In NIRMALA (1938) von Franz Osten steht die kinderliebe junge Frau Nirmala im Mittelpunkt. Gespielt wird sie von Devika Rani. Passend zu ihrem Namen als Filmtitel, auf Deutsch „Die Unberührte“ oder „Die Tugendhafte“, ist das poetischste Bild des Films eines von ihr und einer Freundin, die inmitten von weißen Blumen auf einer Wiese sitzen. Und es sieht aus, als würde ein zarter Schleier über allem liegen. Die Handlung ist sehr einfach: Es geht um zwei normale, aber einschneidende Erlebnisse im Leben. Einmal das Zustandekommen einer Ehe und dann das Kinderkriegen. Beides ist in NIRMALA mit großen Komplikationen verbunden.
Es geht um zwei sehr schüchterne junge Menschen, deren Umgebung meint, dass sie füreinander bestimmt sind. Dass das so ist, hat etwas schicksalhaft Komödiantisches, denn sie sind jeweils die Besten ihrer jeweiligen Abschlussjahrgänge und mit genau den gleichen Durchschnittsnoten gemeinsam in der Zeitung gelandet. Die Mitschüler dieses jungen Mannes namens Ramdas, gespielt von Ashok Kumar, scherzen sofort, dass sie seine Frau werden muss. Doch aus Spaß wird Ernst. Und anders als in vielen anderen Filmen wird hier die Einmischung und Vermittlung besonders der Eltern als etwas Gutes gezeigt, denn ohne diese würden die beiden vermutlich nie zusammenkommen. Besonders Nirmalas Eltern grübeln, wollen das Richtige zu tun, aber Nirmala macht ihnen das Leben schwer, weil sie nicht sagt, was sie denkt. Schweigsam und fast märtyrerhaft rutscht sie statt dessen fast in eine Ehe mit einem für sie völlig ungeeigneten, gangsterhaften Mann.
NIRMALA beginnt mit einer wunderschönen Einstellung von Kameramann Josef Wirsching in den Prolog-Szenen, die die Kindheit Nirmalas und ihr hingebungsvolles Mamaspielen zeigen. Zuerst sieht man nur die rechte Seite eines leeren Kinderzimmers, angedeutet durch ein paar auf dem Boden liegende Spielsachen. Eine Frau singt im Off ein Wiegenlied. Ganz langsam bewegt die Kamera sich nach links und zeigt Kind und Mutter, gefilmt durch den durchsichtigen Stoff über dem kleinen Bett. Doch die Tochter denkt gar nicht daran, sofort zu schlafen. Ist die Mutter erst einmal gegangen, spielt die Kleine genau dieselbe Prozedur mit ihrer Puppe nach. Übrigens kann man rein technisch an dieser kleinen Szene auch deutlich sehen, welche Qualitätsstandards das Studio Bombay Talkies nicht nur inhaltlich, sondern auch durch sorgfältige Arbeit setzte. Denn wenn die Mutter leise aus dem Zimmer geht, weil sie denkt, dass die Tochter schläft, sieht man, dass dort, wo sich vorher die Kamera bewegte, jetzt eine Wand ist. Man filmt also nicht einfach theaterhaft in eine starre Kulisse hinein, sondern nutzt die ganzen 360 Grad des Zimmers, was besonders in dieser Szene dem Raum etwas Intimes, Geschütztes verleiht.
Als Nirmala erwachsen ist, wird öfter über ihre Kinderliebe gesprochen und was für eine großartige Mutter sie werden wird. Umso schlimmer und qualvoller gestaltet sich für sie der tatsächliche Prozess des Kinderkriegens. Es gibt eine Fehlgeburt und drei Jahre später eine Totgeburt. Was man von der Ehe zwischen ihr und Ramdas zu sehen bekommt, konzentriert sich auf eine ständige Verdüsterung und Verzweiflung. Ein Astrologe führt ihre Probleme zurück auf ein schlechtes Karma aus dem vorherigen Leben der Mutter des Bräutigams. Als Nirmala erneut schwanger ist, flieht sie daher – sich für das Kind und gegen den Mann entscheidend – in einer düsteren Gewitternacht aus dem Haus. Sie wird fälschlich für tot gehalten, während sie Aufnahme bei einer Bettlerin in einer Armensiedlung findet. Das wird ihre neue Ersatzfamilie. Doch dann verschwindet das Kind. Selbst diese tragische Wendung wird noch sozial und realistisch begründet. Denn Bettlerinnen mit Kind bekommen im Allgemeinen mehr Geld und daher hat sich eine Frau das Baby ausgeliehen. Als dann ein Mann kommt, um es ihr zur Adoption abzukaufen, kann sie nicht nein sagen.
Der so einfache, relativ handlungsarme und unspektakuläre Realismus von NIRMALA wird jeweils am Ende der beiden Hälften des Films durch den publikumswirksamen Griff in die Melodrama-Trickkiste der wilden Verwicklungen und der quasi-religiösen Wunder gewürzt. Die Hochzeit bekommt in echter Räuberpistolen-Manier plötzlich einen Spannungsmoment durch die Entführung des Bräutigams und die Tatsache, dass dieses astrologisch günstige Datum von der Braut jetzt unbedingt genutzt werden muss. Der verschmähte und böse Ex-Verlobte steht bereit. Und so ist es auch ganz am Ende, als die gesamte Familie nach langer, langer Zeit wieder zusammenkommt. Astrologie spielt eine große Rolle in NIRMALA, was ein ganz und gar realistisches, den indischen Alltag wiedergebendes Element ist. Die Sterne können mitunter düster über den Menschen hängen, aber Gott hilft ihnen dann doch aus den Problemen hinaus.