Das erste Bild von
Abhishek Chaubeys SONCHIRIYA (2019) stellt den Film gleich unter das
Zeichen des Todes. Unbeweglich bleibt die Nahaufnahme eines blutigen
verwesenden Reptilienkopfes, der so groß zu sehen ist, dass man sich
als Zuschauer erst einmal orientieren muss. Der offene Kadaver wird
umschwirrt von unzähligen hungrigen Fliegen. Dann sieht man eine
Gruppe von Männern in staubigen Uniformen durch die schluchtenreiche
Einöde marschieren und beim Anblick der toten Schlange, die quer
über dem Weg liegt, wie angewurzelt stehenbleiben. Das betrachten
sie geschlossen als schlechtes Omen, als Beleg dafür, dass sie
verflucht sind, und daher wollen sie einen Umweg gehen. Doch
um einen Fluch herum gibt es keinen Umweg, meint der Anführer als Einziger
fatalistisch, murmelt ein Gebet und zieht die kleine Kompanie aus
Banditen geradeaus weiter hinter sich her.
Als sie Rast machen,
konkretisiert der Fluch sich für zwei Banditen durch die furchteinflößende Erscheinung
eines kleinen, vorwurfsvoll guckenden Mädchens. Betroffen sind der
Anführer, gespielt von Manoj Bajpayee und ein jüngerer Bandit, der
sich illusionslos am liebsten dem Staat ergeben möchte, dargestellt
von Sushant Singh Rajput. Dieser Fluch ist also nicht einfach allgemein
metaphysisch zu verstehen, weil man den Weg des Banditentums geht,
sondern ist ganz und gar konkret. Die Männer haben irgendeine böse
Untat auf dem Gewissen,für die sie sich bis ins Mark
verantwortlich und schuldig fühlen. Und auch wenn der Film im Grunde
eine einzige actionreiche Jagd und Flucht mit vielen kleinen
Einzelepisoden ist, geht es in Wirklichkeit um Schuld und Verlorenheit, um die
Suche nach Erlösung und Vergebung, und schließlich um den
Opfertod. Es wird eingetaucht in die Abgründe der Seele und der
sozialen Umstände. Was also auch immer im Verlaufe der Handlung von
SONCHIRIYA passiert – und es passiert viel in diesem äußerst
spannenden Actionfilm – stehen gleichzeitig abstrakte Themen
im Mittelpunkt. Und das macht den Film auf gleichzeitig zwei Ebenen
so aufregend, abwechslungsreich, intensiv. Konkrete, oft gewalttätige
Handlung und abstrakte Ideen sind untrennbar verbunden, ineinander
verschlungen, das eine bedingt das andere, bringt es hervor, erklärt
es.
Es ist auch ein Film über
männliche Todessehnsucht. Hier lebt man nach dem Gesetz der Berge.
Das Chambal Valley bestimmt visuell den
Film. Die bergige Gegend aus Sand am Oberlauf des Chambal in Madhya
Pradesh erscheint als der perfekte Ort für diese tödlichen und
teilweise selbstmörderischen Kämpfe, aus denen es keinen Ausweg
gibt. Gekennzeichnet durch raue Hügelformationen und steile
Schluchten ist es, als spiegele sich hier das Innenleben der Figuren
wieder. Alles brennt unter der Sonne in einem nur leicht variierenden
gelb-braunen Farbton, auch die Uniform der Rebellen. Und so einförmig
ist auch das Denken der meisten Männer.
Wir erfahren nie, warum
Einzelne in den Bergen sind oder wofür sie
wirklich kämpfen. Für ihre Thakur-Kaste sagen sie, ohne dass man
wirklich sieht, was da genau gemeint ist. Ob es die ungerechte Welt
an sich ist oder eine konkret erlittene Ungerechtigkeit, die Ursachen erzählen indische Banditenfilme normalerweise immer mit, sei es
Nitin Boses GANGA JUMNA (1961) mit Dilip Kumar, sei es BANDIT QUEEN
(1994) von Shekhar Kapur. Jedenfalls kann man hier nicht sehen, dass
das Ganze irgendeinen Zweck hat, außer das eigene Überleben in den
Bergen zu sichern. Es erscheint sogar als Selbstzweck, der nach und
nach die Seele und den Verstand aushöhlt. Aber das Warum hat sowieso
kaum noch Bedeutung, das haben sie längst vergessen, denn vor allem
denken sie an den Dharma des Rebellen, seinen pflichtgemäßen Weg.
Und dazu gehört der Tod. Leben und Sterben in den Schluchten, das
ist das Ziel, das sichere Ende ist eingeplant. Und dennoch versuchen sie
noch, solange wie möglich zu überleben, den Kampf gegen die
Regierungsmacht zu überstehen. Eine Möglichkeit zur Erlösung
bietet die Rettung einer Frau vor ihrer Familie und eines 12-jährigen
Dalit-Mädchens, das unbedingt ins Krankenhaus muss. Aber dafür müssen sie
ihre Begriffe aufweichen, die von Kaste, Geschlecht, Tradition. Und
das fällt den meisten erst einmal schwer.
Und die Staatsmacht
erscheint sogar weitaus rücksichtsloser als die Outlaws. Aber
es ist auch an sich eine Zeit der
Gewalt. Es ist 1975, und gerade wird von Indira Gandhi der
Ausnahmezustand ausgerufen, wie man im Radio hört. Die erste lange
Actionszene des Films zeigt die Brutalität, mit der hier zu Werke
gegangen wird. Bei einem Überfall auf eine Hochzeitsgesellschaft
liegen die Polizisten im Hinterhalt. Und es sind die Polizisten,
denen die vielen Unbeteiligten egal sind und die in diese
hineinschießen. Chaubey hat sehr klar eine wilde Actionszene
inszeniert, die sich nie im Getöse der Waffen verliert. Selbst
Totalen aus der senkrechten Vogelperspektive sind nicht der übliche
Selbstzweck, sondern machen praktischen Sinn, denn sie geben einen Überblick über die labyrinthartige Verschachtelung der
Gassen und Hinterhöfe, in denen die Gegner aufeinander lauern.
Chaubey fühlt sich in den kleinen Straßenschluchten der Stadt
ebenso wohl wie in den großen, weiten der Landschaft.
SONCHIRIYA zeichnet im
Ganzen das aus, was schon Chaubeys Drogenfilm UDTA PUNJAB (2016) so
großartig machte, der ja ebenfalls die Schilderung einer permanenten
Grenzsituation, eines im Grunde wahnsinnigen Ausnahmezustandes war.
Chaubeys erste beiden Filme ISHQIYA (2010) und DEDH ISHQIYA (2014)
badeten noch ein bisschen in gewollter Skurrilität, Satire und
düsteren Augenblicken, was sie trotz aller Qualitäten manchmal
etwas unangenehm künstlich machte. In SONCHIRIYA bleibt Chaubey auf
Augenhöhe mit den Personen, erhebt sich nur so weit über sie, um
sie in Szene zu setzen. Aber er nimmt jeden ernst. Die Menschen, die
Handlung können in den Irrsinn abdriften, aus dem Gleichgewicht
kommen, aber nicht der Film. Chaubey filmt den Wahnsinn eben nicht
als Wahnsinn, sondern als normalen Zustand, wenn etwa ein Junge die
Mutter töten will, weil sie den brutalen vergewaltigenden
Schwiegervater, also seinen Großvater, völlig zu Recht getötet
hat. Das ist dann entsetzlich, und es ist keine Frage, auf
welcher Seite der Regisseur steht, aber Chaubey liefert trotz allem
das Verstehen und die Analyse immer gleich mit. Solche Pläne und
Handlungen fallen immer auch auf die Gesellschaft, die sie
hervorgebracht hat, zurück, von der kleinsten Einheit Familie bis
zur großen des Staates.