Dieses Blog durchsuchen

Samstag, 23. Mai 2020

Anubhav Sinhas THAPPAD – Plötzlich fremd


Anubhav Sinhas THAPPAD (2020, dt.: Der Schlag) ist ein Film über die Ehe, die indische Ehe vorwiegend, aber mit vielen allgemeingültigen Aspekten. Zunächst werden mehrere Ehepaare und Beziehungen gezeigt. Im Mittelpunkt steht dabei die nicht mehr ganz junge Ehe von Amrita und Vikram. Die an Diabetes erkrankte Schwiegermutter ist mit im Haus. Und Vikram ist im Beruf endlich auf dem Weg nach ganz oben, die beiden sind sogar fast auf dem Weg nach London. Schafft man das, dann hat man es geschafft. Nur New York gilt als noch besser. Sie hat sich ganz in den Dienst seiner Karriere gestellt, was er für selbstverständlich nimmt. Aber sie selbst auch, denn sie betrachtet ihre Hausfrauenrolle als ihre eigene Entscheidung. Brav weckt sie ihn, bringt ihm Morgenkaffee ans Bett, trägt ihm seine Sachen bis ans Auto – Tasche, Essen, Portemonnaie. Es gehört zum Ritual. Die große Stärke des Films, der einen ruhigen Rhythmus hat, ist die stille, unrhetorische Beobachtung, die vieles freilegt, ohne es überdeutlich auszusprechen.

Auf einer Party, bei einer wütenden Auseinandersetzung zwischen Vikram und einem seiner Vorgesetzten, versucht Amrita dazwischenzugehen und bekommt eine Ohrfeige vom rasenden Gatten. Und alle in Amritas Umgebung meinen, sie solle die Sache nicht so hoch hängen. Dass diese Reaktion keine bösartige Fiktion von Anubhav Sinhas Seite ist, zeigt eine erhellende Äußerung von Ahmed Khan, dem Regisseur des Films von BAAGHI 3, der eine Woche nach THAPPAD im März 2020 Kinopremiere hatte. Khan hatte in einem Anflug von Futterneid über das vermeintlich öde Thema des Films gemault, dass die Frau einfach zurückhauen solle und dann sei es gut. Aber abgesehen davon, dass das die Institutionalisierung von gegenseitiger Gewalt in der Ehe ist, ist der Schlag an sich gar nicht das, worauf sich THAPPAD konzentriert. Entscheidend ist das, was die Ohrfeige auslöst, denn die Ehefrau schaut plötzlich mit sie selbst erschreckender Klarheit auf ihre Situation und sieht auch ihre eigenen falschen Entscheidungen, die dieses schiefe Machtverhältnis, und um nichts anderes geht es hier, in ihrer Ehe herbeigeführt hat.

Und direkt nach der Ohrfeige wird der Film ganz still, denn Amrita ist geistig woanders, steht zunächst unter Schock, spürt die totale Einsamkeit, denn niemand ist auf ihrer Seite. Sie beginnt, auf Vikram wie auf einen Fremden zu schauen, vor allem, wenn er wieder einmal nur von sich redet. Er kreist ständig um sich selbst, etwa um seine festen Lebensziele, aber sie kreist nicht mehr mit und entfernt sich immer mehr von ihm. Und er selbst hat sie aus seiner Umlaufbahn herauskatapultiert. Er wird ihr fremd, die Liebe verschwindet. Und diese Entwicklung führt zu einigen der stärksten Momente des Films. Überhaupt ist der Film am besten, wenn er still und ohne viele Worte das Innenleben der Figuren fühlbar, verstehbar macht. Und da ist die Zusammenarbeit von Hauptdarstellerin Taapsee Pannu und Regisseur Sinha ganz wunderbar. Ihre Verstörung wird für den Zuschauer deutlich sichtbar gemacht. So seltsam ironisch es ist, aber der Schlag hat sie aus einem unnatürlichen Verhalten der Selbstentmündigung und Selbstauslöschung befreit. Die Frage, ob sie ihm verzeihen kann oder nicht, wird dadurch völlig bedeutungslos.

Solch eine Art von Film war angesichts der PR-Kampagne nicht zu erwarten. Werbung kann ja auch das Gegenteil bewirken. Die für THAPPAD (2020) ließ Schlimmes vermuten. Die Kerninfo wurde etwa so geliefert: „Eine Ehefrau bekommt auf einer Party von ihrem Mann eine Ohrfeige und will sich danach scheiden lassen.“ Und dann eine rhetorische Frage nach dem Muster „Ist das Grund genug?“. Das Ganze hörte sich also zunächst mal nicht nach einem Film, sondern nach einer ermüdenden, gesellschaftlich progressiven, sozial wertvollen Diskussionsveranstaltung voller gestellter und gestelzter Leinwandrhetorik an. Botschaftskino eben. Und natürlich gibt es diese rhetorischen Teile, aber sie beherrschen nicht den Film. Zielpublikum ist insbesondere die selbstsichere Mittel- und Oberschicht. Etwas unbeabsichtigt, hoffe ich zumindest, erweckt der Film gleichzeitig den Eindruck, dass in den unteren Schichten sowieso alle Frauen geschlagen werden. Und Sinha hat in den Diskussionen genug subversive Inhalte untergebracht. Einmal fällt der Satz, dass, wenn eine einzige Ohrfeige schon zur Scheidung führe, müsste mehr als die Hälfte aller indischen Ehefrauen gehen. Da wird sogar eine Art Statistik geliefert.

Die Rhetorik entwickelt sich durch die vielen anderen Figuren des Films, hauptsächlich Familienangehörige, also Eltern, Schwiegereltern. Sie reden untereinander oder mit den beiden Betroffenen. Die Argumente an sich sind vorhersehbar, aber interessant ist es, wer sie wie vorbringt. Selbst die aktive, aber auch desillusionierte Frauenrechtsanwältin rät Amrita, es gut sein zu lassen. Die Eltern sowieso. Aber es ist nicht nur Angst um die Fassade, der Wunsch nach Aufrechterhaltung einer gewohnten Ordnung. Es gibt einen besonderen Grund, warum fast alle ihr aktiv einreden wollen, eine Ehe fortzusetzen, die sie mit der ganzen Faser ihres Wesens nicht mehr fortführen will. Es ist die Angst vor Ansteckung. Ihr Verhalten hat eine Verstörung ausgelöst. Bei den Frauen kommen Zweifel am eigenen Lebensentwurf auf. Die Männer sehen ihre Position gefährdet. Und das merkt man den Figuren an. Der Film nimmt sich die Zeit dafür. Die Kritik am Tempo von THAPPAD ist daher eine idiotische Kritik am Wesen der besten Teile des Films. Denn dann bekommt er mitunter eine uneindeutige, fast unheimliche Atmosphäre, erzeugt durch das unangenehme Gefühl der Figuren, aus dem Alltag, und nicht zuletzt seinen vielen Illusionen, herausgeschoben worden zu sein, einen Riss in der Fassade zu sehen, der sich nicht schließen lassen will und auf den man aber unablässig und wie hypnotisiert starrt.

Gegen Ende mündet alles in eine juristische Auseinandersetzung, bei der noch ein bisschen spannendes Empörungspotential aktiviert wird, aber wo an sich dem Ganzen nicht viel hinzufügt wird. Amrita hat noch ein paar Monologe, wo die Figur ihr Denken zusammenfasst. Und am Schluss sind alle etwas klüger geworden. Das bedeutet aber auch, dass es sogar noch eine zweite Scheidung gibt. Ein indischer populärer Film, der so sehr die Ehescheidung fast propagiert, braucht als Ausgleich wohl auch ein kleines bisschen positiven Bollywood-Zuckerguss. Deshalb dürfen die unheilbaren Optimisten unter den Zuschauern dem frisch geschiedenen Paar noch eine zweite Chance wünschen. Denn Vikram will jetzt jemand werden, der Amritas würdig ist. Was auch immer diese Worthülse enthält. Wenn denn überhaupt was drin ist.