Anubhav Sinhas THAPPAD
(2020, dt.: Der Schlag) ist ein Film über die Ehe, die indische Ehe
vorwiegend, aber mit vielen allgemeingültigen Aspekten. Zunächst
werden mehrere Ehepaare und Beziehungen gezeigt. Im Mittelpunkt steht
dabei die nicht mehr ganz junge Ehe von Amrita und Vikram. Die an
Diabetes erkrankte Schwiegermutter ist mit im Haus. Und Vikram ist im
Beruf endlich auf dem Weg nach ganz oben, die beiden sind sogar fast
auf dem Weg nach London. Schafft man das, dann hat man es geschafft.
Nur New York gilt als noch besser. Sie hat sich ganz in den Dienst
seiner Karriere gestellt, was er für selbstverständlich nimmt. Aber
sie selbst auch, denn sie betrachtet ihre Hausfrauenrolle als ihre
eigene Entscheidung. Brav weckt sie ihn, bringt ihm Morgenkaffee ans
Bett, trägt ihm seine Sachen bis ans Auto – Tasche, Essen,
Portemonnaie. Es gehört zum Ritual. Die große Stärke des Films,
der einen ruhigen Rhythmus hat, ist die stille, unrhetorische
Beobachtung, die vieles freilegt, ohne es überdeutlich
auszusprechen.
Auf einer Party, bei
einer wütenden Auseinandersetzung zwischen Vikram und einem seiner
Vorgesetzten, versucht Amrita dazwischenzugehen und bekommt eine
Ohrfeige vom rasenden Gatten. Und alle in Amritas Umgebung meinen,
sie solle die Sache nicht so hoch hängen. Dass diese Reaktion keine
bösartige Fiktion von Anubhav Sinhas Seite ist, zeigt eine
erhellende Äußerung von Ahmed Khan, dem Regisseur des Films von
BAAGHI 3, der eine Woche nach THAPPAD im März 2020 Kinopremiere
hatte. Khan hatte in einem Anflug von Futterneid über das
vermeintlich öde Thema des Films gemault, dass die Frau einfach
zurückhauen solle und dann sei es gut. Aber abgesehen davon, dass
das die Institutionalisierung von gegenseitiger Gewalt in der Ehe
ist, ist der Schlag an sich gar nicht das, worauf sich THAPPAD
konzentriert. Entscheidend ist das, was die Ohrfeige auslöst, denn
die Ehefrau schaut plötzlich mit sie selbst erschreckender Klarheit
auf ihre Situation und sieht auch ihre eigenen falschen
Entscheidungen, die dieses schiefe Machtverhältnis, und um nichts
anderes geht es hier, in ihrer Ehe herbeigeführt hat.
Und direkt nach der
Ohrfeige wird der Film ganz still, denn Amrita ist geistig
woanders, steht zunächst unter Schock, spürt die totale Einsamkeit,
denn niemand ist auf ihrer Seite. Sie beginnt, auf Vikram wie auf
einen Fremden zu schauen, vor allem, wenn er wieder einmal nur von
sich redet. Er kreist ständig um sich selbst, etwa um seine festen
Lebensziele, aber sie kreist nicht mehr mit und entfernt sich immer
mehr von ihm. Und er selbst hat sie aus seiner Umlaufbahn herauskatapultiert. Er wird ihr fremd, die Liebe verschwindet. Und diese
Entwicklung führt zu einigen der stärksten Momente des Films.
Überhaupt ist der Film am besten,
wenn er still und ohne viele Worte das Innenleben der Figuren fühlbar, verstehbar macht. Und da ist die Zusammenarbeit von Hauptdarstellerin
Taapsee Pannu und Regisseur Sinha ganz wunderbar. Ihre Verstörung
wird für den Zuschauer deutlich sichtbar gemacht. So
seltsam ironisch es ist, aber der Schlag hat sie aus einem
unnatürlichen Verhalten der Selbstentmündigung und Selbstauslöschung befreit. Die Frage,
ob sie ihm verzeihen kann oder nicht, wird dadurch völlig
bedeutungslos.
Solch eine Art von Film
war angesichts der PR-Kampagne nicht zu erwarten. Werbung kann ja
auch das Gegenteil bewirken. Die für THAPPAD (2020) ließ Schlimmes
vermuten. Die Kerninfo wurde etwa so geliefert: „Eine Ehefrau
bekommt auf einer Party von ihrem Mann eine Ohrfeige und will sich
danach scheiden lassen.“ Und dann eine rhetorische Frage nach dem
Muster „Ist das Grund genug?“. Das Ganze hörte sich also
zunächst mal nicht nach einem Film, sondern nach einer
ermüdenden, gesellschaftlich progressiven, sozial wertvollen
Diskussionsveranstaltung voller gestellter und gestelzter
Leinwandrhetorik an. Botschaftskino eben. Und natürlich gibt es diese rhetorischen Teile,
aber sie beherrschen nicht den Film. Zielpublikum ist insbesondere die
selbstsichere Mittel- und Oberschicht. Etwas unbeabsichtigt, hoffe
ich zumindest, erweckt der Film gleichzeitig den Eindruck, dass in
den unteren Schichten sowieso alle Frauen geschlagen werden. Und
Sinha hat in den Diskussionen genug subversive Inhalte untergebracht.
Einmal fällt der Satz, dass, wenn eine einzige Ohrfeige schon zur
Scheidung führe, müsste mehr als die Hälfte aller indischen
Ehefrauen gehen. Da wird sogar eine Art Statistik geliefert.
Die Rhetorik entwickelt
sich durch die vielen anderen Figuren des Films, hauptsächlich
Familienangehörige, also Eltern, Schwiegereltern. Sie reden
untereinander oder mit den beiden Betroffenen. Die Argumente an sich
sind vorhersehbar, aber interessant ist es, wer sie wie vorbringt. Selbst die aktive, aber
auch desillusionierte Frauenrechtsanwältin rät Amrita, es gut sein
zu lassen. Die Eltern sowieso. Aber es ist nicht nur Angst um die
Fassade, der Wunsch nach Aufrechterhaltung einer gewohnten Ordnung.
Es gibt einen besonderen Grund, warum fast alle ihr aktiv einreden
wollen, eine Ehe fortzusetzen, die sie mit der ganzen Faser ihres
Wesens nicht mehr fortführen will. Es ist die Angst vor Ansteckung.
Ihr Verhalten hat eine Verstörung ausgelöst. Bei den Frauen kommen
Zweifel am eigenen Lebensentwurf auf. Die Männer sehen ihre Position
gefährdet. Und das merkt man den Figuren an. Der Film nimmt sich
die Zeit dafür. Die Kritik am Tempo von THAPPAD ist daher eine
idiotische Kritik am Wesen der besten Teile des Films. Denn dann
bekommt er mitunter eine uneindeutige, fast unheimliche Atmosphäre,
erzeugt durch das unangenehme Gefühl der Figuren, aus dem Alltag,
und nicht zuletzt seinen vielen Illusionen, herausgeschoben worden zu
sein, einen Riss in der Fassade zu sehen, der sich nicht schließen
lassen will und auf den man aber unablässig und wie hypnotisiert
starrt.
Gegen Ende mündet alles
in eine juristische Auseinandersetzung, bei der noch ein bisschen
spannendes Empörungspotential aktiviert wird, aber wo an sich dem
Ganzen nicht viel hinzufügt wird. Amrita hat noch ein paar Monologe,
wo die Figur ihr Denken zusammenfasst. Und am Schluss sind alle etwas
klüger geworden. Das bedeutet aber auch, dass es sogar noch eine
zweite Scheidung gibt. Ein indischer populärer Film, der so sehr die
Ehescheidung fast propagiert, braucht als Ausgleich wohl auch ein
kleines bisschen positiven Bollywood-Zuckerguss. Deshalb dürfen die
unheilbaren Optimisten unter den Zuschauern dem frisch geschiedenen
Paar noch eine zweite Chance wünschen. Denn Vikram will jetzt jemand
werden, der Amritas würdig ist. Was auch immer diese Worthülse
enthält. Wenn denn überhaupt was drin ist.