Der
tamilische Film KAALA über den Krieg zwischen Slumbewohnern und
einem von der Staatsmacht unterstützten land- und machtgierigen
Politiker war 2018 einer der besten Filme des weltweiten Kinojahres.
Regisseur Pa. Ranjith ist innerhalb von sechs Jahren und mit seinen
vier Filmen ATTIKATHI (2012), MADRAS (2014), KABALI (2016) und
zuletzt eben KAALA (2018), zu einem der interessantesten Filmemacher
Indiens geworden, der jetzt, folgerichtig möchte ich sagen, mit
BIRSA MUNDA an seinem ersten Hindi-Film arbeitet, einem historischen
Film über einen Stammes-Freiheitskämpfer vom Ende des 19.
Jahrhunderts. Und auch wenn in Kritiken und Diskussionen oft die
ungewöhnlich deutlichen politischen und sozialen Inhalte der Filme
im Mittelpunkt stehen, ist es doch zunächst einmal die erzählerische
und visuelle Sicherheit und Schönheit, die die Filme so
bemerkenswert und wirkungsvoll machen. Denn Ranjith gehört zu
den Mainstream-Regisseuren, die Stil haben. Viele Regisseure, nicht
nur im indischen Populärkino, haben im Gegensatz dazu nur eine Menge
Stilmittel, mit denen sie Effekte erzeugen.
Ranjith erzählt im Kern
klassische, einfache Geschichten, die er mit seinen Themen füllt,
und da ist er zunächst einmal ein politisch denkender Filmemacher,
der die Dalit, die unteren Kasten, die Armen, die Arbeiter, das
Proletariat in den Mittelpunkt stellt. Wenn
er die Viertel der armen Leute, die Slums, filmt, betont er nie das
Hässlich oder Heruntergekommene. Auf gewisse Weise macht er etwas,
was der portugiesische Regisseur Pedro Costa in seinem an sich eigentlich so anderen Kino auch macht. Er filmt die Slums als
etwas Heimisches, Normales, denn schließlich wohnen und leben da
ganz normale Menschen, die dort ihren Alltag haben. Das ist das
Gegenteil des sensationalistischen Miserabilismus von Danny Boyles
SLUMDOG MILLIONÄR (2008), der den leicht angeekelten Mitleidsblick
von oben reproduziert. Mit großer inszenatorischer Sicherheit, einem
Sinn für Rhythmus und einem oft ruhigen, langsamen Tempo erzählt
Ranjith seine Geschichten. Die Präzision des Visuellen steht in
engem Zusammenhang mit der Präzision seiner Gedanken, denn er ist
nicht nur Künstler, sondern auch ein theoretischer Mensch, der in
Interviews locker über Bücher von Marx, Freud oder Mao plaudern
kann. Nicht in der ideologischen Position, da ist er sehr deutlich,
aber in der filmischen Form ist es ein dialektisches Kino, das
Gegensätze harmonisch zusammenbringt: Nähe und Distanz,
Identifikation und Überblick, Emotion und Verstehen. Es ist ein
sowohl massentaugliches wie intelligentes, fast intellektuelles Kino,
ohne jemals verkopft zu sein.
Nicht
vergessen darf man, wie wirkungsvoll und ganz einfach schön die
Musik in seinen Filmen ist, die sich vom sonst so oft rhythmischen
Filmmusik-Pop abhebt. Und auch hier kann man eine gewisse Dialektik
entdecken. Einerseits nutzt er gerne einen sehr melodischen,
traditionellen, folkartigen, gefühlvollen Sound, gerade auch in den
Liedern. Als Ranjith mit ATTIKATHI als Regisseur debütierte, begann
auch die Filmkarriere des Musikers und Komponisten Santosh Naryanan,
der für die Musik aller vier Filme verantwortlich ist. Auf der
anderen Seite gibt es in MADRAS und KAALA junge Hip-Hop- und
Street-Dance-Gruppen, die die Story wie ein griechischer Chor
begleiten und deren Ausdrucksweise direkter und aggressiver ist.
MADRAS
Auf
die romantische Komödie ATTAKATHI um einen jungen Mann, der heiraten
will, folgte MADRAS, eine teilweise absurd grausame Geschichte um
Politik und zwei verfeindete Gangs in einem armen Stadtviertel in
Nord-Chennai. Ranjith liefert eine subtile Kritik vieler Strukturen
und Prinzipien, zeigt machtgierige Politiker, die ihre Geldbeutel
füllen und, was oft noch wichtiger ist, um jeden Preis ihr Ego
aufplustern müssen. Im Zentrum von MADRAS steht eine große
Häusermauer, ein Symbol für Macht. Auf ihr kann man seine eigene
Größe und seinen Machtanspruch, in Form eines Porträts des
Anführers oder eines großen Vorfahren, verewigen. Und man bekriegt
sich für das Recht, die Mauer zu nutzen. Sie hat eine lange
Geschichte und eine seltsam essentielle Bedeutung für alle. So
füttert man die jungen Männer mit vermeintlich wichtigen Zielen.
Ranjith inszeniert die Mauer wie ein riesiges Utensil aus einem
Mystery-Film. Unheimliche Dinge geschehen in ihrer Nähe. Menschen
sind ihretwegen und in ihrer Nähe gestorben. Sie scheint ein
Eigenleben zu haben, das in einer großen Totalen aus der
Vogelperspektive wie das Herz des Bösen mitten in dem Viertel zu
schlagen scheint. Gleichzeitig ist MADRAS eine lebendige und
herzliche Geschichte über eine Clique junger Männer, die sich auf
dem Fußballplatz treffen, was im Laufe des Films für eine spannende
Parallelmontage aus Sport und einer Prügelei Anlass gibt. Und
besonders geht es um die Freundschaft zwischen zwei jungen Männern.
Außerdem nimmt Ranjith den Faden seines Regiedebüts auf. Wie in
ATTAKATHI will die Hauptfigur heiraten, hat auch eine potentielle
Braut, glaubt aber, keine Chance zu haben, was eine authentische,
süße, heitere Liebesgeschichte ohne romantische Klischees ergibt.
KABALI
Der
vorwiegend in Malaysia spielende KABALI wurde Ranjiths erster
Superstar-Film, mit dem er zeigte, dass er auch die Zutaten des
Masala-Films mit seinen Action-Szenen und seinen überraschenden
erzählerischen Wendungen, den berühmten „Twists“, beherrscht
und gleichzeitig etwas Persönliches daraus machen konnte.
Rajinikanth spielt Kabali, einen entlassenen Gangboss, der sich mit
alten Gegnern herumschlagen muss. Vor allem will er den Mord an
seiner Frau rächen. Es ist im Prinzip eine klassische
Gangstergeschichte, wie man sie kennt. Da steht der altmodische
Gangster, der einst durch seinen politischen Kampf in dieses Business hineingerutscht ist, gegen die
modernen skrupellosen Kapitalismus-Gangster, die keine Ware und kein
Verbrechen scheuen. Zwei konkrete Themen spielen eine
zentrale Rolle. Das eine spricht die Gegenwart, die jungen Leute –
nicht zuletzt die im Publikum – an. Der Gangster finanziert
eine Schule für Tamilen. Es geht um Bildung, legale Jobs, weg von
Gewalt und einer deprimierende Faszination mancher jungen Männer für
Gangs und Waffen. Und es geht um die Vergangenheit, um ein Stück
malaysische Tamilen-Geschichte. Die Karriere des Gangsters begann
einst mit einem Lohnstreit: „Wir sind Angestellte, keine Sklaven.“
Wie
in MADRAS nimmt das Emotionale, das Melodramatische großen Raum ein.
Denn Kabali vermisst seine Frau. Die erste Hälfte enthält die
fortdauernde Liebesgeschichte mit einer Toten und nimmt Anleihen beim
geisterhaften Melodrama. Denn in Kabalis Kopf lebt die Gattin noch.
Er sieht sie überall sitzen. Da gibt es am Anfang eine
wunderschöne Sequenz, wie er in sein Haus kommt und die
Vergangenheit noch lebendig ist, wie er überall die Frau sieht, mit
ihm redend. Das wird dargestellt in einer einzigen langen, eleganten,
flüssigen Bewegung. Die Schönheit
und Eleganz dieser Bewegung spiegelt das Inneneben Kabalis wieder. Umso
größer dann der Schock, als ihn die Wirklichkeit des leeren
Esstisches, mit dem sich viel glückliche Vergangenheit verbindet, an
seine reale Einsamkeit erinnert.
KAALA
KAALA
ist erneut ein Film mit Rajinikanth, und Pa. Ranjith wird politisch
noch deutlicher als sonst. Denn auch wenn es ein Superstar-Film mit
spannend inszenierter Action und gewalttätigen Auseinandersetzungen
ist, wird doch ebenso sehr die Gegenwart und Geschichte des
Dharavi-Slums in Mumbai erzählt, des großen Kollektivs der Bewohner
der unterschiedlichsten Kasten, Regionen und Religionen. KAALA
beginnt gleich mit einer Massenszene als Demonstration gegen eine
anstehende Räumung. Die genaue Beobachtung, der Blick von innen
heraus macht die besondere Atmosphäre des Films aus. Eingeleitet
wird der Film von einer theoretischen animierten Einleitung über den
Zusammenhang von Land und Krieg. Denn das Besondere an Slums ist ja,
dass sie mal irgendwann am Rande einer Stadt entstehen, die manchmal
die Tendenz hat, sich auszudehnen und deren Grundstückspreise in der
einstigen Peripherie in die Höhe schießen. Plötzlich liegen die
Grundstücke der Armen in vom Kapital begehrten Gebieten.
Rajinikanth
spielt Kaala, was Schwarz bedeutet, den inoffiziellen Bürgermeister,
Führer des Slums. Seine Position stammt aus einer Zeit, als die
einzige Waffe gegen Ungerechtigkeit das Rowdytum war. Aber inzwischen
gibt es Dissens über solche Methoden, selbst in der eigenen Familie,
denn einer seiner Söhne, mit dem passenden Namen Lenin, ist in einer
Organisation für die Verbesserung des Slums tätig. KAALA
lässt sich viel Zeit für die Familie, die Joint Family, deren Haus
im Film als Zentrum der Macht des Slums erscheint. Es gibt liebevolle
Streitigkeiten zwischen Kaala und seiner Ehefrau, was noch durch das
Auftauchen einer NGO-Aktivistin und ehemaligen Verlobten Kaalas aus alten Zeiten mit etwas humorvoller Eifersucht und melancholischer
Nostalgie gewürzt wird.
Der
Bösewicht des Films ist ein Marathi-Nationalist, der die
Eingewanderten nicht mag und arme Eingewanderte schon gar nicht.
Seine Kampagne läuft unter dem Motto des sauberen und reinen
Mumbais, und passend dazu ist er immer in Weiß gekleidet. Nana
Patekar spielt diesen Mann mit ruhiger Selbstsicherheit, lässt aber
die abgründige Seite durchschimmern. Aber eigentlich ist er gar kein
richtiger Mensch. Seine wahre Existenz führt dieser Politiker auf
den riesigen Wahlplakaten, die wie Big Brother ganz Mumbai, auch die
Slums, überwachen. Weiß und Schwarz, Ram und Raavan, Ranjith kehrt
hier ganz materialistisch klassische religiös-mythische Werte um.
Weiß steht hier nicht für besondere Reinheit, Weiß ist hier
einfach die Farbe eines Polit-Verbrechers aus den oberen Kasten, eine
Maske, mit der er seine Untaten verschleiert. Kaala, verglichen mit
Raavan, hingegen ist der proletarische, unterkastige Befreier der Entrechteten und Mittellosen von Unterdrückung. Schritt für Schritt und mit viel
Action, besonders einem düster verregneten Regenschirmkampf auf
einer Hochstraße, eskaliert die Auseinandersetzung bis zum großen
visuellen Höhepunkt eines brennenden Slums, in dem die Polizei gegen
die Bewohner kämpft. Aber das wirkliche Finale ist, in einem siegreichen kollektiven Anfall von revolutionärer, rebellischer Lebens- und Widerstandslust, die Verwandlung
von Schwarz in alle anderen Farben. Da muss sogar die Physik kapitulieren.