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Donnerstag, 23. Januar 2020

Vishal Bhardwajs PATAAKHA – Schwesternkrieg

Nach dem aufwendigen, ordentlich unterhaltsamen, aber stellenweise etwas zu verkrampften RANGOON (2017) wollte Regisseur Bhardwaj eigentlich ein Projekt mit Irrfan Khan und Deepika Padukone realisieren, das aber auf Eis gelegt wurde wegen Irrfans schwerer Erkrankung. Also nahm er sich eine einfache Geschichte auf dem Land vor. Er wählte dazu schließlich nach einigem Casting zwei ausgezeichnete Hauptdarstellerinnen, die aber keine kostenintensiven großen Stars sind. PATAAKHA (2018) beruht auf einer Hindi-Kurzgeschichte von Charan Singh Pathik, von dem, soweit ich das bis jetzt überschauen konnte, bisher nichts ins Englische übersetzt wurde. PATAAKHA ist einer dieser Filme, wo die Versuchung groß ist, den gesamten Inhalt einfach nur nachzuerzählen, weil das allein schon ausreichend amüsant wäre. Was gleichzeitig natürlich nicht sehr einfallsreich wäre. Außerdem besteht der Film aus mehr als einer äußerst hübschen Story. Er ist auch rein formal sehr gelungen, neben einer großen Lebendigkeit ist er voller Liebe zum Detail, mit einer Atmosphäre zwischen echtem Realismus und erzählerischer, alles möglich machender Fantasie.

In PATAAKHA trifft Sanya Malhotra, die Hauptdarstellerin aus dem Ringer-Film DANGAL (2016), auf Radhika Madan, die durch eine TV-Serie bekannt wurde. Die beiden verkörpern auf das Innerlichste und Überzeugendste zwei Schwestern, die sich streiten und am Ende doch nicht ohne einander leben können. Aber die beiden streiten sich nicht nur, sie prügeln sich, und wenn schon, dann richtig. Und wenn der geplagte, allein erziehende Vater dazwischengeht, kann es ihm im Eifer des Gefechts der beiden passieren, dass er auch einen abkriegt. Da sieht man ihn schon mal, irgendwie wie der Papa von Astrid Lindgrens Michel, wütend mit dem Stock hinter den beiden herlaufen, die sich verstecken und gemeinsam nicht nach Hause trauen. Da sind sie sich dann mal einig. Aber es geht in dem Film auch um die Verwirklichung von weiblichen beruflichen Träumen angesichts von finanziellen und familiären Zwängen. Daher versuchen sie sich zu befreien, aber so leicht wird man die unsichtbaren, aber deswegen nicht weniger fesselnden Familienbande nicht los. Und manchmal will das Schicksal es doch anders.

Oft scheint dieser schöne, witzige, dramatische, wilde, bunte Film ins Melodrama, ins Tragische abzudriften, dann aber nimmt die Story doch immer wieder die Wendung ins Komische. Viel Ironie ist dabei. Ich nehme mal ganz dreist an, dass dieser Ton, diese Stimmungen schon in der Vorlage angelegt sind. Für mich ist PATAAKHA der schönste und unterhaltsamste indische Film über den Alltag auf dem Land seit WELCOME TO SAJJANPUR (2008) von Shyam Benegal. Wobei man MATRU KI BIJLEE KA MANDOLA (2013), die andere ländliche Komödie von Bhardwaj, nicht vergessen darf, wo er Bertolt Brechts „Puntila und sein Knecht Matti“ nach Indien verlegt hat, und der auch einen entsprechenden skurrilen und absurden Klassenkampf-Humor hat, bei dem richtig viel gesoffen wird.

Aber auch PATAAKHA soll mehr sein als reine soziale Komödie. Der Film hat eine weitere, allgemeinere Bedeutung. Der Kampf der Schwestern ist ein Kommentar zu dem scheinbar ewigen und oft so sinnlosen Kampf zwischen Pakistan und Indien. Aber das lässt sich wirklich nur auf einer sehr allgemeinen Ebene verstehen, als eine Art zusätzliche Botschaft. Würde es nicht direkt im Film vom Erzähler gesagt, würde Bhardwaj dies in Interviews nicht ausdrücklich sagen, ich wäre ehrlich gesagt nicht von alleine darauf gekommen. Im Übrigen können diese sinnlosen Schwesternkämpfe auf alles Mögliche hin verallgemeinert oder übertragen werden, wozu der Zuschauer Lust hat. Aber ich denke, die meisten werden den Film doch vor allem sehr direkt als einfache Familiengeschichte sehen.

Der Film hat eine ganze Galerie einprägsamer Nebenrollen, die allesamt mit wunderbaren Darstellern besetzt wurden. Da ist vor allem Sunil Grover als erfindungsreicher Straßenhändler und Erzähler, der immer wieder ins Geschehen eingreift, mal die Konflikte anfeuert, mal das Schlimmste verhindert. Und nur ihm ist es zu verdanken, dass es auf Dauer eine Komödie bleibt und nicht ins ernsthafte Melodrama abdriftet. Theaterschauspieler Vijay Raaz, den man von unzähligen Charakterrollen kennt, spielt den Vater. Gefallen hat mir neben dem perversen Witwer, dem zwei Mal verdientermaßen die Braut wegläuft, ganz besonders  die nur kurz erscheinende Figur eines Sadhus, der Dämonen austreiben soll, als Bezahlung eine Ziege und eine Flasche Whiskey verlangt und von der Patientin dann verprügelt wird. Und da in einem solchen Film natürlich alles irgendwie, den Umständen entsprechend, gut ausgehen muss, gibt es zum Schluss ein lustiges, ausgelassenes Holi-Lied mit der gesamten Besetzung, zu dem sich dann auch Regisseur Bhardwaj persönlich gesellt.