Dieses Blog durchsuchen

Dienstag, 8. Oktober 2019

Yashaswini Raghunandans THAT CLOUD NEVER LEFT – Ein Spielzeugfilm

© Yashaswini Raghunandan (Quelle: Filmfest Hamburg)

Ein abgelegenes bengalisches Dorf, in dem es ohne Mondschein so dunkel ist wie in keinem Kino der Welt mit Notausgangsleuchten. Dafür ist es nie wirklich still, denn die großen und kleinen Tiere des umliegenden Dschungels produzieren ein ständiges Geräusch, das man übrigens während des Nachspanns in ordentlicher Lautstärke ungestört genießen kann. Und wenn am Ende des knapp einstündigen Films THAT CLOUD NEVER LEFT (2019) dann nur dieses Dschungelgeräusch bleibt, dann wird gewissermaßen auf eine abstrakte Weise das Prinzip nachgeahmt, das hier im Mittelpunkt stand: die Verarbeitung und Reduzierung von Film-Zelluloid, des physischen Materials eines ursprünglich zum Gucken bestimmten Kinofilms, hin zu einem reinen Geräusch, einem im Übrigen nicht sehr subtilen Geräusch, hervorgerufen mit Hilfe eines amüsanten Krachspielzeugs. Dieses in dem Dorf mit Handarbeit hergestellte Bambusspielzeug, das von umherziehenden Verkäufern in indischen Städten verkauft wird, war auch für Regisseurin Yashaswini Raghunandan der rein praktische Ausgangspunkt der Entstehung ihrer poetisch-informativen Mischung aus Dokumentation, Fiktion und Installation, die ich auf dem Filmfest Hamburg 2019 gesehen habe.

„Kyatketi“ heißt das Spielzeug, wie Raghunandan in Interviews verrät. Das ist ein Wort, das bei Google, geschrieben mit lateinischen Buchstaben, nur im Zusammenhang mit diesem Film auftaucht. Im Laufe des Films sieht man die Arbeitsschritte: Männer im Wald beim Auswählen geeigneter Bambusstämme, deren Zerkleinerung bis zu kleinen Stäben, dann deren Färbung und die Kleinarbeit, was dann wohl meist Frauensache ist. Konkret werden alte Zelluloidstreifen in Stücke geschnitten, in Einzelbilder sozusagen, gefaltet und an den Stäben eines kleinen Rads befestigt, sodass es beim Drehen ein Geräusch ergibt, wenn die Stücke ein Hindernis streifen. Wir sehen auch andere Materialien für andere Handarbeiten. Im Mittelpunkt steht also zunächst einmal die Arbeit. Man bekommt aber auch kleine Einblicke in den Alltag, wie eine Diskussion um Geld oder das Nichtstun bei heftigem Regen.

Gleichzeitig ist THAT CLOUD NEVER LEFT auf eine fast beiläufige, unaufdringliche Weise ein Film übers Sehen, die Freude der Menschen am Gucken und vor allem das Bedürfnis, die Welt einfach anders, mit anderen Augen zu sehen, als man sie normalerweise sieht. Man hält rote Folie vor die Augen, schon hat man einen visuellen Effekt. „Die Welt sieht so anders aus.“, sagt jemand als Reaktion auf die rosarote Färbung des Bildes vor seinen Augen. Und dann ist da, wie überall, wo es ein bisschen Strom gibt, der Blick auf den Fernseher, oft weiter oben angebracht, sodass man ihn von überall im Raum aus sehen kann. Das ist derselbe Blick nach oben wie der auf den Mond, der sich bald verfinstern soll. Und alle sind gespannt auf den angekündigten Blutmond. Sogar ein Gerüst wird zur Beobachtung gebaut. Und Kinder haben ihre ganz eigene Art, sich die Welt zu machen, wie sie ihnen gefällt, wenn ein paar Jungs hier einen Rubin suchen und dabei die abenteuerlichsten Theorien über dessen Verbleib aufstellen. Einmal sieht man einen Vater seinen Jungen ermahnen, dass er den Rubin vergessen und sich lieber auf die Schule konzentrieren solle. Erwachsenen tun gerne so, als seien sie vernünftig.

Und immer wieder zwischendurch gibt es Montagesequenzen von Einzelbildern des sich zersetzenden, verwüsteten Zelluloids. Manchmal kann man noch die ursprünglichen Spielfilmbilder, manchmal nur Andeutungen davon erkennen. Auch der Familie, die das Spielzeug herstellt, werden diese Bilder auf einem Fernseher gezeigt, sozusagen die verborgene Wirklichkeit ihres Arbeitsmaterials, das sich ja ironischerweise immer noch dreht, so wie es sich als Teil der Filmrolle während der Projektion gedreht hat. Das ist eine Art künstlerische Installation für den Hausgebrauch, was wiederum dokumentarisch gefilmt wird. Dazu erklingen alte Filmsongs, wie „Jahne Vo Kaise“ aus dem Guru-Dutt-Film PYAASA, was aber jetzt mit seiner Thematik des armen Poeten wenig mit dem Film zu tun hat. Es geht wohl eher um ein allgemeines Gefühl der Nostalgie. Worüber ich mir nicht ganz klar bin, ist, wo die Musik genau herkommt, ob sie direkt über die im TV gezeigten Bilder gelegt wurde oder ob sie nur die Filmmusik des Films THAT CLOUD NEVER LEFT ist. Ganz am Ende des Films schiebt sich eine Wolke vor den Mond, und der Film ist aus: Die Wolke ging nie weg. Vielleicht nicht unbedingt für die Dorfbewohner, aber für den Filmzuschauer, dem der Blick auf den Blutmond verwehrt bleibt. Und abseits all der verschiedenen Ebenen, unter denen man den Film sehen, betrachten, beschreiben kann, ist seine größte und primäre Qualität seine Verspieltheit, wodurch er nicht nur schön anzugucken, sondern ganz einfach unterhaltsam ist.

Dass in den Slums der Großstädte wie Kalkutta und Mumbai solche ideenreichen Handarbeiten, oft unter Verwendung von auf diese Weise recyceltem Müll, angefertigt werden, ist bekannt. Dass das auch auf dem Land geschieht, wusste ich nicht. Und so ist THAT CLOUD NEVER LEFT tatsächlich auch ein Stück reine Information, Aufklärung über die Situation auf dem Land in Indien. Und da kommt der Produzent des Films ins Spiel, als der das „People's Archive of Rural India“ (PARI) angegeben wird, einem digitalen Archiv aus Texten, Videos, Musik mit eigener Website. Ob Videos zu spezielleren Fällen wie einem lebensgefährlichen Schulweg, weil eine Brücke nicht erneuert wird, oder durch Tiger verwitwete Frauen bis zu den leider üblichen und nötigen Bauernprotesten wegen zu niedriger Gewinne. Sehr interessant. Und empfehlenswert.
 © Yashaswini Raghunandan (Quelle: Filmfest Hamburg)