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Freitag, 19. Juni 2020

GHOST STORIES – Geister und Verwandlungen


Mit der Netflix-Produktion GHOST STORIES (2020) haben sich, nach BOMBAY TALKIES (2013) und LUST STORIES (2018), die Hindi-Filmregisseure Zoya Akhtar, Anurag Kashyap, Dibakar Bannerjee und Karan Johar erneut für einen Episodenfilm mit thematischer Klammer zusammengetan. Oft fallen solche Filme qualitativ auseinander, so wie AUSSERGEWÖHNLICHE GESCHICHTEN (1968) nach Poe, wo die Fellini-Episode die anderen beiden weit überragt. Doch das war in diesen indischen Omnibus-Filmen bisher nicht der Fall, und ist es auch diesmal nicht, wo Geistergeschichten auf dem Programm stehen. Wobei nur zwei der Beiträge echte übersinnliche Geistergeschichten sind. Was aber alle gemeinsam haben, ist trotz fantastischer Imagination eine gewisse Bodenständigkeit. Die Geschichte sind allesamt sehr geerdet in einer sozialen, psychologischen, politischen Realität. Keiner der vier verschwindet völlig in fremden Welten oder erforscht das Jenseits, wie es etwa die beiden INSIDIOUS-Filme (2010/2013) von James Wan tun.

Es geht los mit Zoya Akhtars Beitrag, die mit Janhvi Kapoor in der Hauptrolle eine sehr reale Geschichte erzählt über eine Pflegerin, die einen neuen Job beginnt in einer Wohnung, die förmlich nach einem Geist schreit und wo man besser alle Lichter anlässt, um das Düstere etwas auf Abstand zu halten. Der Horror ist zunächst einmal bloß die Arbeit an sich in dieser gruftigen Atmosphäre, mit einer schwierigen Patientin, die man offensichtlich eine Zeit lang ganz allein gelassen hat – es liegt viel Post im Briefkasten – und die zwischendurch seltsame Fähigkeiten entwickelt. Eigentlich halbseitig gelähmt von einem Schlaganfall, sitzt sie plötzlich aufrecht im Bett. Dazu kommen noch seltsame Geräusche auf dem Flur, und man weiß, da stimmt etwas nicht, auch wenn es für die junge Frau nie wirklich bedrohlich wird. Es wirkt bloß bedrohlich. Man merkt, dass Zoya Akhtar vor allem an der realistischen Seite der Geschichte interessiert ist, an einer alleingelassenen alten Frau, die ständig von ihrem Sohn spricht, der vermeintlich in der Wohnung sein soll. Aber eigentlich ist so eine Wirklichkeit ja auch gruseliger als die meisten Geister.

Kashyaps Film ist der seltsamste und unangenehmste der vier Filme. Es geht um ein eine Ehefrau, die den frühen Kindstod des neugeborenen Babys nicht verkraftet hat und jetzt wieder schwanger ist. Gleichzeitig ist sie Tages- und Ersatzmutter für den besitzergreifenden Neffen, der bei dem alleinerziehenden Vater lebt. Kashyap mischt verschiedene Horror-Themen. Einmal gibt es den Schwangeren-Horror, die Angst um das Ungeborene, den fragilen Geisteszustand der werdenden Mutter, die in einem Zimmer voller Puppen Mama spielt. Dazu kommt Tierhorror, anhand von Raben auf dem Dach das alte Thema der Metamorphose. Und dann gibt es das Motiv der „bösen Saat“, also eines Kindes, das seinen bösen Willen durchsetzt, wie in DAS OMEN (1976) oder eben DIE BÖSE SAAT (1956). Hier ist es aber keine dämonische Besessenheit, sondern das Egoistische, das in jedem Kind mehr oder weniger ausgeprägt existiert. Es ist kein Schwarzweißfilm, sondern einfach farblos, während man noch ein paar Farbtöne hinter der grauen Fassade erahnen kann. Die Episode ist schmerzhaft und verstörend.

Bannerjee bedient sich beim heutzutage so beliebten Zombie-Horror, liefert aber eine ganz persönliche Variante, wobei er mehr mit George A. Romeros klassischem politisch-metaphorischen Splatter gemeinsam hat als mit den modernen Mode-Untoten und ihren amüsanten, aber streng genommen sinnfreien Parodien wie ZOMBIELAND (2009/2019). Bannerjees Beitrag beginnt zunächst als abstrakter, klaustrophobischer Horror, um dann ins intensiv Physische umzuschlagen. Es geht vom Eingeschlossensein, vom stillen Verbergen in einem Raum vor dem unbekannten Bösen vor der Tür zum direktesten Kontakt damit. Bei Bannerjee handelt es sich um eine Art umgekehrte Evolution, ein Zurück zum Fressen und Gefressenwerden, eine Rückentwicklung des Menschen in Steinzeit-Tiermonster. Und es bezeichnet ganz einfach unsere Gegenwart. Ebenso wie Kashyap hat er eklige Szenen eingebaut.

Die letzte Episode von Karan Johar würde man problemlos auch ohne Hinweis sofort erkennen. Da gibt es Production value, ein schönes Haus, schöne Einrichtung, schöne Menschen und ein schöne Hochzeit. Aber hinter den perfekten Fassaden verbergen sich ja oft die tiefsten oder zumindest seltsamsten und bizarrsten Abgründe. Johar widmet sich dem klassischen Gothic horror, auch wenn er auf die Inszenierung der Architektur verzichtet, denn dies ist ein heller, eher sonniger Geisterfilm, und der Geist, die Oma, spukt nicht als unheimliches Etwas durch die nächtlichen Gänge und es erklingt auch kein Lied dazu, nein, sie ist glückliches aktives Mitglied der Familie und wenn etwas entschieden wird, berät man sich mit ihr. Und wenn sie sogar in die Hochzeitsnacht hineinplatzt, dann wird man an die katastrophale Hochzeitsnacht in Johars Episode zu LUST STORIES erinnert. Johar spielt offensichtlich gerne mit dem indischen Hochzeitsnacht-Mythos. Und eins lernt man hier eindringlich: Man sollte nie Geister beschimpfen, an die man nicht glaubt. Sie könnten es hören.