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Dienstag, 26. Mai 2020

Mithun Chakraborty in DISCO DANCER – Indian Night Fever Guitar Phobia



B. Subhashs Hindi-Film DISCO DANCER (1982), mit Mithun Chakraborty in der Hauptrolle und mit der Musik von Bappi Lahiri, ist große, trashige, knallbunte, wahnsinnige Poesie. Ein Musik-Tanz-Film über einen armen Straßensänger, der reich und berühmt wird und sich für die von ihm und der Mutter während seiner Kindheit erlittenen Demütigungen rächt. Hier gibt es zu einem unnachahmlichen indischen Disco-Sound kühne Tanzschritte und Tanzbewegungen. Man wird geblendet von flirrenden Kostüme, die teilweise aussehen, als hätten sich Aerobic-Tänzer nach einer Neujahrsfeier die Dekoration aus goldenem, silbernem, buntem Silvesterflitter und Geschenkpapier umgehängt und angeklebt. Aber es gibt auch Kostüme mit tiefem Symbolismus, wenn zu dem Krishna-Lied "Krishna Dharti Pe Aaja" ganz in Schwarz gekleidete rabenartige Gestalten direkt über die Bühne zu fliegen scheinen und den schwarzweiß gekleideten Chakraborty bedrohlich umkreisen. Wie konnten indische Kritiker solch einen Film jemals zum schlechtesten Film der 80er wählen, wo doch Musik, Tanz, Kostüme, Dekor und Licht ein berauschendes ungläubiges Staunen hervorrufen, als hätte man psychedelische Visionen? Wozu braucht es ein Drehbuch oder die Beachtung dramaturgischer und ästhetischer bourgeoiser Normen, wenn man absolut dazu imstande ist, sich in seiner ureigenen Welt seine ganz eigenen Regeln zu basteln. Das ist bewundernswert und nachahmenswert. Das moderne Mittelklasse-Bollywood, das heutzutage wie der Rest der Welt mit geschmackvollen Scripts aus dem Drehbuchlabor arbeitet, könnte etwas mehr socher Kühnheit gebrauchen. Und wenn mich jetzt jemand fragen wollte, ob ich das alles ernst meine, dann gäbe ich als Antwort, dass ich es so ernst meine, wie der Regisseur den Film ernst gemeint hat.

Und man hatte ja nicht viel Geld. Das ist kein Film von einem großen Produktionshaus. Rein visuell hat das alles etwas von Do-it-yourself-Avantgarde, von Glamour-Punk. Da gibt es keine kontrollierte Lightshow. Es flimmert, glimmert, glitzert bunt, bunt, einfach bunt. Die Discokugeln drehen sich, das Licht spiegelt sich. Man hat aufgefahren, was möglich war. Mithun als Jimmy, als Disco-Elvis in einem weißen Anzug, schleudert der Kamera so oft das Becken entgegen, das das Objektiv errötet und vermutlich selbst für einige der visuellen Effekt verantwortlich ist. Und wie Jimmy die Menschen animieren kann! Beim Abschluss seines Durchbruchauftritts mit "Ae Oh Aa Zara Mudke" ist er in der Mitte eines kleinen Kreises aus Tänzern. Wie sie sich mit ihm auf dem Boden bewegen, auf den Popo klatschen und plötzlich an die Ohrläppchen fassen und in die Knie gehen, da wartet man einen klitzekleinen Moment atemlos darauf, dass alles jetzt in den leider etwas in Vergessenheit geratenen Ententanz überschwappt. Aber dann war es doch nur ein Zitat, ein intellektueller Verweis auf diesen Modetanz von 1981. Oder diese ganz und gar abstrakte Szene, in der Jimmy krankenhausreif geschlagen werden soll und eine Bande von Gangstern ihm nachts in der Einsamkeit auflauert. Da gehen sie um ihn rum und schnipsen mit den Fingern, ohne zu tanzen oder zu singen. Und Jimmy schnipst auch mit den Fingern. Alle schnipsen einfach, während die Auseinandersetzung ganz normal weiterläuft. Das fühlt man sich plötzlich in einer Bühnenversion der „West Side Story“, bearbeitet von Samuel Beckett. Oder Helge Schneider.

Die Musik hat diesen perfekten Fußwipp-Sound, der einen selbst zu Hause im Stuhl nicht still sitzen lässt. Ein Sound und eine Musik, die nie vorhersehbar werden. Komponist Bappi Lahiri wurde verdientermaßen mit diesem und einigen anderen Filmen zum Disco-König, was er auch in seinem glitzernden Äußeren zum Ausdruck bringt. Er erfand eigenes und bediente sich bei anderen, wo er nur konnte, ob bewusst oder unbewusst, das wusste er sicher selbst nicht mehr hinterher. Auf jeden Fall verlieh er dieser westlichen Tanzmusik einen unverkennbar indischen Sound. Die Mischung macht es, deren Rhythmus, Energie und Instrumentierung den Irrsinn des Films adäquat potenzieren. Aber nicht nur die Playback-Songs. Wenn etwa bei einer Veranstaltung Autos vorfahren und „You're The One That I Want“ aus GREASE (1978) ertönt, und zwar in einer flotten instrumentalen Orgelversion, als wäre man in einem unterirdischen Eishockeystadion, dann hat das eine traumhaft surreale Wirkung. Oder das nicht enden wollende Finale mit drei Liedern, wo der an einer gefährlichen Gitarrenphobie leidende Jimmy durch einen Feind von einer Gitarre bedroht wird und psychisch völlig verstört nicht auftreten kann, wo seine Freundin ihn durch „Jimmy Jimmy Aaja“ animiert, wo Gaststar Rajesh Khanna nach Jimmys "Yaad Aa Raha Hai" den Opfertod sterben darf. Nicht zu vergessen vorher der internationale Disco-Wettbewerb mit afrikanischen und französischen Wettbewerbsteilnehmern, die ganz landestypische Verrenkungen aus der heimischen Psychiatrie vorführen. DISCO DANCER mit seinem unsterblichen Titelsong "I Am A Disco Dancer" ist ganz einfach der wahre und einzige echte Film über Disco, ein Werk, das dem Phänomen geistig wirklich gerecht wird.

Niemand, nicht einmal die Macher haben geahnt, dass sie mit DISCO DANCER (1982) das große ikonische Werk des Hindi-Films der 80er schaffen würden, über dessen Wert die Meinungen auseinander gehen. Für die Verächter steht er symbolisch für ein Jahrzehnt, dass nach allgemeiner Meinung sowieso als ein qualitativer Tiefpunkt in der Hindi-Filmgeschichte gilt. In einem netten kleinen Buch über DISCO DANCER von Anuvab Pal, erschienen 2011 bei Harper Collins, gibt es am Schluss einige aussagekräftige Zitate, die die gegensätzlichen Lager am besten widerspiegeln. Ein Geschäftsmann aus Singapur sagt beispielsweise: „Das ist das Schlimmste, was ich je gesehen habe. Und ich war im Holocaust-Museum.“ Auf der anderen Seite stehen die unzähligen Fans eines weltweit immens erfolgreichen Films. Ein Comic-Zeichner aus London sagt: „Das großartigste Tanzen, was ich je gesehen habe. Das Großartigste, was ich je gesehen habe. Und ich reise viel.“ DISCO DANCER repräsentierte für eine ganze Generation im Ausland, besonders in Asien und der UdSSR, das Hindi-Kino, das heraufziehende Bollywood. In der UdSSR hatte man ja nach Stalins Tod internationale Unterhaltungsware ins Land gelassen. Der erste große, beliebte indische Star wurde Raj Kapoor. Und dann kam DISCO DANCER mit Mithun Chakraborty. Der Film war irgendwie in ein Moskauer Filmfestival gerutscht und in dessen Verlauf so beliebt und erfolgreich beim Publikum, dass er am Ende in einem 10.000-Plätze-Kino gezeigt wurde. Der Rest ist Geschichte. Die Geschichte eines Films, den man lieben muss. Oder zumindest bewundern!  Und sei es auch nur wegen des großen Verdienstes, die Symptome der gefährlichen Musikerkrankheit Gitarrenphobie so präzise dargestellt zu haben.