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Samstag, 30. Mai 2020

MADRAS, KABALI, KAALA – Die Filme von Pa. Ranjith


Der tamilische Film KAALA über den Krieg zwischen Slumbewohnern und einem von der Staatsmacht unterstützten land- und machtgierigen Politiker war 2018 einer der besten Filme des weltweiten Kinojahres. Regisseur Pa. Ranjith ist innerhalb von sechs Jahren und mit seinen vier Filmen ATTIKATHI (2012), MADRAS (2014), KABALI (2016) und zuletzt eben KAALA (2018), zu einem der interessantesten Filmemacher Indiens geworden, der jetzt, folgerichtig möchte ich sagen, mit BIRSA MUNDA an seinem ersten Hindi-Film arbeitet, einem historischen Film über einen Stammes-Freiheitskämpfer vom Ende des 19. Jahrhunderts. Und auch wenn in Kritiken und Diskussionen oft die ungewöhnlich deutlichen politischen und sozialen Inhalte der Filme im Mittelpunkt stehen, ist es doch zunächst einmal die erzählerische und visuelle Sicherheit und Schönheit, die die Filme so bemerkenswert und wirkungsvoll machen. Denn Ranjith gehört zu den Mainstream-Regisseuren, die Stil haben. Viele Regisseure, nicht nur im indischen Populärkino, haben im Gegensatz dazu nur eine Menge Stilmittel, mit denen sie Effekte erzeugen.

Ranjith erzählt im Kern klassische, einfache Geschichten, die er mit seinen Themen füllt, und da ist er zunächst einmal ein politisch denkender Filmemacher, der die Dalit, die unteren Kasten, die Armen, die Arbeiter, das Proletariat in den Mittelpunkt stellt. Wenn er die Viertel der armen Leute, die Slums, filmt, betont er nie das Hässlich oder Heruntergekommene. Auf gewisse Weise macht er etwas, was der portugiesische Regisseur Pedro Costa in seinem an sich eigentlich so anderen Kino auch macht. Er filmt die Slums als etwas Heimisches, Normales, denn schließlich wohnen und leben da ganz normale Menschen, die dort ihren Alltag haben. Das ist das Gegenteil des sensationalistischen Miserabilismus von Danny Boyles SLUMDOG MILLIONÄR (2008), der den leicht angeekelten Mitleidsblick von oben reproduziert. Mit großer inszenatorischer Sicherheit, einem Sinn für Rhythmus und einem oft ruhigen, langsamen Tempo erzählt Ranjith seine Geschichten. Die Präzision des Visuellen steht in engem Zusammenhang mit der Präzision seiner Gedanken, denn er ist nicht nur Künstler, sondern auch ein theoretischer Mensch, der in Interviews locker über Bücher von Marx, Freud oder Mao plaudern kann. Nicht in der ideologischen Position, da ist er sehr deutlich, aber in der filmischen Form ist es ein dialektisches Kino, das Gegensätze harmonisch zusammenbringt: Nähe und Distanz, Identifikation und Überblick, Emotion und Verstehen. Es ist ein sowohl massentaugliches wie intelligentes, fast intellektuelles Kino, ohne jemals verkopft zu sein.

Nicht vergessen darf man, wie wirkungsvoll und ganz einfach schön die Musik in seinen Filmen ist, die sich vom sonst so oft rhythmischen Filmmusik-Pop abhebt. Und auch hier kann man eine gewisse Dialektik entdecken. Einerseits nutzt er gerne einen sehr melodischen, traditionellen, folkartigen, gefühlvollen Sound, gerade auch in den Liedern. Als Ranjith mit ATTIKATHI als Regisseur debütierte, begann auch die Filmkarriere des Musikers und Komponisten Santosh Naryanan, der für die Musik aller vier Filme verantwortlich ist. Auf der anderen Seite gibt es in MADRAS und KAALA junge Hip-Hop- und Street-Dance-Gruppen, die die Story wie ein griechischer Chor begleiten und deren Ausdrucksweise direkter und aggressiver ist.

MADRAS

Auf die romantische Komödie ATTAKATHI um einen jungen Mann, der heiraten will, folgte MADRAS, eine teilweise absurd grausame Geschichte um Politik und zwei verfeindete Gangs in einem armen Stadtviertel in Nord-Chennai. Ranjith liefert eine subtile Kritik vieler Strukturen und Prinzipien, zeigt machtgierige Politiker, die ihre Geldbeutel füllen und, was oft noch wichtiger ist, um jeden Preis ihr Ego aufplustern müssen. Im Zentrum von MADRAS steht eine große Häusermauer, ein Symbol für Macht. Auf ihr kann man seine eigene Größe und seinen Machtanspruch, in Form eines Porträts des Anführers oder eines großen Vorfahren, verewigen. Und man bekriegt sich für das Recht, die Mauer zu nutzen. Sie hat eine lange Geschichte und eine seltsam essentielle Bedeutung für alle. So füttert man die jungen Männer mit vermeintlich wichtigen Zielen. Ranjith inszeniert die Mauer wie ein riesiges Utensil aus einem Mystery-Film. Unheimliche Dinge geschehen in ihrer Nähe. Menschen sind ihretwegen und in ihrer Nähe gestorben. Sie scheint ein Eigenleben zu haben, das in einer großen Totalen aus der Vogelperspektive wie das Herz des Bösen mitten in dem Viertel zu schlagen scheint. Gleichzeitig ist MADRAS eine lebendige und herzliche Geschichte über eine Clique junger Männer, die sich auf dem Fußballplatz treffen, was im Laufe des Films für eine spannende Parallelmontage aus Sport und einer Prügelei Anlass gibt. Und besonders geht es um die Freundschaft zwischen zwei jungen Männern. Außerdem nimmt Ranjith den Faden seines Regiedebüts auf. Wie in ATTAKATHI will die Hauptfigur heiraten, hat auch eine potentielle Braut, glaubt aber, keine Chance zu haben, was eine authentische, süße, heitere Liebesgeschichte ohne romantische Klischees ergibt.

KABALI

Der vorwiegend in Malaysia spielende KABALI wurde Ranjiths erster Superstar-Film, mit dem er zeigte, dass er auch die Zutaten des Masala-Films mit seinen Action-Szenen und seinen überraschenden erzählerischen Wendungen, den berühmten „Twists“, beherrscht und gleichzeitig etwas Persönliches daraus machen konnte. Rajinikanth spielt Kabali, einen entlassenen Gangboss, der sich mit alten Gegnern herumschlagen muss. Vor allem will er den Mord an seiner Frau rächen. Es ist im Prinzip eine klassische Gangstergeschichte, wie man sie kennt. Da steht der altmodische Gangster, der einst durch seinen politischen Kampf in dieses Business hineingerutscht ist, gegen die modernen skrupellosen Kapitalismus-Gangster, die keine Ware und kein Verbrechen scheuen. Zwei konkrete Themen spielen eine zentrale Rolle. Das eine spricht die Gegenwart, die jungen Leute – nicht zuletzt die im Publikum – an. Der Gangster finanziert eine Schule für Tamilen. Es geht um Bildung, legale Jobs, weg von Gewalt und einer deprimierende Faszination mancher jungen Männer für Gangs und Waffen. Und es geht um die Vergangenheit, um ein Stück malaysische Tamilen-Geschichte. Die Karriere des Gangsters begann einst mit einem Lohnstreit: „Wir sind Angestellte, keine Sklaven.“

Wie in MADRAS nimmt das Emotionale, das Melodramatische großen Raum ein. Denn Kabali vermisst seine Frau. Die erste Hälfte enthält die fortdauernde Liebesgeschichte mit einer Toten und nimmt Anleihen beim geisterhaften Melodrama. Denn in Kabalis Kopf lebt die Gattin noch. Er sieht sie überall sitzen. Da gibt es am Anfang eine wunderschöne Sequenz, wie er in sein Haus kommt und die Vergangenheit noch lebendig ist, wie er überall die Frau sieht, mit ihm redend. Das wird dargestellt in einer einzigen langen, eleganten, flüssigen Bewegung. Die Schönheit und Eleganz dieser Bewegung spiegelt das Inneneben Kabalis wieder. Umso größer dann der Schock, als ihn die Wirklichkeit des leeren Esstisches, mit dem sich viel glückliche Vergangenheit verbindet, an seine reale Einsamkeit erinnert.

KAALA

KAALA ist erneut ein Film mit Rajinikanth, und Pa. Ranjith wird politisch noch deutlicher als sonst. Denn auch wenn es ein Superstar-Film mit spannend inszenierter Action und gewalttätigen Auseinandersetzungen ist, wird doch ebenso sehr die Gegenwart und Geschichte des Dharavi-Slums in Mumbai erzählt, des großen Kollektivs der Bewohner der unterschiedlichsten Kasten, Regionen und Religionen. KAALA beginnt gleich mit einer Massenszene als Demonstration gegen eine anstehende Räumung. Die genaue Beobachtung, der Blick von innen heraus macht die besondere Atmosphäre des Films aus. Eingeleitet wird der Film von einer theoretischen animierten Einleitung über den Zusammenhang von Land und Krieg. Denn das Besondere an Slums ist ja, dass sie mal irgendwann am Rande einer Stadt entstehen, die manchmal die Tendenz hat, sich auszudehnen und deren Grundstückspreise in der einstigen Peripherie in die Höhe schießen. Plötzlich liegen die Grundstücke der Armen in vom Kapital begehrten Gebieten.

Rajinikanth spielt Kaala, was Schwarz bedeutet, den inoffiziellen Bürgermeister, Führer des Slums. Seine Position stammt aus einer Zeit, als die einzige Waffe gegen Ungerechtigkeit das Rowdytum war. Aber inzwischen gibt es Dissens über solche Methoden, selbst in der eigenen Familie, denn einer seiner Söhne, mit dem passenden Namen Lenin, ist in einer Organisation für die Verbesserung des Slums tätig. KAALA lässt sich viel Zeit für die Familie, die Joint Family, deren Haus im Film als Zentrum der Macht des Slums erscheint. Es gibt liebevolle Streitigkeiten zwischen Kaala und seiner Ehefrau, was noch durch das Auftauchen einer NGO-Aktivistin und ehemaligen Verlobten Kaalas aus alten Zeiten mit etwas humorvoller Eifersucht und melancholischer Nostalgie gewürzt wird.

Der Bösewicht des Films ist ein Marathi-Nationalist, der die Eingewanderten nicht mag und arme Eingewanderte schon gar nicht. Seine Kampagne läuft unter dem Motto des sauberen und reinen Mumbais, und passend dazu ist er immer in Weiß gekleidet. Nana Patekar spielt diesen Mann mit ruhiger Selbstsicherheit, lässt aber die abgründige Seite durchschimmern. Aber eigentlich ist er gar kein richtiger Mensch. Seine wahre Existenz führt dieser Politiker auf den riesigen Wahlplakaten, die wie Big Brother ganz Mumbai, auch die Slums, überwachen. Weiß und Schwarz, Ram und Raavan, Ranjith kehrt hier ganz materialistisch klassische religiös-mythische Werte um. Weiß steht hier nicht für besondere Reinheit, Weiß ist hier einfach die Farbe eines Polit-Verbrechers aus den oberen Kasten, eine Maske, mit der er seine Untaten verschleiert. Kaala, verglichen mit Raavan, hingegen ist der proletarische, unterkastige Befreier der Entrechteten und Mittellosen von Unterdrückung. Schritt für Schritt und mit viel Action, besonders einem düster verregneten Regenschirmkampf auf einer Hochstraße, eskaliert die Auseinandersetzung bis zum großen visuellen Höhepunkt eines brennenden Slums, in dem die Polizei gegen die Bewohner kämpft. Aber das wirkliche Finale ist, in einem siegreichen kollektiven Anfall von revolutionärer, rebellischer Lebens- und Widerstandslust, die Verwandlung von Schwarz in alle anderen Farben. Da muss sogar die Physik kapitulieren.