So viel zumindest kann man jetzt schon sagen.

Freitag, 8. April 2022

Akshay Kumar in BACHCHHAN PAANDEY – Currywestern, Killer und Kino

 

Gleich im Vorspann von BACHCHHAN PAANDEY (2022) klingt es nach Western, aber nicht nach Currywestern, sondern nach hemmungsloser Morricone-Leone-Abkupferung. Da dröhnen die Morricone-Standards in klebriger Dichte, und die weiten Sandgegenden Rajasthans werden als Wilder Westen eingeführt. Erzählt wird eine Outlaw-Story und ist neben Hauptdarsteller Akshay Kumar als Paandey wirksam besetzt bis in kleine Nebenrollen. Dazu kommt das Vintage-Feeling des bösen Helden Bachchhan Paandey: Der liebt seinen alten Hochglanz-Oldtimer aus den 1950ern/-60ern, auf den kein Kratzer kommen darf. Doch bevor man in seine Gangsterwelt eintauchen darf, macht der Film noch einen filmischen Umweg.

Denn alles beginnt in Mumbai bei Dreharbeiten, wo eine streitbare junge Regieassistentin in der Gestalt von Kriti Sanon Ärger bekommt mit Regisseur und Produzent. Und am liebsten würden sie sie einfach zum Teufel jagen, wenn da nicht das Versprechen des Produzenten wäre, dass sie einen Film drehen dürfe, wenn sie ein gutes Thema vorweisen könne. Das muss aber erst gefunden werden. Sie stößt auf Berichte über den hochgefährlichen Bachchhan Paandey, ist begeistert und landet in Rajasthan und sammelt Material, was sich als nicht ganz ungefährlich erweist. Wäre sie ein Mann, wäre sie vermutlich schnell erschossen worden. Ihr Arbeitspartner hat daher mehr Angst als sie.

Akshay Kumar hat offensichtlich Spaß an der Rolle, wobei die Make-Up-Abteilung gute Arbeit geleistet hat. Doch der Film ist seltsam unschlüssig. Die Mischung aus brutalem Gangsterfilm-Western und Komödie funktioniert nicht. Das eine scheint das andere zu blockieren, sodass hinterher nur ein über weite Strecken ziemlich fader Eintopf herauskommt. Da ist zu viel Kumar-Show. Und die Hauptfigur bleibt einem fremd. Paandey will zwar Angst verbreiten als Überlebensstrategie im ziemlich gefährlichen Gangsterleben, wo man nicht unbedingt alt wird, aber als Bösewicht existiert er vor allem bloß verbal. Da ist ein Schauspieler, der mit Vergnügen seine Show abzieht und den Bösen markiert, der schießt, ohne dass man die Opfer sieht. Man nimmt brutale Morde gar nicht als solche wahr. Die Gewalt bleibt seltsam keimfrei. Er knallt ein bisschen mit der Pistole herum. Selbst das Brennen eines Journalisten bei lebendigem Leib berührt einen nicht. Wobei Produzent Nadiadwala, der selbst die Story geschrieben hat, hier vielleicht einen heimlichen Traum auslebt. Echte Bedrohung strahlt er nicht aus, Lichtjahre entfernt von Amjad Khan im berühmtesten aller Currywestern, SHOLAY (1975). Natürlich war es der Verlust einer Frau, der Paandey böse gemacht hat. Das ist doch mal psychologisch originell.

Das Amüsante im Film sind die Szenen, die dem Filmemachen und dem späteren Filmdreh gewidmet sind. Also besonders der Anfang und das Ende. Da kommt BACHCHHAN PAANDEY ganz gut in Fahrt. Da wird es dann auch hübsch amüsant, beispielsweise, wenn ein bekloppter, selbstverliebter Schauspiellehrer herangekarrt wird, denn die Gangster sollen sich selbst spielen. Das filmische Endergebnis hat eine löbliche, einfache Moral, denn das Gute im Gangster siegt. Aus dem mörderischen Outlaw, der so viel Wert darauf legte, dass die Menschen Angst vor ihm haben, macht der Film eine Art Heiligen. Das Schlussbild zeigt Paandey bei der Arbeit an einem neuen Film. Sein Erstlingswerk war sehr erfolgreich. Er guckt in die Kamera. Es ist ja im Grunde alles bloß Kino, alles bloß Film.

Dienstag, 5. April 2022

Richie Mehtas DELHI CRIME (Staffel 1) – Seelenlos

 

2012 macht ein Pärchen spät abends in Delhi Anhalter an einer befahrenen, aber einsam gelegenen Straße, die schon auf den ersten Blick unheimlich wirkt. Ein Bus hält, sie steigen ein und später liegen beide am Straßenrand. Sie ist unbeweglich, er kann nach einiger Zeit Hilfe herbeiwinken. Der junge Mann ist glimpflich davon gekommen, sie muss mit geringen Überlebenschancen ins Krankenhaus. Denn hier fand mehr als eine Vergewaltigung statt. Sie wurde in einem großen Anfall von Hass gefoltert, gebissen und von innen aufgerissen mit einer Stahlstange. Und das von sechs Männern gleichzeitig, und keiner von ihnen bemühte sich auch nur halbherzig, der Sache ein Ende zu machen.

Die erste Staffel von Richie Mehtas True-Crime-Fernsehserie DELHI CRIME (2019) beruht auf der damals auch medial ausgeschlachteten Massenvergewaltigung von 2012, wobei es in diesem Beitrag nicht darum gehen soll, Serie und Wirklichkeit auf das Verhältnis von Fakten und Fiktion zu untersuchen. Das große Ganze steht im Vordergrund. Die Serie ist spannend und aufschlussreich, weil sie nicht beim Verbrechen und einer Krimihandlung stehenbleibt, sondern anhand der Beteiligten von einer ganzen Gesellschaft erzählt. Auch ein Film über die Stadt Delhi, ihre dunklen Ecken, ihren geistigen Zustand. Zwischendurch immer wieder eine schnelle Erzählweise, die den Ehrgeiz zu haben scheint, dokumentarisch möglichst viele Quadratmeter Delhis aufzunehmen. Da sind die vollen Straßen, die Menschenmassen, die nächtlichen Lichter, die unaufhörliche Bewegung.

Die Tochter der Polizistin – eine von Shefali Shah mit Gefühl und Energie gespielte DCD (deputy commissioner of police), Chefin als eine Art Reviervorsteherin – jedenfalls will weg aus Delhi nach Nordamerika. In Indien könne man nicht leben, es sei viel zu unsicher, besonders für Frauen. An der Mutter jedenfalls liegt es nicht. Sie geht in ihrem Beruf an die Grenzen der Leidens- und Leistungsfähigkeit. DELHI CRIME ist gekennzeichnet durch eine positive Darstellung der Polizei und ihrer harten und oft auch erfolgreichen Arbeit, die nie wirklich gewürdigt wird. Auf die man sich nur stürzt, wenn etwas schiefgeht. DELHI CRIME zeigt hoch engagierte Beamte, die nicht aufgeben, bis sie ihre Aufgabe erledigt haben. Die Chefin muss ihre Untergebenen aber immer wieder motivieren. Es ist ein Kampf gegen Müdigkeit, ein schlafloser Kampf gegen ein Ultimatum von oben, den Fall restlos zu klären. Die oft intensiven Ermittlungen gehen unter Lebensgefahr bis nach Kashmir.

Die Polizei ist of der Prügelknabe, das schwächste und unterbezahlte Glied in der Kette. Solche Verbrechen passieren ja in Indien öfter, aber es ist eher selten, dass sie an die Öffentlichkeit kommen. Und das wird diesmal von verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen ausgenützt, teilweise natürlich auch mit berechtigten Anliegen. Aber jeder hier kocht sein Süppchen, will seine Interessen durchsetzen. Und zwischen allen eben die Polizei, die unter Druck steht, die Täter zu finden und zu verhaften. Und es trifft die Beamten von allen Seiten. Zunächst gibt es spontane Demos aus der Bevölkerung heraus, Proteste, Schweigemärsche mit Kerze. Aber dann verselbständigt es sich. Es gibt Hetze im Fernsehen. Feministinnen verteilen Schuld. Die Politik benutzt die Konflikte für die politische Auseinandersetzung, auch um sich selbst aus der Schusslinie zu nehmen. Denn die meisten Vorwürfe sollten doch gerade die Politik treffen. Schließlich werden da die Gesetze gemacht. Die Proteste werden dann gewalttätiger und die Tochter sieht am Ende die Politisierung und die vermutlich bezahlten Pseudodemonstranten. Sie will nicht mehr daran teilhaben und versöhnt sich mit der Mutter.

Mit der Suche nach den Tätern sieht man auch ihre Umgebung, ihre Lebensweise. Es geht bis weit nach unten in der Gesellschaft. Auf das Unmögliche verzichtet DELHI CRIME, zieht es vor, in manchen Bereichen an der Oberfläche zu bleiben und sich nicht der Psychologisierung hinzugeben. Am Ende bleibt die Frage nach dem Warum. Ein Polizist sagt lapidar, Pornos ohne Aufklärung seien schuld, aber das erklärt nicht die übermäßige Brutalität. Da spricht ein Frauenhass, der erschreckt. Die Reviervorsteherin liegt vielleicht am nächsten, wenn sie beim sadistischen Anführer der Männer feststellt, da wäre nur Leere in den Augen. Ein Mensch ohne Ich, Gefühle, Gedanken, vor allem ohne Unrechtsbewusstsein und ohne Empathie. Die Männer können sich nicht in die Leiden des weiblichen Opfers hineindenken, als wäre es kein Mensch.

Dabei sind es auf den ersten Blick doch ganz normale Männer, die sich um ihre Familien kümmern oder auch ihre Mütter lieben. Eine andere Familie bangt währenddessen im Krankenhaus am Bett des weiblichen Opfers. Da gibt es stille Szenen mit den Eltern und stillem Geflüster und einer halbtoten jungen Frau, die selbst spürt, dass sie zu verletzt ist und nicht überleben wird. Sie kann gerade noch vor ihrem Tod auf Bildern die Täter identifizieren. Eine junge Polizistin und Anfängerin ist als Aufpasserin eingeteilt und spürt die Belastung. Zwischendurch muss sie raus auf die Straße, um Demonstranten in Schach zu halten. Polizeilicher Alltag eben.

Montag, 21. März 2022

Puneeth Rajkumar in JAMES – Ein stilvoller Schwanengesang

 

Eine der größten Stars des Karnataka-Kinos, Puneeth Rajkumar (1975-2021), starb überraschend im Oktober 2021 mit nur 46 Jahren an einem Herzinfarkt, der ihn wie aus dem Nichts attackierte. Noch in der Ambulanz auf dem Weg ins Krankenhaus verschied er. Trotz seines doch relativ jungen Alters hatte der Schauspieler aus dem Bundesstaat Karnataka eine beachtenswert lange Karriere hinter sich, denn schon als kleines Kind, ja, im Grunde als Baby, hatte er gelernt, sich gekonnt, mit Routine und Kreaktivität, vor der Kamera zu bewegen. Der Powerstar "Appu“ war nicht nur bei den Massen beliebt, er wurde auch mit Preisen ausgezeichnet.

Der Kannada-Film JAMES (2022) ist damit sein unbeabsichtigtes Abschiedswerk geworden, ein abwechslungsreicher, bunt aufgedrehter Schwanengesang, geschrieben und inszeniert von Chethan Kumar. Ein Werk mit vollen, gut geplanten Knallbonbonboneffekten, wie ein Best of von Rajkumars Können wirkend. Auf jeden Fall würdig eines Stars. Das geht von leicht-lockeren Tanzschritten bis zum irrealen Kampf in schwerer Uniform gegen eine Übermacht an Gegnern. Da zeigt sich mal wieder, dass man besonders in Südindien äußerst ansprechende Filme auch ohne zusammenhängende Handlung drehen kann, dass dabei weitaus Spannenderes und Besseres herauskommen kann, als wenn man sich auf eine pseudo-anspruchtsvolle Weise in eine leblose Story quetscht, so wie das etwa der Hindi-Film RADHE mit Salman Khan macht, wobei dann doch mit einem Auge auf die Kritik geschielt wird. Es kommt bei allem nur auf die richtige Haltung hat. Die Schauspieler, die Action, die einfallsreichen Einstellungen und die Farben sind in JAMES zu einer sehenswerten, mitunter mitreißenden Mischung verbunden. Die nahe liegende Gefahr eines ungenießbaren Breis wird geschickt und gekonnt vermieden.

Abwechslungsreich ist das Ganze auch noch. Es beginnt wie ein gemütlicher Familienfilm, um in wilden Massakern zu enden. Da bevölkern am Ende die Toten den Fußboden. Mal abgeschlachtet von Rajkumar, diesem Supersoldaten, mal ermordet von den Bösen, die wie aus dem Nichts auftauchen und es ist sicher keine Schande zuzugeben, dass man sehr schnell den Überblick bei JAMES verlieren kann, wenn man ihn denn je bekommt.

Aber dieses Videospielprinzip der ständig neuen Figuren sorgt jedenfalls für ständigen Nachschub an Personal und für Abwechslung. Und immer geht es in dieser wild cartoonesken Actionwelt ganz anderes weiter, als man gedacht hat. Man kann wie gesagt also nicht gerade behaupten, dass man hier eine nacherzählbare Story vorfindet, aber gerade diese dramaturgische Leere und Beliebigkeit erlaubt es dem Film, seine Qualitäten unverkrampft zu entfalten. Es wirkt nie müde routiniert, sondern als würden die Beteiligten gerade das freie Filmemachen nur für die Massen entdecken. Da weht eine unterhaltende Frische durch das ganze Projekt, die man gerne öfter auf der dicken Filmfan-Haut spüren würde. Und besonders aus westlicher Perspektive hat das Ignorieren klassischer dramaturgischer Regeln etwas Angenehmes und Anziehendes. Da vergisst man gerne alle cinephilen Werte und Ansprüche.

Montag, 14. März 2022

ANKAHI KAHANIYA – Liebe und Hilfe

 

Der Episodenfilm ist ja inzwischen beliebter Standard der Streamingdienste geworden. Aber, seien wir ehrlich, meistens sind sie nicht mehr als durchschnittlich. Ein Gipfel des eher belanglosen Wohlfühlfilms ist jetzt ANKAHI KAHANIYA (2021), der jeweils nach einer netten Idee den Großteil der Laufzeit viel zu dröge vor sich hinplätschert, auch wenn es einige wirklich hübsche Momente gibt. Damit es Sinn macht, haben die Filme oft ein gemeinsames Thema. Hier geht es diesmal um Einsamkeit und Hilfe dagegen, etwa um Mittel gegen Einsamkeit in der Großstadt. Drei Mal hilft einer dem anderen bei Liebesproblemen. Es handelt sich aber um Pärchen, die nicht zusammenkommen. Ihre Gemeinsamkeit beschränkt sich eben darauf, sich gegenseitig durchs schwere Leben zu hieven, anzuspornen, Ratschläge zu geben.

Die erste Hauptfigur ist der Angestellte eines Kleiderladens, der über diesen Job hinaus kein individuelles Leben, kein Privatleben hat, außer dass er spät abends nach Hause geht und etwas isst.  Regie geführt hat Ashwini Iyer Tivari, die mit BAREILLY KI BARFI (2017), einen der beliebtesten Kuschelfilme der letzten Jahre gedreht hat. Und dieser Angestellte lässt sich ohne Widerspruch und emotionslos ausbeuten vom Chef und dem frechen Kollegen, der macht, was er will. Er muss dann für den Laden eine Schaufensterpuppe besorgen und übernimmt damit die Damenabteilung, die plötzlich aufblüht. Er fasst eine seltsame Zuneigung zu der Puppe, lächelt sie an, redet mit ihr, zieht sie geschmackvoll an. Es ist, als würde er Frauen und die Kommunikation mit ihnen kennen lernen dadurch. Es ist ein Film voll idyllischer Musik, die auf Dauer ein bisschen repetitiv, süßlich-penetrant ist. Nachdem er vom Job entlassen wurde, fährt er nach Hause, wo ein junges Mädchen, seine künftige Braut, wie in einem Traum, einem Märchen auf ihn wartet. So kann er sich von der Puppe befreien, die ein ruhiges Leben in einem Abstellraum verbringt. Ein Paar Tränen kann er sich aber am Ende nicht verkneifen.

Abhishek Chaubey, dem Filme wie UDTA PUNJAB (2014) und SONCHIRIYA (2019) zu verdanken sind, gleitet leider in die Leere ab. Ästhetisch und atmosphärisch ist seine Hommage an das Kino der 70er/80er schon und ist perfekt und sehr schön anzusehen. Hauptfigur eines rumpeligen Einsaalkinos ist ein junger Filmvorführer mit einem alkoholkranken Onkel. Auf der anderen Seite ist da ein Mädchen, das in einem Chawl wohnt und ständig von der Mutter angeschrien und von einem Nachbarn – oder Verwandten – belästigt wird, mit ihrer Freundin ins Kino geht, wo sie dem Vorführer langsam näher kommt. Beide wollen nur heraus aus ihrem Privatleben, hassen es. Sie leisten sich gegenseitige Hilfe, um aus der Stadt herauszukommen. Sie spielen zurückhaltend Beziehung, was sich hinterher einfach als gegenseitige Unterstützung herausstellt. Im Bus dann fährt jeder in eine andere Richtung, befreit aus den täglichen Zwängen. Sie haben einander gestärkt. Ansonsten ist alles etwas banal.

Saket Chaudhary, dessen letzter Spielfilm HINDI MEDIUM (2017) mit Irrfan Khan war, liefert mit feiner Ironie in seinem intelligenten Kurzfilm den besten Beitrag ab. Eine Frau bekommt mit, dass ihr Mann sie betrügt. Sie geht zu deren Ehemann und nach etwas Zögern willigt der ein, die betrügerische Beziehung zu rekonstruieren, um zu begreifen, was da wohl passiert ist. Schritt für Schritt gehen sie vor, Handlung, Dialoge, sie kennen schließlich ihre Partner. Das Besondere ist, dass beide mit einem Fremden ganz anders als normalerweise sind. Sie sagen plötzlich die Wahrheit über sich und ihr Leben, wozu sie sonst mit ihrem Partner nicht in der Lage sind. Am Ende treffen sie sich in einem Epilog in einem Café. Bei ihm läuft jetzt alles besser. Er hat aber eine für sie deprimierende Art, sie auf den Boden der Tatsachen zu bringen. Das will sie nicht. Ein bisschen Lüge braucht sie im Leben und sollten sie sich wiedersehen, soll er beruhigend wirken: „Munter mich einfach auf. Und sag sonst nichts.“

Sonntag, 6. März 2022

Ram Madhvanis DHAMAKA – Schmierenjounalismus

Es ist ein harmonischer, paradiesischer Anfang: Die Hauptfigur träumt von seinen Erinnerungen an eine zurück liegende perfekte Beziehung, auch wenn sie da längst vorbei ist und er in ungewisser Düsternis zu schweben scheint. Regie und Drehbuch dieses moralischen Polit-Thrillers sind von Ram Madhvani (2021), dessen bekanntester Film der auf Tatsachen beruhende Terrorismus- und Entführungsfilm NEERJA (2016) ist. In der Hauptrolle gibt es Kartik Aaryan zu sehen, zu dessen besten Rollen die Hauptfigur in Imtiaz Alis bisher letztem Film LOVE AAJ KAL (2020) gehört.

Aaryans TV-Journalist, der auch schon mal bessere Zeiten gesehen hat, spielt den neuen Moderator eines neuen Senders, der bisher natürlich noch kaum Zuhörer hat. Der Wettbewerb zu anderen Unternehmen ist also noch um vieles höher als bei einem arrivierten Unternehmen. Der Druck ist ungleich stärker.  Er bekommt gleich zu Beginn seiner Sendung einen Anruf mit einer Bombenwarnung, die er zunächst nicht ernst nimmt, bis er zu zweifeln beginnt und während er etwas ungläubig auf den Attentäter einredet, explodiert das genannte Ziel, ein Hochhaus. Solch ein knallender Bomben-Anfang, solch eine Story sind ja an und für sich nichts Sensationelles, haben etwas von der B-Film-Version von Tony Scotts Meisterwerk DEJA VU (2006) mit Denzel Washington. Und unabhängig davon ist es ja nicht so, als fehlte es der Welt an kritischen Medienstorys.

Das Spannende der Erzählung liegt im Individual-psychologischen, in der Parallelisierung von Journalismus, Spitzenpolitik und dem Einzelnen, der sich in dieser ganz auf das eigene Ich konzentrierten Welt total selbstverliebt verliert. Die moralischen Schwächen des Moderators sind zu groß für die vielen Bereiche des öffentlichen Lebens, die hier zusammenkommen und sich überschneiden: Journalismus, Geheimdienst, Persönliches, Politik. Da sind menschliche Schwächen, die man nicht überwinden kann. Es geht hier um weit mehr als nur um eine gefährdete Karriere, einen wütenden Attentäter oder einen fehlerhaften Politiker. Es geht ganz allgemein um Moral und Ehrgeiz. Der Journalist weiß, dass er an sich das Falsche macht, lässt sich aber immer wieder korrumpieren durch das ständige Versprechen der Chefin auf einen zentralen Posten.

Die Sehnsucht nach Karriere kann also leicht die Persönlichkeit korrumpieren. Zu seinem Ehrgeiz gesellt sich eine dumme, unschuldig spielende Naivität, mit der er etwa seine Freundin betrogen und ihr einen wichtigen, preiswürdigen Artikel gestohlen hat, um ihn als sein eigenesWerk einzureichen. Und er ist unfähig, sich dafür zu entschuldigen, als wäre er auf natürliche Weise unfähig zu einfachem moralischen Verhalten. Die Hauptfigur symbolisiert die Kritik am modernen Journalismus, an seinen Methoden, am modernen Menschen an sich. Und DHAMAKA ist eine durchaus echte Darstellung des Journalismus, ist wohlgemerkt keine heitere Journalismussatire. Hier ist nichts witzig oder absurd. Zu Grunde liegt das, was jeden Abend über die Mattscheibe flimmert und mit ein paar seltenen Ausnahmen Dummheit und Lügen verbreitet. DHAMAKA ist ein Film über Wahrheit und Lüge, über Wahrheit und Journalismus.  – Schmierenjournalismus und Marktanteile. Die Chefin wird angelogen, aber andererseits missbraucht sie ihn, auch, weil er nicht skrupellos genug ist und nicht das tut, was er tun soll.. Denn das Befolgen von Anweisungen ist eine Grundvoraussetzung für diesen Beruf.

Samstag, 26. Februar 2022

Leena Yadavs HOUSE OF SECRETS – THE BURARI DEATHS  – Selbstmord, Kult, Mord?

Leena Yadavs DAS HAUS DER GEHEIMNISSE: DIE TOTEN VON BURARI ist ein durch und durch geordneter Film. Obwohl es um ein auf den ersten Blick unheimliches, bizarres Thema geht, bleibt der Film die gesamten drei Folgen der insgesamt zwei Stunden übersichtlich und klar verständlich. Alles ist in Form einer chronologischen Darstellung strukturiert und sehr übersichtlich. Diese leider wahre Geschichte geht den Weg von fiktionswürdiger Erzählung über seltsame Fantasien hin zu dem, was sich tatsächlich vor elf Jahren abgespielt hat im Stadtteil Burari von Delhi, einer Gegend für die untere und mittlere Mittelschicht. Aber Fakten können ja oft viel schlimmer sein als die Fiktion.

Die Sache scheint zunächst klar zu liegen: Es handelt sich scheinbar um den Selbstmord der elfköpfigen Großfamilie Chundawat. Der Film beginnt mit den nächsten Nachbarn, Polizisten sind natürlich auch da, Menschen, die zuerst am Tatort waren. Sie erzählen Tatsachen, die vermeintlich so gesehen wurden, wie sie passiert sind. Und niemand, der am Tatort war, hat diesen Anblick vergessen. Da sind auch riesige Menschenmassen, dazu eine unangenehme Meute an nicht zu stoppenden aufdringlichen Journalisten. Die Polizei hat Schwierigkeiten, für Ordnung zu sorgen. Straßen und Dächer der Gegend sind in jeder Ecke bevölkert von neugierigen Menschen.

Und plötzlich geht es überraschend in eine ganz andere Richtung, mitten in einer verstörenden, aber realistisch scheinenden Selbstmordgeschichte kommt der gar nicht so abwegige Verdacht auf etwas Übernatürliches, Kultiges auf. Viele kleine Dinge scheinen darauf hinzuweisen. Das mehrfache Auftauchen der Zahl elf am Haus und im Leben der Familie.  Eine schuldig scheinende Nachbarin, die man für eine Tantrikerin hält. Alles Dinge, mit denen man die Titelseiten der Sensationspresse füllen kann. Eine Gelegenheit, die diese auch nutzt. Der Höhepunkt sind elf geheimnisvolle Tagebücher des Sohnes Lalit Singh, versteckt im ganzen Haus, verfasst im Lauf der vergangenen elf Jahre. Sie enthalten vermeintliche Botschaften des Geistes des verstorbenen Vaters, dessen Willen befolgt werden soll, damit es der Familie gut geht. Und es ist tatsächlich gerade eine Zeit, in der es der Familie scheinbar gut geht. Aber diese Spur verläuft sich.

Am Ende kommt der Film zum Kern des Geschehens. Eine Wissenschaftlerin bemängelt, dass sich bisher niemand für die kleinen Details, für das wahre Geschehen interessiert hat. Jeder bewertet das Vorgefallene nach seinen eigenen Vorstellungen, den persönlichen Werten und Erwartungen. Die sachlichen Befragungen von Arzt und Psychiaterinnen und einer ernst zu nehmenden Journalistin bringen die Dinge in ein klareres Licht. Wie angenommen, steht der Sohn im Mittelpunkt. Aber anders als angenommen. Er hatte zwei traumatische Erlebnisse, von denen alles seinen Ausgang nahm. Zum einen hatte er einen schweren Sturz. Außerdem versuchte man, nach einem Streit mit dem Arbeitgeber, ihn anzuzünden. Fast wäre er verbrannt.

Das führt zur Entstehung eines Traumas, wie es jeden treffen kann. Lalit redet nicht mehr, schweigt, singt dann plötzlich bei einer Familien-Pooja, einem gemeinsamen familiären Anbetungsritual. So verschafft er sich die patriarchalische Herrschaft, stattet sich mit Autorität aus, an der seine Familie nicht einen Momnent zu zweifeln scheint... So hat er in seinen privaten,vertraulichen Tagebüchern selbst nie von der väterlichen Stimme aus dem Totenreich gesprochen, denn dann hätte sich der überirdische Glaube an seine Worte in Luft aufgelöst. Die Familie hätte nicht mehr geglaubt, dass er überirdische Inhalte transportierte.

Wiederholt sieht man Bilder der Toten, von den Beinen, vom Haus, der Wohnung, den knapp über dem Boden baumelnden Füßen. Dabei geht es auch um die Folgen, die das Geschehen auf Nachbarn und Bekannte hat. Sie reden über die Auswirkungen, hören nicht auf zu rätseln. Bei der Beerdigung hat man zu wenig Priester. Der Sohn zündet notgedrungen alle Scheiterhaufen selbst an.  Die Story ist voll solcher scheinbar kleiner und unbedeutender Details, die aber emotionale Folgen für das ganze Leben haben werden. Es gibt beispielsweise eine aussagekräftige Szene, wo eine Frau in einer Art Abwehrhaltung abwinkt, weil man die Dinge hinnehmen müsse ohne viel zu fragen, während die andere Frau nicht aufhört zu weinen. Und immer wieder sieht man den Stadtteil Burari aus allen Perspektiven, zu jeder Tages- und Nachtzeit, in allen Dimensionen. So holt der Film das Geschehen in unseren eigenen Alltag. Man kann es nicht einfach wegschieben als etwas Fremdes, Skurriles. Es  kann jedem passieren.

Mittwoch, 23. Februar 2022

Shakun Batras GEHRAIYAAN – Liebe, Geld und Betrug

 

Geschichten übers Fremdgehen waren mal eine haarige Angelegenheit im indischen Kino. Es gab sie, aber sie erregten oft Aufmerksamkeit. Selbst beliebte Filme wie SILSILA (1981) von Yash Chopra und der davon inspirierte KABI ALIVIDA NAA KEHNA (2006) von Regisseur und Drehbuchautor Karan Johar konnten in ihrer Entstehungszeit in konservativen Kreisen noch moralische Kritik hervorrufen. Ein anderes umstrittenes, aber auch beliebtes Thema war der verliebte Psychopath, der oft auf viel Sympathie stieß. Der Psychopath war vor allem eine Gelegenheit, schauspielerisch zu glänzen. Shah Rukh Khan hat zwei legendäre Psychofiguren in seiner Filmografie. Im Endeffekt geht es dann aber doch wie gewohnt um Liebe und Romantik. In Shakun Batras brandneuer Regiearbeit GEHRAIYAAN (2022), seinem dritten Spielfilm, ist dies anders. Interessanterweise hat Johar den Film zum Teil mitproduziert.

GEHRAIYAAN kann mit zwei Stars aufwarten, einmal Deepika Padukone in der Hauptrolle und Naseeruddin Shah in einer Nebenrolle als ihr Vater. Es ist eine auf einige wenige Figuren konzentrierte Geschichte. Vier junge Leute, zwei Pärchen um die 30, machen zu Beginn einen Ausflug ins Wochenendhaus. Gerade zwischen den beiden, wo es nicht funken sollte, beginnt das Feuer zu glimmen. Zwischen Padukones Alisha, einer Yoga-Lehrerin, unzufrieden verlobt, und dem Unternehmer, Siddhart Chaturvedis Zain, der eigentlich kurz vor der Hochzeit mit der reichen Tia steht. Es geht hin und her, zwischen Leidenschaft und Zögern, schlechtem Gewissem und Ausleben der Gefühle.

GEHRAIYAAN (2022) spielt in der Welt der Reichen und der Kapitalisten, die oft gar nicht so reich sind, wie es den Anschein hat. Es geht hier vor allem um Geld, für das man alles tut, vor allem, wenn die Existenz der Firma auf dem Spiel steht. Die materialistische Welt des Kapitalismus kennt kein Mitleid. Es ist eine Haifischwelt der Betrüger. Motto: Bevor ich gefressen werde, muss ich andere fressen. Ist man Opfer eines Betrügers in großem Stil geworden, stellt sich einfach nur die Frage, wie oder ob man aus dieser Notlage wieder herauskommt. Und dafür muss man bereit sein, zu jeder Methode zu greifen. Hier ist nicht das Individuum psychopathisch, sondern das System, in dem es existiert.

Vieles ist nicht so, wie es scheint, wird von einem Geheimnis umgeben. Auch zwischen Deepika Padukone und ihrem Film-Vater Naseeruddin Shah lebt die Lüge. Denn GEHRAIYAAN ist eine Familiengeschichte – wie schon KAPOOR &  SONS (2016) --  ein Film über Familiengeheimnisse. Es ist ein nüchterner Film, mit einer abgedunkelten Optik, die sich intensiv und ruhig seinen Figuren und ihren Handlungsmotiven annähert. So haben die Szenen auf dem Meer ein tiefes, kräftiges Blau. Das Meer spielt eine Schlüsselrolle. Die Gefahr des Untergangs in der haltlosen Tiefe besteht jederzeit.

Samstag, 19. Februar 2022

Shoojit Sircars SARDAR UDHAM – Die Ideologie des Revolutionärs

 

Am 13. April 1919 fand im Punjab, in Amritsar, ein brutales Massaker mit knapp 400 Toten statt. Die Briten hatten im Vorfeld eine Ausgangssperre mit Schießbefehl verkündet, aber niemand rechnete damit, dass die, wohlgemerkt, vorwiegend aus Indern bestehende Armee, auf friedliche Menschen, darunter viele Kinder und Alte, schießen würde.Versammelt hatte sich die große Menge in dem zu allen Seiten von einer Mauer verschlossenen Park Jallinwallah Bagh. Hauptverantwortlicher war der Vize-Gouverneur des Punjab, Michael O'Dwyer. Befehlshabender Offizier war Colonel Reginald Dyer. Hauptweck war, ganz einfach formuliert, erzieherischer Terror durch die Verbreitung von Angst, damit die Menschen zu Hause bleiben und gehorchen.

1940 wurde der inzwischen nach England zurückgekehrte O'Dwyer von einem den Kommunisten nahestehenden Attentäter erschossen. Aus diesem Stoff hat Shoojit Sircar mit SARDAR UDHAM (2021) seinen bis jetzt besten Film gemacht. Lange hatte er diesen Film geistig in Planung. Sircars Filme sind ja sehr wechselhaft. Er ist am besten, wenn es um Klares, Ernsthaftes, Politisches geht wie in YAHAAN (2005), MADRAS CAFE (2013) oder OCTOBER (2018). Bei einem Film wie GULABO SITABO (2020) allerdings, mit seinem schwer verdaulichen skurrilen Humor, wird er sehr schnell gewollt, verkrampft, banal und, ohne auch nur ansatzweise komisch zu sein.

Beginnend mit der Entlassung Udham Singhs aus dem Gefängnis nach einigen Jahren Haft, wird die auf Tatsachen beruhende Geschichte dieses Attentäters erzählt, wobei man sich natürlich dramaturgische Freiheiten nimmt. Gezeigt werden die Auswirkungen dieses schicksalhaften Tages auf einen glücklich verlobten jungen Mann.

Er ist aber vor allem geprägt von aktiver politischer Arbeit, denn der Sikh Singh gehört ja zu den Kommunisten. Er ist Teil des Umfelds des Märtyrers des antibritischen Widerstands Bhagat Singh, der bekanntlich nicht mit einer Gefängnisstrafe davonkam, sondern am 23.3.1931 wegen der Ermordung eines Polizisten hingerichtet wurde. Alles bleibt ganz persönlich. Das Innenleben Udham Singhs ist hier ebenso wichtig wie die äußeren Ereignisse. Ideologischer Unterbau der revolutionären Handelns ist eine Grundlage. Die Beziehung zu Bagath Singh ist vor allem eine persönliche, freundschaftliche, bei der man sich auch gemeinsam betrinkt.

Am Ende steht er Aug in Auge mit dem Tod. Eine äußerst lange Rückblende, die die Details des Massakers zeigt, ist die Schlüsselszene. Es ist eine starke Szene, die an die Grenze des Erträglichen geht, eine bewusst lange Szene, die kein Ende zu nehmen scheint, sodass man es kaum noch aushält als Zuschauer. Man versteht Singhs persönliche Involviertheit in dieses Kolonialverbrechen. Er kümmert sich wie ein Bessener um Verletzte, transportiert sie mit einer Schubkarre weg, immer mehrere auf einmal. Eine Anwohnerin hilft, dann bringt er die Menschen in ein riesiges,  restlos überfülltes Krankenhaus. Blut, Wunden, die Leichen und Verletzten liegen dicht beieinander und in engen Haufen zusammen.

Singh wird in London sogar Angestellter von O'Dwyer. Dieser gibt kein Wort des Bedauerns von sich. Er bemüht sich nicht einmal, eine Entschuldigung zu erfinden. Er ist überzeugt von der Tat, da sie ihren Zweck erreicht hat. Singh selbst zögert zunächst damit, zu töten. Er ist kein Killer, hat offensichtlich den Wunsch, den Verantwortlichen zu verstehen. Aber nach und nach sieht er das rettungslos Böse. Übrigens ja auch stellvertretend für die Zeit an sich. Den zeitlichen Rahmen bilden Radiosendungen, in denen es um Mussolini und Hitler geht.

Der stimmungsmäßig passende visuelle Rahmen wird durch eine abwechslungsreiche ausgeklügelte Nutzung von Licht und Schatten erzeugt, das ebenso weich-grell wie weich-weiß sein kann. Manchmal zerfasert es im Halbdunkel. Schneeweißes Licht fällt durch die Fenster der dunklen Räume. In Britannien, in Nordeuropa herrscht eine kühle Atmosphäre mit viel Schnee vor. Es berzeichnet die Abgründe, in denen der Revolutionär lebt, während der staatliche Mörder sich unter allen Umständen das Leben leicht macht.