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Dienstag, 22. Januar 2019

Hansal Mehtas SIMRAN - Die Lippenstift-Banditin

Simran – den Namen kennt jeder Bollywood-Fan. Und selbst wenn man ihn nicht sofort zuordnen kann, reichen zwei Sekunden Filmausschnitt aus Aditya Chopras Klassiker DILWALE DULHANIA LE JAYENGE (1995 – Wer zuerst kommt, kriegt die Braut), um daran zu erinnern, dass das ja die junge Dame in der Gestalt von Kajol ist, wegen derer Shah Rukh Khan als Raj sich fast totschlagen lässt. Und wenn in Hansal Mehtas Film SIMRAN (2017) eine indische Mutter hypnotisiert vor dem Fernseher sitzt, wo der 22 Jahre alte Film zu sehen ist, den sie wahrscheinlich schon in mindestens zweistellig-facher Anzahl gesehen hat, dann sagt sie geistesabwesend auch schon mal „Simran“ zu ihrer Tochter Praful, gespielt von Kangana Ranaut. Und die gibt dann kurz danach diesen Namen an, als sie bei einem Banküberfall gleich im Eingangsbereich von einer überfreundlichen Bankangestellten abgefangen und direkt zum Beratungsgespräch für eine Kontoeröffnung gelotst wird. Bald hat die berühmte Lippenstift-Banditin, die mit vorgetäuschter Bombe um den Bauch die Kassierer zu verschrecken pflegt, in der Öffentlichkeit einen Namen.

Hauptfigur Praful ist eigentlich eine nette junge Frau, solange man sich nicht zu sehr mit ihr einlässt. Ein Mann ergreift die Flucht, als sie ihn anmacht. Oder der Souvenir-Verkäufer in Vegas, den sie so lange nervt, bis der ihr die Mütze, die sie ganz billig erwerben möchte, schenkt. Ihr Vater kriegt bei jedem Gespräch mit ihr einen Wutanfall. Praful ist intelligent, energisch, provozierend und gleichzeitig fürchterlich naiv. Eine gefährliche Mischung. Vor allem bei dem Besuch einer Stadt wie Las Vegas, wenn einen die Spieltische anziehen und die Geldverleiher mit ihren Wucherzinsen so nett Geld vergeben, das sie doch tatsächlich hinterher zurückbezahlt haben wollen. SIMRAN ist wie die andere Seite der Medaille von Kangana Ranauts Erfolgsfilm QUEEN über eine junge Inderin im Westen, die die Freiheit entdeckt. In SIMRAN hat die junge Dame die Freiheit schon ausgiebig gekostet, ist Zimmermädchen in einem Hotel, eine geschiedene Frau mit 30 und hat wechselnde Freunde. Mit Vater und Mutter lebt sie in Atlanta, Georgia, USA ein nicht übermäßig erfolgreiches Leben als NRI – Non-resident Indian. Ihre einzige, bald scheiternde Zukunftshoffnung ist der Kauf eines Hauses, für das sie sieben Jahre geackert und gespart hat.

QUEEN war ja ein großer Erfolg, dessen Regisseur Vikas Bahl übrigens Ende letzten Jahres erst einmal nach Vorwürfen der sexuellen Belästigung im Karriereniemandsland gelandet ist. Nebenbei bemerkt ist der von einer Mitarbeiterin berichtete Vorfall aus dem Jahre 2015 so absurd eklig, dass man ihn sich schwer ausdenkt. Jedenfalls konnte Kangana Ranaut dazu unterstützend berichten, dass Bahl bei den Dreharbeiten zu QUEEN (2014) ständig mit außerehelichem Sex prahlte und er bei Begegnungen mit ihr auf Veranstaltungen seine Nase in ihren Nacken steckte und davon schwärmte, dass sie gut rieche. Höchst unangenehm. Aber man soll jetzt bloß nicht behaupten, dass ihr diese Unterstützung einer armen Belästigten nicht doch auch etwas Spaß gemacht hätte. Schließlich war weil Vikas Bahl zu dem Zeitpunkt offiziell noch Regisseur von Hrithik Roshans neuem Film „Super 30“ über einen Mathematiker. Und mit Roshan, laut Ranauts Aussage ihr Geliebter, als der noch verheiratet war, lieferte sie sich ja sogar eine gerichtliche Auseinandersetzung, denn Roshan beschuldigte sie der Belästigung und des Cyber-Stalkings. Kangana Ranaut lässt keinen Streit aus, provoziert, sagt, was sie denkt. Aber da ist auch immer angelerntes Kalkül dabei. Sie ist als Außenseiterin ohne Clan im Rücken in das Business gekommen, da bekommt man vor allem als Frau nichts geschenkt. Doch sie versteckt ihr Ego ja auch gar nicht. Gegen den Protest des Drehbuchautors von SIMRAN ließ sie sich Drehbuchcredits geben, behauptete, Apurva Asrani hätte nur den Entwurf eines Thrillers abgegeben und sie erst eine Komödie daraus gemacht. Das darf man dann doch bezweifeln. Hansal Mehta schwieg dazu.

Aber mir fällt tatsächlich keine Hindi-Schauspielerin ein, die dieser schwer fassbaren, widersprüchlichen Figur Praful eine Logik und einen Zusammenhang geben könnte, ohne dass es konstruiert wirkt oder auf psychologische Klischees zurückgegriffen wird. Jedem der Gefühle auf einer äußerst breiten Skala von einem Extrem zum anderen verleiht sie Glaubwürdigkeit. Und sie hat die Fähigkeit, ihrer Figur unangenehme Seiten zu verleihen, ohne dass sie unsympathisch wird. Man schaue sich mal die unglaubliche Eheberatungsszene am Anfang von Aanand L. Rais TANU AND MANU WEDS RETURNS (2015) an. Aber natürlich war in SIMRAN auch wieder einmal der richtige Regisseur, denn bisher war sie bei den individuellen und persönlichen Filmemachern am besten. Wie das in MANIKARNIA (2019) ist, wo sie zumindest laut eigener Aussage zu 70% Regie geführt hat und der jetzt leider doch nicht in Deutschland im Kino zu sehen sein wird, muss man abwarten. Hansal Mehta jedenfalls hat mit SIMRAN seinen ersten echten Unterhaltungsfilm gedreht. Sonst ist er ja eher für ernste Stoffe bekannt. Doch er hält den Film in einem schönen ambivalenten Gleichgewicht aus Ernst, Komik, Satire und Absurdität. Alles ist sehr temporeich, aufgenommen mit einer beweglichen Kamera, das Gegenteil seines vorherigen Films, ALIGARH (2015), mit seinen vielen dunklen Szenen und seiner bedrückenden Statik. Dieser Film hingegen ist oft grell und bunt – besonders in Las Vegas – und dann auch wieder eintönig monochrom – wie in den Räumen im Hotel, besonders im grünen Schließfachraum.

SIMRAN erfüllt keine Zuschauererwartungen. Immer wenn man denkt, der Film gehe jetzt in eine bestimmte Richtung ein, schlägt alles wieder um. Hier wird nicht zwischen Drama und Komödie abgewechselt. Hier passiert alles gleichzeitig. Man könnte sich die Story auch in Form eines tiefenpsychologischen, tief deprimierenden Sozialrealismus denken. Das bleibt einem erspart, denn davon hatten Mehta und Autor Asrani schon genug mit dem zwar ausgezeichneten, aber düsteren ALIGARH. Die indischen Kritiker attackierten ja vor allem das vermeintlich schlechte Drehbuch von SIMRAN, vor allem in der zweiten Hälfte, aber das Lose und Unzusammenhängende, die Tragödie in der Farce – oder umgekehrt – das alles ist gerade das ungeheuer Amüsante und auch Bewegende des Ganzen. Zwar ist der Film nicht perfekt ist, die Gangster beispielsweise sind eher misslungen. Aber nicht, weil sie Klischees sind, sondern weil sie langweilig sind. Man würde sich da solche wie aus der letzten Twin-Peaks-Staffel wünschen. Aber vielleicht hatten die Kritiker ja auch unbewusst etwas dagegen, dass die Hauptfigur nur begrenzt zur Identifikation einlädt. Prafuls größter Feind ist sie selbst. Und das bleibt so bis zum Schluss. Sie macht also überhaupt keine charakterliche oder moralische Entwicklung durch. Sie kommt nicht mit dem netten jungen Mann zusammen, den sie bloß vor sich selbst warnt. Sie ist immer noch besessen vom amerikanischen Traum des schnellen Reichwerdens. Sie hat am Ende echt tolle neue Pläne. Weshalb ihr Vater ihr im Schlussbild des Films an die Kehle geht. Was vorwiegend komisch und realistisch begann, zwischendurch sogar den Hauch einer Tragödie bekommt, hat sich längst in eine reine Farce verwandelt und ist gerade dadurch ganz nah dran an der Wirklichkeit.