BAAZIGAR (1993) war sehr
erfolgreich und bedeutete den Durchbruch für Shah Rukh Khan. Aber
ich habe den Eindruck, dass diese Regiearbeit von Abbas-Mustan –
wohinter sich die Burmawalla-Brüder Abbas und Mustan verbergen –
zumindest hier bei uns nicht den Status hat, den sie verdient. Im
Gegensatz zu dem im selben Jahr entstandenen und nur einen Monat
später uraufgeführten DARR von Yash Chopra, wo Khan einen im
wahrsten Sinne des Wortes irre verliebten Stalker spielt, sodass der
Film zumindest eine Brücke bildet zu den folgenden romantischen
Rollen bei Yash und Aditya Chopra sowie Karan Johar. Es sind ja diese
Rollen, die die Grundlage von Shah Rukh Khans Bekanntheit und seiner
Fangemeinde bilden. Dabei ist er tatsächlich am besten, wenn seine
Rollen eine gewisse Ambivalenz haben. In BAAZIGAR allerdings tun sich
einfach nur tiefe Abgründe auf. Bei Amitabh Bachchan in den 70ern
war die Reaktion auf erlittenes Unrecht Wut gewesen, die allerdings
das Leid des Einzelnen auf eine allgemeine gesellschaftliche Ebene
hob, weil es symptomatisch für die allgemeinen Zustände war. Der
„angry young man“ war ein Kämpfer für Gerechtigkeit. In
BAAZIGAR wird dieser Rachefeldzug individualisiert. Die Hauptfigur
ist zwar auch ein wütender junger Mann, aber er ist es auf durch und
durch individualistische, psychopathische Weise.
Der Film verbindet das
alte Hindi-Kino mit modernem Pop-Glamour. Mit seiner Geschichte
knüpft er an alle Filme an, die sich von dem großen Rachefilm
SILSILA (1978) von Yash Chopra haben inspirieren lassen. Der Sohn
einer verlassenen Mutter zerstört planmäßig die neue Familie und
das Geschäft des Vaters. Es sind Vater-Sohn-Konflikte, die oft in
den von Javed Akhtar und Salim Khan – kurz Salim-Javed –
geschriebenen Filmen vorherrschen. Dafür interessiert sich BAAZIGAR
nicht. Der Geschäftsmann, der vernichtet werden soll, ist einfach
ein Angestellter des Vaters gewesen, der jenem geholfen hat und der
dann so dumm war, bei längerer Abwesenheit eine Handlungsvollmacht
auszustellen. Die Familie verliert alles und lebt arm in einer Hütte.
Vater und Baby sind krank. Beide sterben gleichzeitig in einer
verregneten Nacht. Die Mutter wird davon wahnsinnig. Der kleine Sohn
muss sich und seinen Verstand zusammenreißen, die Mutter
durchbringen, aber in ihm ist etwas zerbrochen. Herangewachsen ist er
ganz von Rache besessen, um dem bösen Madan Chopra dasselbe und
Schlimmeres anzutun.
Und statt Vater-Sohn
stehen hier die Liebesgeschichten zu den beiden Schwestern des
Bösewichts im Mittelpunkt, auch wenn die Zuneigung zunächst nur ein
vorgegaukeltes Mittel zum Zweck ist. Zuerst ist da die jüngere
Schwester in Gestalt von Shilpa Shetty. Ganz am Anfang des Films gibt
es ein schönes Liebeslied, witzig visualisiert. Shah Rukh Khan ist
der junge, arbeitslose Büchernarr Ajay, dem das Mädchen das Buch
wegnimmt. Und so tanzen sie, wie es sich gehört, um einen Baum und
durch den Garten. Alles sehr schön, zumindest, wenn man es das erste
Mal guckt und noch nicht wissen sollte, dass er sie gar nicht lange
später vom Hochhausdach des Standesamtes, wo gleich geheiratet
werden sollte, wirft. Und er stößt nicht einfach. Nein, er setzt
sie trotz ihrer Höhenangst auf die Brüstungsmauer, bückt sich,
fasst ihre Füße, guckt nett zu ihr hoch, und dann hebelt er sie aus
dem Gleichgewicht, sodass sie rücklings tödlich in die Tiefe
stürzt. Und so wird das Liebeslied vom Anfang zur Lüge. Und das
Unglaubliche an diesem Film, der dadurch tatsächlich faszinierend
pervers wird, ist die unglaubliche Sympathie für den Mörder. Das
liegt nicht nur daran, dass wir wissen, warum er so ist, dass seine
Taten durch Rückblenden nach und nach immer mehr motiviert werden.
Ajay ist vor allem böse, weil er mehr fühlt als die anderen, auch
weil er ganz und gar durchdrungen ist vom Leid der Mutter, um die er
sich kümmert. Es ist ganz einfach der charmante Hauptdarsteller Shah
Rukh Khan, der damit ein neues Kapitel Bollywood aufschlug. Es sind
die Gefühle, die bei ihm so echt und authentisch wirken. Das Mädchen
zu töten bereitet Ajay kein Vergnügen, es ist eine kalkulierte
Notwendigkeit auf seiner Reise der Rache. Und auf die nimmt der Film
den Zuschauer mit. Aber gar nicht Ajay als Mörder ist der wirklich
Böse, sondern der Vater, der wegen der Familienehre keine weiteren
Nachforschungen über den Tod der Tochter will, die ohne seine
Zustimmung zu heiraten beabsichtigte.
Trotz aller Sympathie ist Ajay ein
echter Psychopath, der mit seinem Spiegelbild redet. Bei einem Mord
ist die Kamera ganz nah an ihm dran und man sieht, wie er schwitzt,
während er ihr die Kehle zuschnürt. Am besten ist der Film in
solchen Ausbrüchen. Die Rückblende im starken Regen, als sowohl der
Vater als auch das Baby sterben. Der Abschlusskampf, wo Ajay von
einem Metallstab durchbohrt wird. Der Böse steht siegessicher vor
ihm, da schaut Ajay auf, lächelt, grinst und fängt an zu lachen.
Dann rammt er den Stab, der in seinem Körper steckt, in den Feind
und reißt ihn mit in den den Tod von einem hohen Turm. BAAZIGAR ist
ein Film ohne Triumph. Die Mutter ist am Ende wieder reich und hat
ihren Verstand wieder, aber ihr Sohn stirbt in ihren Armen. Es ist
der ewige Kreislauf, denn es ist eine treffende Pointe, dass schon
der erste Diebstahl des Unternehmens eine ganz bewusste Rache für
eine Anzeige bei der Polizei mit anschließenden drei Jahren
Gefängnis war. Symbolisiert wird dies durch den Drehstuhl, den Ajay
im Chefbüro sich drehen lässt und der die Rückblende des legalen
Raubs einleitet und beendet.
Im normalen Vorspann
taucht Shah Rukh Khan gar nicht auf. Aber dann sieht man ihn als
Erwachsenen. Und als er eine Münze im Gras findet und in die Luft
wirft, friert das Bild ein und es werden erst der Filmtitel und dann
groß sein Name eingeblendet. So wurde ein Star geboren. Dass Anil
Kapoor und Salman Khan die Rolle ablehnten, war von ihnen eine
richtige Entscheidung. Denn das, was Shah Rukh Khan voller Freude mit
der Rolle macht, hätten sie, bei allem Respekt, nicht gekonnt. Eine andere filmhistorische Besonderheit ist, dass BAAZIGAR die
Paarung aus Kajol, die die ältere Schwester spielt, und Shah Rukh
Khan begründete. Und man sieht hier auch schon sehr gut, warum sie
so oft zusammen gespielt haben. Der emotionale Khan kann ganz gut
eine Partnerin gebrauchen, die etwas Energisches, Burschikoses haben
kann. Karan Johar hat das gut eingesetzt in KUCH KUCH HOTA HAI
(1998), wo Kajol am Anfang ein echter Tomboy ist, dem Rani Mukherjee
erst einmal mädchenhaftes Verhalten beibringen muss.
Jetzt soll aber bloß
keiner denken, das Ganze wäre ein stringenter Thriller, ein
glamouröser Film mit ausschließlich inhaltlichem bösen Noir. Denn
es gibt, wie es sich gehört, eine gehörige Portion Comedy. Und die
ist zum größten Teil wirklich witzig. Das Schöne ist, dass Johnny
Lever als extrem vergesslicher Hausangestellter in die Story
integriert ist und sogar an einer wichtigen Pointe des Falles
beteiligt ist. Ansonsten ist es absurd-kindlicher Humor, wie ich ihn
heute oft vermisse. Da sind keine Teeblätter im Tee sondern Salz –
den Gästen schmeckt's, man ist ja bei Reichen und die machen das
wohl so. Auf der Party werden Gläser ohne Inhalt auf dem Tablett
angeboten und alle lehnen höflich an. Und dann soll ein Nagel falsch
herum in die Wand eingeschlagen werden, bis der verzweifelnde Johnny
darauf aufmerksam gemacht wird, dass der Nagel für die
gegenüberliegende Wand ist. Das versteht er – und geht zur
gegenüberliegenden Wand.