So ein Künstler hat es
nicht leicht. Da will man sich ganz auf die eigene Kunst
konzentrieren, sich auf einen wichtigen Wettbewerb vorbereiten, da
fährt einen plötzlich eine hübsche junge Frau auf dem Motorroller
an. Und weil man im Restaurant ihres Vaters einen Job bekommt, ist
als indirekte Folge davon dann auch noch das eigene Leben in Gefahr.
Aber andererseits macht es so ein Künstler der Welt ja auch nicht
leicht, hat spinnerte Ideen, ist nicht so leicht zu durchschauen.
Macht sich einfach als Experiment mit Haftschalen blind, um zu sehen,
ob er dann besser Klavier spielt und komponiert. Aber er nimmt die
Haftschalen raus, lässt die Umgebung wieder in sich hinein, um die hübsche junge Frau besser zu sehen, die ihn angefahren hat und die
glaubt, er wäre blind. Und vielleicht ist es Karma, eine
unvermeidliche Strafe, dass er bei einem Mord zusehen muss, wobei die
Täter glauben, er sähe nichts. Aber natürlich zweifeln die Mörder.
Sah er wirklich nichts? Und wer blind spielt, soll sich nicht
wundern, wenn er es plötzlich wirklich ist.
ANDHADHUN (2018) ist ein
entsetzlich komischer und spannender Thriller voller überraschender
Wendungen, und ist ganz und gar ein Werk seines Regisseurs Sriram
Raghavan. Es ist ein reines Vergnügen, das die Inszenierung
bereitet, die eine irreale Atmosphäre in einer ganz realen Umgebung
schafft. Und perfekt besetzt ist der Film. Allen voran Tabu als
mordlüsterne Ehebrecherin, die einfach nicht anders kann. Lady
Macbeth wird sie einmal genannt, was nur ein halber Witz ist, denn diese Rolle hat sie in Vishal Bhardwajs moderner Macbeth-Version MAQBOOL (2004) ja tatsächlich gespielt. Bei keinem anderen Regisseur könnte
man sich vorstellen, dass man Tabu mit Scream-Maske sehen könnte. Was
übrigens eine der Methoden ist, um zu überprüfen, ob der Blinde
wirklich blind ist oder sich erschreckt und damit verrät. Dann ist
da der bekannte Schauspieler Anil Dhawan als gealterter Star, der den
ganzen Tag seine Filme und die eigenen Videos auf YouTube guckt. Und
in der Hauptrolle Ayushmann Khurrana als Pianist zwischen Betrügen
und Opferdasein. Alle sind Teil einer zum Totlachen absurden Welt,
die keinen Sinn ergibt. Es ist eine Welt der Getriebenen, die sich
offenbart. Der Pianist wird zum Spielball der Kräfte, wo er doch
eigentlich nur Klavier spielen möchte. Aber jetzt ist er einer sex-,
mord- und geldgeilen Welt ausgeliefert, zu der er ja andererseits
irgendwie doch auch gehört, weil er Sex mit einem Mädchen hatte,
dem er nicht die Wahrheit über sich gesagt hat.
Aber ANDHADHUN verliert
trotz seiner Liebe zur Absurdität, zum Grotesken nie ein klassisches
Gleichgewicht. Das ist Raghavans Kunst. Da gibt es keinen Exzess um
des Exzesses willen. Keine skurrilen Ideen, nur weil sie skurril
sind. Alles bleibt klar und übersichtlich. Zwar stilistisch
innovativ und eigenwillig, stürzt der Film nie in die
Unüberschaubarkeit. Denn Raghavan ist ein demütiger Regisseur, der
niemandem beweisen will, wie cool und intelligent er ist. Es passiert
nicht zu viel auf einmal, das Bild ist nicht zu voll. Man schaue sich
die ganz einfach, in vielen Totalen gehaltenen Szenen an, in der
der Pianist am Klavier sitzt, während Ehemann und Geliebte sauber
machen und die Leiche in einen Koffer stopfen. Die Distanz und die
Ruhe erzeugen eine stille, anhaltende Spannung in einer endlos
scheinenden Szene. Da ist nichts, was künstlich Effekte erzeugt.
Raghavan überkalkuliert seinen Stil nicht. Immer ist Platz genug
zum Atmen. Auch die Gewalt wird dosiert, sodass sie ihre Wirkung
nicht verliert.
Sriram Raghavan ist einer
der wenigen Stilisten in Bollywood. Den „indischen Tarantino“ hat
ihn Varun Dhawan mal genannt, wegen seines Hangs zur
Thriller-Grotesken, zur Ironie, aber vor allem zu alten Filmen, alter
Musik, seinen Zitaten und Verweisen. Aber solche Vergleiche helfen
keinem, und ich persönlich ziehe Raghavan vor, der nicht jahrelang
jedem erzählt, was für ein Genie er ist, bis die Journalisten es
glauben. Und überhaupt ist Tarantino vor allem Dialogschreiber und Dramatiker. Bei Raghavan herrscht das Visuelle vor Bisher hat er fünf Spielfilme gemacht, und keiner ähnelt
dem anderen. Sein erster Film EK HASINA THI (2004) war eine Ram-Gopal-Varma-Produktion, ist also ein bisschen ein Film von beiden. Im dritten, AGENT VINOD (2012)
passte er sich mit Saif Ali Khan etwas zu sehr Mainstream-Bollywood
an, sodass das Ganze gut, aber eben nicht besonders wurde. Seine
besten und persönlichen Filme sind JOHNNY GADDAAR (2007), BADLAPUR
(2015) und eben ANDHADHUN. Seit zwei Filmen scheint er jetzt also
ganz und gar seinen Weg gefunden zu haben. Und Bollywood hat sich ja
in den letzten zehn Jahren so weit verändert, dass Stars sich an
Projekte wie seine anpassen. Auch Ayushmann Khurrana hat wohl von
sich aus Raghavan kontaktiert. Vermutlich hat er Varun Dhawan in
BADLAPUR gesehen und war direkt ein bisschen neidisch. BADLAPUR war
ein heftiger Rachefilm, der zwar seine absurden Momente hatte, die
aber überhaupt nicht komisch waren. Die Hauptfigur in BADLAPUR war
besessen von seiner persönlichen Tragödie und seiner Rache. Jetzt
geht es um einen passiven Menschen, der allerdings besessen ist von
seiner Musik, die wichtiger ist als alles andere.
Und während Retro-Musik
in JOHNNY GADDAR ständig präsent war, so hat Raghavan jetzt einen
Film direkt über Musik gedreht. Und ein Teil des Erfolges ist auch
der Soundtrack mit neuen Liedern, komponiert von Amit Trivedi,
darunter die heitere Tanznummer „Laila Laila“. Aber auch die
Hintergrundmusik mit ihrem spannend-ironischen Krimisound ist
gelungen. Und ich wiederhole gerne immer wieder, dass Amit Trivedi
der beste zeitgenössische Bollywood-Komponist ist. Die Art, wie er
Altes und Moderne, Indisches und Westliches verbindet, und das ganze
mit schönen Melodien und glasklaren, einfallsreichen Arrangements
präsentiert, sollte eigentlich auch bei uns sehr gemocht werden. Wiedererkennungswert haben sein
Stil, seine Methode, aber nicht unbedingt die Musik direkt.
Und
es kommt immer wieder Neues von ihm, weil er so lernfähig ist und alles in sich aufsaugen kann und zu Eigenem verarbeitet. Beispielsweise hatte er vor der Komposition des brillanten
Soundtracks zu Anurag Kashyaps brutal unterbewertetem Meisterwerk
BOMBAY VELVET (2015) keine Ahnung von Jazz.
Inspiriert wurde
ANDHADHUN übrigens von Olivier Treiners französischem Kurzfilm „L'Accordeur de
Piano“, bekannt unter dem englischen Titel “The Piano Tuner“
(2010), der natürlich durch seine 13 Minuten alles sehr verdichtet
und durch den Schnitt auf konzentrierte Spannung und Überraschung
setzt, etwa wenn der Klavierstimmer beim Hereinkommen in eine Wohnung
auf Blut auf dem Boden ausrutscht und rot verschmiert ist.
Währenddessen sitzt die Leiche, gut zu sehen, auf dem Sofa. Das ist die Schlüselszene, die in ANDHADHUN übernommen wurde. Aber Raghavan zeigt die Leiche nicht. Erst nach kurzer Zeit sieht der
Pianist in ANDHADHUN Beine hinter einer Wand hervorragen. Und das,
was man für Blut gehalten hat, durch das er danach läuft und
Fußspuren hinterlässt, ist kein Blut, sondern tatsächlich Wein.
Aber beide Männer spielen Klavier um ihr Leben, in der Hoffnung, die
blinde Maskerade aufrechterhalten zu können. Überhaupt das Klavier.
Ein Klavier in einem Bollywood-Film heutzutage ist auch ein Stück
Retrokultur. Denn das Klavier war mal das meist repräsentierte
Klavier der höheren Gesellschaft im Hindifilm. Während des
Nachspanns von ANDHADHUN läuft ein schönes Video mit
zusammengeschnittenen, kurzen Filmmomenten mit all den alten Stars am
Klavier, während sie zu einem der großen Playbacksänger oder zu einer Playbacksängerin die Lippen bewegen. Auf dem Klavier in der Wohnung des Pianisten steht übrigens ein
Bild von Kishore Kumar. Von wem auch sonst?