Simran – den Namen
kennt jeder Bollywood-Fan. Und selbst wenn man ihn nicht sofort
zuordnen kann, reichen zwei Sekunden Filmausschnitt aus Aditya
Chopras Klassiker DILWALE DULHANIA LE JAYENGE (1995 – Wer
zuerst kommt, kriegt die Braut), um daran zu erinnern, dass das ja
die junge Dame in der Gestalt von Kajol ist, wegen derer Shah Rukh
Khan als Raj sich fast totschlagen lässt. Und wenn in Hansal Mehtas
Film SIMRAN (2017) eine indische Mutter hypnotisiert vor dem Fernseher sitzt,
wo der 22 Jahre alte Film zu sehen ist, den sie wahrscheinlich schon
in mindestens zweistellig-facher Anzahl gesehen hat, dann sagt sie
geistesabwesend auch schon mal „Simran“ zu ihrer Tochter Praful,
gespielt von Kangana Ranaut. Und die gibt dann kurz danach diesen
Namen an, als sie bei einem Banküberfall gleich im Eingangsbereich
von einer überfreundlichen Bankangestellten abgefangen und direkt
zum Beratungsgespräch für eine Kontoeröffnung gelotst wird. Bald
hat die berühmte Lippenstift-Banditin, die mit vorgetäuschter Bombe
um den Bauch die Kassierer zu verschrecken pflegt, in der
Öffentlichkeit einen Namen.
Hauptfigur Praful ist
eigentlich eine nette junge Frau, solange man sich nicht zu sehr mit
ihr einlässt. Ein Mann ergreift die Flucht, als sie ihn anmacht.
Oder der Souvenir-Verkäufer in Vegas, den sie so lange nervt, bis
der ihr die Mütze, die sie ganz billig erwerben möchte, schenkt.
Ihr Vater kriegt bei jedem Gespräch mit ihr einen Wutanfall. Praful
ist intelligent, energisch, provozierend und gleichzeitig
fürchterlich naiv. Eine gefährliche Mischung. Vor allem bei dem
Besuch einer Stadt wie Las Vegas, wenn einen die Spieltische anziehen
und die Geldverleiher mit ihren Wucherzinsen so nett Geld vergeben,
das sie doch tatsächlich hinterher zurückbezahlt haben wollen.
SIMRAN ist wie die andere Seite der Medaille von Kangana Ranauts
Erfolgsfilm QUEEN über eine junge Inderin im Westen, die die
Freiheit entdeckt. In SIMRAN hat die junge Dame die Freiheit schon
ausgiebig gekostet, ist Zimmermädchen in einem Hotel, eine
geschiedene Frau mit 30 und hat wechselnde Freunde. Mit Vater und
Mutter lebt sie in Atlanta, Georgia, USA ein nicht übermäßig
erfolgreiches Leben als NRI – Non-resident Indian. Ihre einzige,
bald scheiternde Zukunftshoffnung ist der Kauf eines Hauses, für das
sie sieben Jahre geackert und gespart hat.
QUEEN war ja ein großer
Erfolg, dessen Regisseur Vikas Bahl übrigens Ende letzten Jahres
erst einmal nach Vorwürfen der sexuellen Belästigung im
Karriereniemandsland gelandet ist. Nebenbei bemerkt ist der von einer
Mitarbeiterin berichtete Vorfall aus dem Jahre 2015 so absurd eklig,
dass man ihn sich schwer ausdenkt. Jedenfalls konnte Kangana Ranaut
dazu unterstützend berichten, dass Bahl bei den Dreharbeiten zu
QUEEN (2014) ständig mit außerehelichem Sex prahlte und er bei
Begegnungen mit ihr auf Veranstaltungen seine Nase in ihren Nacken
steckte und davon schwärmte, dass sie gut rieche. Höchst
unangenehm. Aber man soll jetzt bloß nicht behaupten, dass ihr diese
Unterstützung einer armen Belästigten nicht doch auch etwas Spaß
gemacht hätte. Schließlich war weil Vikas Bahl zu dem Zeitpunkt offiziell noch
Regisseur von Hrithik Roshans neuem Film „Super 30“ über einen
Mathematiker. Und mit Roshan, laut Ranauts Aussage ihr Geliebter,
als der noch verheiratet war, lieferte sie sich ja sogar eine
gerichtliche Auseinandersetzung, denn Roshan beschuldigte sie der
Belästigung und des Cyber-Stalkings. Kangana Ranaut lässt
keinen Streit aus, provoziert, sagt, was sie denkt. Aber da ist auch
immer angelerntes Kalkül dabei. Sie ist als Außenseiterin ohne Clan im Rücken
in das Business gekommen, da bekommt man vor allem als Frau nichts
geschenkt. Doch sie versteckt ihr Ego ja auch gar nicht. Gegen den
Protest des Drehbuchautors von SIMRAN ließ sie sich Drehbuchcredits
geben, behauptete, Apurva Asrani hätte nur den Entwurf eines
Thrillers abgegeben und sie erst eine Komödie daraus gemacht.
Das darf man dann doch bezweifeln. Hansal Mehta schwieg dazu.
Aber mir fällt
tatsächlich keine Hindi-Schauspielerin ein, die dieser schwer
fassbaren, widersprüchlichen Figur Praful eine Logik und einen
Zusammenhang geben könnte, ohne dass es konstruiert wirkt oder auf
psychologische Klischees zurückgegriffen wird. Jedem der Gefühle
auf einer äußerst breiten Skala von einem Extrem zum anderen
verleiht sie Glaubwürdigkeit. Und sie hat die Fähigkeit, ihrer
Figur unangenehme Seiten zu verleihen, ohne dass sie unsympathisch
wird. Man schaue sich mal die unglaubliche Eheberatungsszene am Anfang von
Aanand L. Rais TANU AND MANU WEDS RETURNS (2015) an. Aber natürlich war
in SIMRAN auch wieder einmal der richtige Regisseur, denn bisher war
sie bei den individuellen und persönlichen Filmemachern am besten. Wie das in MANIKARNIA (2019) ist, wo sie zumindest laut eigener Aussage zu 70% Regie geführt hat
und der jetzt leider doch nicht in Deutschland im Kino zu sehen sein wird,
muss man abwarten. Hansal Mehta jedenfalls hat mit SIMRAN seinen
ersten echten Unterhaltungsfilm gedreht. Sonst ist er ja eher für
ernste Stoffe bekannt. Doch er hält den Film in einem schönen
ambivalenten Gleichgewicht aus Ernst, Komik, Satire und Absurdität.
Alles ist sehr temporeich, aufgenommen mit einer beweglichen Kamera,
das Gegenteil seines vorherigen Films, ALIGARH (2015), mit seinen
vielen dunklen Szenen und seiner bedrückenden Statik. Dieser Film
hingegen ist oft grell und bunt – besonders in Las Vegas – und
dann auch wieder eintönig monochrom – wie in den Räumen im Hotel,
besonders im grünen Schließfachraum.
SIMRAN erfüllt keine
Zuschauererwartungen. Immer wenn man denkt, der Film gehe jetzt in
eine bestimmte Richtung ein, schlägt alles wieder um. Hier wird
nicht zwischen Drama und Komödie abgewechselt. Hier passiert alles
gleichzeitig. Man könnte sich die Story auch in Form eines
tiefenpsychologischen, tief deprimierenden Sozialrealismus denken.
Das bleibt einem erspart, denn davon hatten Mehta und Autor Asrani
schon genug mit dem zwar ausgezeichneten, aber düsteren ALIGARH. Die indischen Kritiker
attackierten ja vor allem das vermeintlich schlechte Drehbuch von
SIMRAN, vor allem in der zweiten Hälfte, aber das Lose und
Unzusammenhängende, die Tragödie in der
Farce – oder umgekehrt – das alles ist gerade das ungeheuer Amüsante und auch Bewegende des Ganzen. Zwar ist der Film nicht perfekt ist, die Gangster beispielsweise sind eher misslungen. Aber nicht, weil sie Klischees sind, sondern weil sie
langweilig sind. Man würde sich da solche wie aus der letzten
Twin-Peaks-Staffel wünschen. Aber vielleicht hatten die Kritiker ja
auch unbewusst etwas dagegen, dass die Hauptfigur nur begrenzt zur
Identifikation einlädt. Prafuls größter Feind ist sie selbst. Und
das bleibt so bis zum Schluss. Sie macht also überhaupt keine
charakterliche oder moralische Entwicklung durch. Sie kommt nicht
mit dem netten jungen Mann zusammen, den sie bloß vor sich selbst
warnt. Sie ist immer noch besessen vom amerikanischen Traum des
schnellen Reichwerdens. Sie hat am Ende echt tolle neue Pläne.
Weshalb ihr Vater ihr im Schlussbild des Films an die Kehle geht. Was vorwiegend komisch und
realistisch begann, zwischendurch sogar den Hauch einer Tragödie bekommt, hat
sich längst in eine reine Farce verwandelt und ist gerade dadurch
ganz nah dran an der Wirklichkeit.