Es ist ein ebenso traurig realer wie seltsam surrealer Beginn. In der ersten Sequenz von Mari Selvarajs Tamil-Film KARNAN (2021) mit Dhanush in der Hauptrolle liegt ein junges Mädchen mitten auf der Straße und hat etwas, was wie ein epileptischer Anfall aussieht. Die Autos rasen links und rechts gefährlich nahe vorbei. Niemand hält, auch kein Bus. Die Kamera geht senkrecht nach oben, verliert sich in der extremen Vogelperspektive in Unschärfe, um die inzwischen reglose Gestalt nach einiger Zeit wiederzufinden. Es geht wieder nach unten und dort liegt ein Wesen mit Göttinnenmaske. Von nun an ist die Tote eine Mischung aus schützendem Dorfgeist und zur Rache anfeuernder Dorfgöttin, die immer wieder zu sehen ist und wie aus dem Nichts aus dem Untergrund auftaucht. So beschert sie ihrem Großvater eine nächtliche Vision darüber, dass sie Geld für die Hochzeit der Schwester gesammelt und in der Hütte der Familie vergraben hat.
KARNAN ist Mari Selvarajs zweite Regiearbeit. Vorher war er Assistent bei Regisseur Ram. Das Regiedebüt PARIYERUM PERUMAL (2018) wurde vom neuen Produktionshaus des erfolgreichen Regiekollegen Pa. Ranjith produziert. Das Debüt war spannend, wirkte aber noch ein wenig angestrengt und konstruiert, etwas zu direkt in seiner Botschaft. Der soziale Realismus von KARNAN hingegen wird mit der toten Schwester gleich eingebettet in einen mythischen Kontext. Dazu kommt das Visuelle: sehr viele Totalen, Zeitraffer der Wolken, Aufnahmen gegen die Sonne, besonders Steinhügel im Gegenlicht. All das verwandelt die Gegend immer wieder in eine ewig, unerschütterlich wirkende und Kraft spendende Landschaft.
Neben dem Mythischen steht das Archaische: Mit dem „Karnan“-Lied folgt am Anfang des Films eine zweite Sequenz, die die Grundprinzipien des Films stimmungsmäßig festlegt. Es ist ein rhythmisches Rebellenlied vor dunklem, nachtschwarzem Hintergrund, erleuchtet durch Fackeln in zeitloser, archaischer Ästhetik. Man sieht von Karnan sowohl Zeitungsfoto als auch eine Rauchzeichnung auf Felswand, wie eine moderne Steinzeitmalerei. Dazwischen Großaufnahmen der Schauspieler und der Rhythmusgruppe hoch oben auf einem Felsen. Im Anschluss daran wird ein Gefangener in einem Bus von Polizisten zusammengeschlagen. Dabei kann es sich nur um den besungenen Rebellenhelden Karnan handeln.
Es folgt eine lange Rückblende, Hauptteil des Films, eingeleitet mit der ungefähren Zeitangabe „vor 1997“. Es geht um ein abgelegenes Dorf, das an der nächst gelegenen Hauptstraße, zu der man durch die Felder gelangt, keine eigene Bushaltestelle hat. Man ist gezwungen, entweder lange auf eine Mitfahrgelegenheit zu warten oder zum größeren Nachbardorf zu gehen, wo man aber schnell tyrannisiert und gedemütigt wird. Überhaupt will man beim großen Nachbarn das ganze unterkastige Dorf weiter von sich abhängig und dadurch entwicklungsunfähig halten. Zum eigenen Vorteil natürlich. Und obwohl die Dorfbewohner von Hinz zu Kunz gelaufen, Eingabe um Eingabe gemacht haben, bekommen sie keine Haltestelle. Das bringt beispielsweise Probleme für regelmäßigen Schulgang, besonders für Mädchen, die im Nachbardorf besonders leicht belästigt und bedrängt werden. Hauptperson ist der, von Dhanush gespielte, nicht übertrieben viel arbeitende Karnan, der einen Hang zu Wutausbrüchen hat und sich nichts gefallen lassen will. Das stößt bei vielen der Dorfbwohner, die Angst um den erreichten Status quo haben, auf Widerstand, bis alle begreifen, dass es die einzige Möglichkeit ist, nicht in alle Ewigkeit auf demselben Stand festgefroren zu bleiben, während die Welt draußen sich verändert. Nach und nach reißt er die anderen mit im Kampf gegen die Unterdrückung.
Der Beginn des Kampfes wird symbolisiert durch Karnans Erfolg in einem alten Ritual, wo er über einem Teich, im Sprung, einen Fisch genau in der Mitte mit einem Schwert zerteilt. Dieses Ritual war schon fast aus der Mode gekommen. Damit gewinnt er auch das Schwert und, ohne es zu ahnen, Verantwortung. Aus dem Spiel wird Ernst. Dhanush macht diese allmähliche Änderung Karnans subtil natürlich, ohne künstlichen Heroismus deutlich. Aber nicht alles ist Kampf hier. KARNAN ist auch ein sehr schöner Film über ein Dorf mit vielen Figuren und einigen sehr energischen Frauen. Karnan ist viel mit dem Großvater unterwegs, der ihn in seinen Ausbrüchen immer beruhigen will. Da gibt es nebenbei kleine berührende Szenen, wie die zwischen Großvater und Schwägerin, die immer darauf gewartet hat, dass er sie, nach dem Tod der Schwester, heiratet. Oder eine Beerdigung, wo der Großvater plötzlich bei einem heiteren Tanzlied in eine Klage über den Choleratod seiner Frau vor 30 Jahren umschlägt. Und Karnan bekommt eine Freundin, obwohl er mit dem zukünftigen Schwager ständig im Streit liegt.
Zum Dorf gehören aber auch die Tiere. War in PARIYERUM PERUMAL die Hundesymbolik etwas zu überdeutlich, geht Selvaraj hier subtiler zu Werk. Die Tiere sind auch sehr konkret und nicht nur reduziert auf Symbolcharakter. Sie sind Teil des Alltags. Manchmal beobachtet Selvaraj sie wie zufällig. Wie die Katze, die durch alle kaum denkbaren und undenkbaren Öffnungen schleicht. Oder der Hund, der immer irgendwie im Bild ist. Das Füttern der Tiere, der Schweine, der Kühe. Nur ein Esel ist hier das eindeutige Symboltier. Dessen Vorderbeine sind zusammengebunden, damit er nicht weit laufen kann, und der immer sehr verloren wirkend durch die Gegend schleicht. Karnan löst schließlich die Fesseln des Tieres als Vorbereitung auf die wütende Zerstörung eines Busses, was den Beginn der Rebellion darstellt und am Ende zu einem Kampf auf Leben und Tod, um Zerstörung oder Weiterexistenz wird. KARNAN ist auch eine Geschichte über dörfliche Solidarität in der Stunde der Not, über Opfermut bis zum Tod. Wobei das Tragische darin liegt, dass das alles überhaupt nötig ist.
Was den Film durchzieht, sind die Parallelen zum Epos der Mahabharata. Karnan ist dort der Sohn des Sonnengottes, wächst aber bei einem einfachen Ehepaar auf und gehört zur unteren Kaste. Er schafft es zwar nach oben, bekommt sogar ein Königreich zugeteilt, und dennoch hat er nicht alle Rechte. So wird ihm der Unterricht im Bogenschießen verwehrt. Man kann, wenn man will, nach konkreten inhaltlichen Parallelen suchen, aber entscheidend sind hier vor allem die abstrakten Bezüge und eine Art Anti-Epik. Denn die letzte Eskalationsstufe des Krieges mit der Staatsmacht findet nicht mehr statt wegen der Bushaltestelle, sondern weil der befehlshabende Polizist wütend ist über die königlichen Namen aus den Epen und die selbstbewusste Haltung der Bewohner. Auf der Wache schlägt er alte Männer halbtot. Es folgt die von Karnan angeführte Verwüstung der Polizeistation und die Befreiung der Schwerverletzten. Im Schlusskampf reitet Karnan mit dem Schwert in der Hand ins Dorf hinein. Das ist Epik, neu erzählt, von unten sozusagen.