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Donnerstag, 21. Mai 2020

Abhishek Chaubeys SONCHIRIYA – Dharma des Rebellen


Das erste Bild von Abhishek Chaubeys SONCHIRIYA (2019) stellt den Film gleich unter das Zeichen des Todes. Unbeweglich bleibt die Nahaufnahme eines blutigen verwesenden Reptilienkopfes, der so groß zu sehen ist, dass man sich als Zuschauer erst einmal orientieren muss. Der offene Kadaver wird umschwirrt von unzähligen hungrigen Fliegen. Dann sieht man eine Gruppe von Männern in staubigen Uniformen durch die schluchtenreiche Einöde marschieren und beim Anblick der toten Schlange, die quer über dem Weg liegt, wie angewurzelt stehenbleiben. Das betrachten sie geschlossen als schlechtes Omen, als Beleg dafür, dass sie verflucht sind, und daher wollen sie einen Umweg gehen. Doch um einen Fluch herum gibt es keinen Umweg, meint der Anführer als Einziger fatalistisch, murmelt ein Gebet und zieht die kleine Kompanie aus Banditen geradeaus weiter hinter sich her.

Als sie Rast machen, konkretisiert der Fluch sich für zwei Banditen durch die furchteinflößende Erscheinung eines kleinen, vorwurfsvoll guckenden Mädchens. Betroffen sind der Anführer, gespielt von Manoj Bajpayee und ein jüngerer Bandit, der sich illusionslos am liebsten dem Staat ergeben möchte, dargestellt von Sushant Singh Rajput. Dieser Fluch ist also nicht einfach allgemein metaphysisch zu verstehen, weil man den Weg des Banditentums geht, sondern ist ganz und gar konkret. Die Männer haben irgendeine böse Untat auf dem Gewissen,für die sie sich bis ins Mark verantwortlich und schuldig fühlen. Und auch wenn der Film im Grunde eine einzige actionreiche Jagd und Flucht mit vielen kleinen Einzelepisoden ist, geht es in Wirklichkeit um Schuld und Verlorenheit, um die Suche nach Erlösung und Vergebung, und schließlich um den Opfertod. Es wird eingetaucht in die Abgründe der Seele und der sozialen Umstände. Was also auch immer im Verlaufe der Handlung von SONCHIRIYA passiert – und es passiert viel in diesem äußerst spannenden Actionfilm – stehen gleichzeitig abstrakte Themen im Mittelpunkt. Und das macht den Film auf gleichzeitig zwei Ebenen so aufregend, abwechslungsreich, intensiv. Konkrete, oft gewalttätige Handlung und abstrakte Ideen sind untrennbar verbunden, ineinander verschlungen, das eine bedingt das andere, bringt es hervor, erklärt es.

Es ist auch ein Film über männliche Todessehnsucht. Hier lebt man nach dem Gesetz der Berge. Das Chambal Valley bestimmt visuell den Film. Die bergige Gegend aus Sand am Oberlauf des Chambal in Madhya Pradesh erscheint als der perfekte Ort für diese tödlichen und teilweise selbstmörderischen Kämpfe, aus denen es keinen Ausweg gibt. Gekennzeichnet durch raue Hügelformationen und steile Schluchten ist es, als spiegele sich hier das Innenleben der Figuren wieder. Alles brennt unter der Sonne in einem nur leicht variierenden gelb-braunen Farbton, auch die Uniform der Rebellen. Und so einförmig ist auch das Denken der meisten Männer.

Wir erfahren nie, warum Einzelne in den Bergen sind oder wofür sie wirklich kämpfen. Für ihre Thakur-Kaste sagen sie, ohne dass man wirklich sieht, was da genau gemeint ist. Ob es die ungerechte Welt an sich ist oder eine konkret erlittene Ungerechtigkeit, die Ursachen erzählen indische Banditenfilme normalerweise immer mit, sei es Nitin Boses GANGA JUMNA (1961) mit Dilip Kumar, sei es BANDIT QUEEN (1994) von Shekhar Kapur. Jedenfalls kann man hier nicht sehen, dass das Ganze irgendeinen Zweck hat, außer das eigene Überleben in den Bergen zu sichern. Es erscheint sogar als Selbstzweck, der nach und nach die Seele und den Verstand aushöhlt. Aber das Warum hat sowieso kaum noch Bedeutung, das haben sie längst vergessen, denn vor allem denken sie an den Dharma des Rebellen, seinen pflichtgemäßen Weg. Und dazu gehört der Tod. Leben und Sterben in den Schluchten, das ist das Ziel, das sichere Ende ist eingeplant. Und dennoch versuchen sie noch, solange wie möglich zu überleben, den Kampf gegen die Regierungsmacht zu überstehen. Eine Möglichkeit zur Erlösung bietet die Rettung einer Frau vor ihrer Familie und eines 12-jährigen Dalit-Mädchens, das unbedingt ins Krankenhaus muss. Aber dafür müssen sie ihre Begriffe aufweichen, die von Kaste, Geschlecht, Tradition. Und das fällt den meisten erst einmal schwer.

Und die Staatsmacht erscheint sogar weitaus rücksichtsloser als die Outlaws. Aber es ist auch an sich eine Zeit der Gewalt. Es ist 1975, und gerade wird von Indira Gandhi der Ausnahmezustand ausgerufen, wie man im Radio hört. Die erste lange Actionszene des Films zeigt die Brutalität, mit der hier zu Werke gegangen wird. Bei einem Überfall auf eine Hochzeitsgesellschaft liegen die Polizisten im Hinterhalt. Und es sind die Polizisten, denen die vielen Unbeteiligten egal sind und die in diese hineinschießen. Chaubey hat sehr klar eine wilde Actionszene inszeniert, die sich nie im Getöse der Waffen verliert. Selbst Totalen aus der senkrechten Vogelperspektive sind nicht der übliche Selbstzweck, sondern machen praktischen Sinn, denn sie geben einen Überblick über die labyrinthartige Verschachtelung der Gassen und Hinterhöfe, in denen die Gegner aufeinander lauern. Chaubey fühlt sich in den kleinen Straßenschluchten der Stadt ebenso wohl wie in den großen, weiten der Landschaft.

SONCHIRIYA zeichnet im Ganzen das aus, was schon Chaubeys Drogenfilm UDTA PUNJAB (2016) so großartig machte, der ja ebenfalls die Schilderung einer permanenten Grenzsituation, eines im Grunde wahnsinnigen Ausnahmezustandes war. Chaubeys erste beiden Filme ISHQIYA (2010) und DEDH ISHQIYA (2014) badeten noch ein bisschen in gewollter Skurrilität, Satire und düsteren Augenblicken, was sie trotz aller Qualitäten manchmal etwas unangenehm künstlich machte. In SONCHIRIYA bleibt Chaubey auf Augenhöhe mit den Personen, erhebt sich nur so weit über sie, um sie in Szene zu setzen. Aber er nimmt jeden ernst. Die Menschen, die Handlung können in den Irrsinn abdriften, aus dem Gleichgewicht kommen, aber nicht der Film. Chaubey filmt den Wahnsinn eben nicht als Wahnsinn, sondern als normalen Zustand, wenn etwa ein Junge die Mutter töten will, weil sie den brutalen vergewaltigenden Schwiegervater, also seinen Großvater, völlig zu Recht getötet hat. Das ist dann entsetzlich, und es ist keine Frage, auf welcher Seite der Regisseur steht, aber Chaubey liefert trotz allem das Verstehen und die Analyse immer gleich mit. Solche Pläne und Handlungen fallen immer auch auf die Gesellschaft, die sie hervorgebracht hat, zurück, von der kleinsten Einheit Familie bis zur großen des Staates.