B.
Subhashs Hindi-Film DISCO DANCER (1982), mit Mithun Chakraborty in
der Hauptrolle und mit der Musik von Bappi Lahiri, ist große,
trashige, knallbunte,
wahnsinnige Poesie.
Ein Musik-Tanz-Film über einen armen Straßensänger, der
reich und berühmt wird und sich für die von ihm und der Mutter während seiner Kindheit erlittenen
Demütigungen rächt. Hier
gibt es zu einem unnachahmlichen indischen Disco-Sound kühne Tanzschritte
und Tanzbewegungen. Man wird geblendet von flirrenden Kostüme, die
teilweise aussehen, als hätten sich Aerobic-Tänzer nach einer Neujahrsfeier die Dekoration aus goldenem, silbernem, buntem
Silvesterflitter und Geschenkpapier umgehängt und angeklebt. Aber es
gibt auch Kostüme mit tiefem Symbolismus, wenn zu dem Krishna-Lied "Krishna
Dharti Pe Aaja" ganz in Schwarz gekleidete rabenartige
Gestalten direkt über die Bühne zu fliegen scheinen und den schwarzweiß
gekleideten Chakraborty bedrohlich umkreisen. Wie konnten indische Kritiker solch einen Film jemals zum
schlechtesten Film der 80er wählen, wo doch Musik, Tanz, Kostüme,
Dekor und Licht ein berauschendes ungläubiges Staunen hervorrufen,
als hätte man psychedelische Visionen? Wozu braucht es ein Drehbuch oder
die Beachtung dramaturgischer und ästhetischer bourgeoiser Normen, wenn man
absolut dazu imstande ist, sich in seiner ureigenen Welt seine ganz
eigenen Regeln zu basteln. Das ist bewundernswert und nachahmenswert.
Das moderne Mittelklasse-Bollywood, das heutzutage wie der Rest der Welt mit geschmackvollen Scripts aus dem Drehbuchlabor arbeitet, könnte etwas mehr socher Kühnheit gebrauchen.
Und wenn mich jetzt jemand fragen wollte, ob ich das alles ernst meine,
dann gäbe ich als Antwort, dass ich es so ernst meine, wie der Regisseur den
Film ernst gemeint hat.
Und
man hatte ja nicht viel Geld. Das ist kein Film von einem großen
Produktionshaus. Rein visuell hat das alles etwas von
Do-it-yourself-Avantgarde, von Glamour-Punk. Da gibt es keine
kontrollierte Lightshow. Es flimmert, glimmert, glitzert bunt, bunt,
einfach bunt. Die Discokugeln drehen sich, das Licht spiegelt sich.
Man hat aufgefahren, was möglich war. Mithun als Jimmy, als
Disco-Elvis in einem weißen Anzug, schleudert der Kamera so oft das
Becken entgegen, das das Objektiv errötet und vermutlich selbst für
einige der visuellen Effekt verantwortlich ist. Und wie Jimmy die
Menschen animieren kann! Beim Abschluss seines Durchbruchauftritts
mit "Ae Oh Aa Zara Mudke" ist
er in der Mitte eines kleinen Kreises aus Tänzern. Wie sie sich mit
ihm auf dem Boden bewegen, auf den Popo klatschen und plötzlich an
die Ohrläppchen fassen und in die Knie gehen, da wartet man einen
klitzekleinen Moment atemlos darauf, dass alles jetzt in den
leider etwas in Vergessenheit geratenen Ententanz überschwappt. Aber
dann war es doch nur ein Zitat, ein intellektueller Verweis auf
diesen Modetanz von 1981. Oder diese ganz und gar abstrakte Szene, in der Jimmy
krankenhausreif geschlagen werden soll und eine Bande von Gangstern
ihm nachts in der Einsamkeit auflauert. Da gehen sie um ihn rum und
schnipsen mit den Fingern, ohne zu tanzen oder zu singen.
Und Jimmy schnipst auch mit den Fingern. Alle schnipsen einfach,
während die Auseinandersetzung ganz normal weiterläuft. Das fühlt man sich
plötzlich in einer Bühnenversion der „West Side Story“,
bearbeitet von Samuel Beckett. Oder Helge Schneider.
Die
Musik hat diesen perfekten Fußwipp-Sound, der einen selbst zu Hause
im Stuhl nicht still sitzen lässt. Ein Sound und eine Musik, die nie
vorhersehbar werden. Komponist Bappi Lahiri wurde verdientermaßen
mit diesem und einigen anderen Filmen zum Disco-König, was er auch
in seinem glitzernden Äußeren zum Ausdruck bringt. Er erfand
eigenes und bediente sich bei anderen, wo er nur konnte, ob bewusst oder
unbewusst, das wusste er sicher selbst nicht mehr hinterher. Auf
jeden Fall verlieh er dieser westlichen Tanzmusik einen unverkennbar
indischen Sound. Die Mischung macht es, deren Rhythmus, Energie und
Instrumentierung den Irrsinn des Films adäquat potenzieren. Aber
nicht nur die Playback-Songs. Wenn etwa bei einer Veranstaltung Autos
vorfahren und „You're The One That I Want“ aus GREASE (1978) ertönt,
und zwar in einer flotten instrumentalen Orgelversion, als wäre man
in einem unterirdischen Eishockeystadion, dann hat das eine traumhaft
surreale Wirkung. Oder das nicht enden wollende Finale mit drei
Liedern, wo der an einer gefährlichen Gitarrenphobie leidende Jimmy
durch einen Feind von einer Gitarre bedroht wird und psychisch völlig
verstört nicht auftreten kann, wo seine Freundin ihn durch „Jimmy
Jimmy Aaja“ animiert, wo Gaststar Rajesh Khanna nach Jimmys "Yaad
Aa Raha Hai" den
Opfertod sterben darf. Nicht zu vergessen vorher der internationale
Disco-Wettbewerb mit afrikanischen und französischen
Wettbewerbsteilnehmern, die ganz landestypische Verrenkungen aus der
heimischen Psychiatrie vorführen. DISCO DANCER mit seinem unsterblichen Titelsong "I Am A Disco Dancer" ist ganz einfach der wahre und einzige echte Film über Disco, ein Werk, das dem Phänomen geistig wirklich gerecht wird.
Niemand, nicht einmal die
Macher haben geahnt, dass sie mit DISCO DANCER (1982) das große
ikonische Werk des Hindi-Films der 80er schaffen würden, über
dessen Wert die Meinungen auseinander gehen. Für die Verächter
steht er symbolisch für ein Jahrzehnt, dass nach allgemeiner Meinung
sowieso als ein qualitativer Tiefpunkt in der
Hindi-Filmgeschichte gilt. In einem netten kleinen Buch über DISCO DANCER
von Anuvab Pal, erschienen 2011 bei Harper Collins, gibt es am Schluss
einige aussagekräftige Zitate, die die gegensätzlichen Lager am
besten widerspiegeln. Ein Geschäftsmann aus Singapur sagt beispielsweise: „Das
ist das Schlimmste, was ich je gesehen habe. Und ich war im
Holocaust-Museum.“ Auf der anderen Seite stehen die unzähligen
Fans eines weltweit immens erfolgreichen Films. Ein Comic-Zeichner
aus London sagt: „Das großartigste Tanzen, was ich je gesehen
habe. Das Großartigste, was ich je gesehen habe. Und ich reise
viel.“ DISCO DANCER repräsentierte für eine ganze Generation im
Ausland, besonders in Asien und der UdSSR, das Hindi-Kino, das heraufziehende Bollywood. In der UdSSR hatte man ja nach Stalins Tod
internationale Unterhaltungsware ins Land gelassen. Der erste große, beliebte
indische Star wurde Raj Kapoor. Und dann kam DISCO DANCER mit Mithun Chakraborty. Der Film war irgendwie in ein Moskauer Filmfestival gerutscht und in dessen Verlauf so beliebt und
erfolgreich beim Publikum, dass er am Ende in einem
10.000-Plätze-Kino gezeigt wurde. Der Rest ist Geschichte. Die
Geschichte eines Films, den man lieben muss. Oder zumindest
bewundern! Und sei es auch nur wegen des großen Verdienstes, die Symptome der gefährlichen Musikerkrankheit Gitarrenphobie so präzise dargestellt zu haben.