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Freitag, 8. Februar 2019

Sriram Raghavans ANDHADHUN – Der Blinde sieht alles

So ein Künstler hat es nicht leicht. Da will man sich ganz auf die eigene Kunst konzentrieren, sich auf einen wichtigen Wettbewerb vorbereiten, da fährt einen plötzlich eine hübsche junge Frau auf dem Motorroller an. Und weil man im Restaurant ihres Vaters einen Job bekommt, ist als indirekte Folge davon dann auch noch das eigene Leben in Gefahr. Aber andererseits macht es so ein Künstler der Welt ja auch nicht leicht, hat spinnerte Ideen, ist nicht so leicht zu durchschauen. Macht sich einfach als Experiment mit Haftschalen blind, um zu sehen, ob er dann besser Klavier spielt und komponiert. Aber er nimmt die Haftschalen raus, lässt die Umgebung wieder in sich hinein, um die hübsche junge Frau besser zu sehen, die ihn angefahren hat und die glaubt, er wäre blind. Und vielleicht ist es Karma, eine unvermeidliche Strafe, dass er bei einem Mord zusehen muss, wobei die Täter glauben, er sähe nichts. Aber natürlich zweifeln die Mörder. Sah er wirklich nichts? Und wer blind spielt, soll sich nicht wundern, wenn er es plötzlich wirklich ist.

ANDHADHUN (2018) ist ein entsetzlich komischer und spannender Thriller voller überraschender Wendungen, und ist ganz und gar ein Werk seines Regisseurs Sriram Raghavan. Es ist ein reines Vergnügen, das die Inszenierung bereitet, die eine irreale Atmosphäre in einer ganz realen Umgebung schafft. Und perfekt besetzt ist der Film. Allen voran Tabu als mordlüsterne Ehebrecherin, die einfach nicht anders kann. Lady Macbeth wird sie einmal genannt, was nur ein halber Witz ist, denn diese Rolle hat sie in Vishal Bhardwajs moderner Macbeth-Version MAQBOOL (2004) ja tatsächlich gespielt. Bei keinem anderen Regisseur könnte man sich vorstellen, dass man Tabu mit Scream-Maske sehen könnte. Was übrigens eine der Methoden ist, um zu überprüfen, ob der Blinde wirklich blind ist oder sich erschreckt und damit verrät. Dann ist da der bekannte Schauspieler Anil Dhawan als gealterter Star, der den ganzen Tag seine Filme und die eigenen Videos auf YouTube guckt. Und in der Hauptrolle Ayushmann Khurrana als Pianist zwischen Betrügen und Opferdasein. Alle sind Teil einer zum Totlachen absurden Welt, die keinen Sinn ergibt. Es ist eine Welt der Getriebenen, die sich offenbart. Der Pianist wird zum Spielball der Kräfte, wo er doch eigentlich nur Klavier spielen möchte. Aber jetzt ist er einer sex-, mord- und geldgeilen Welt ausgeliefert, zu der er ja andererseits irgendwie doch auch gehört, weil er Sex mit einem Mädchen hatte, dem er nicht die Wahrheit über sich gesagt hat.

Aber ANDHADHUN verliert trotz seiner Liebe zur Absurdität, zum Grotesken nie ein klassisches Gleichgewicht. Das ist Raghavans Kunst. Da gibt es keinen Exzess um des Exzesses willen. Keine skurrilen Ideen, nur weil sie skurril sind. Alles bleibt klar und übersichtlich. Zwar stilistisch innovativ und eigenwillig, stürzt der Film nie in die Unüberschaubarkeit. Denn Raghavan ist ein demütiger Regisseur, der niemandem beweisen will, wie cool und intelligent er ist. Es passiert nicht zu viel auf einmal, das Bild ist nicht zu voll. Man schaue sich die ganz einfach, in vielen Totalen gehaltenen Szenen an, in der der Pianist am Klavier sitzt, während Ehemann und Geliebte sauber machen und die Leiche in einen Koffer stopfen. Die Distanz und die Ruhe erzeugen eine stille, anhaltende Spannung in einer endlos scheinenden Szene. Da ist nichts, was künstlich Effekte erzeugt. Raghavan überkalkuliert seinen Stil nicht. Immer ist Platz genug zum Atmen. Auch die Gewalt wird dosiert, sodass sie ihre Wirkung nicht verliert.

Sriram Raghavan ist einer der wenigen Stilisten in Bollywood. Den „indischen Tarantino“ hat ihn Varun Dhawan mal genannt, wegen seines Hangs zur Thriller-Grotesken, zur Ironie, aber vor allem zu alten Filmen, alter Musik, seinen Zitaten und Verweisen. Aber solche Vergleiche helfen keinem, und ich persönlich ziehe Raghavan vor, der nicht jahrelang jedem erzählt, was für ein Genie er ist, bis die Journalisten es glauben. Und überhaupt ist Tarantino vor allem Dialogschreiber und Dramatiker. Bei Raghavan herrscht das Visuelle vor Bisher hat er fünf Spielfilme gemacht, und keiner ähnelt dem anderen. Sein erster Film EK HASINA THI (2004) war eine Ram-Gopal-Varma-Produktion, ist also ein bisschen ein Film von beiden. Im dritten, AGENT VINOD (2012) passte er sich mit Saif Ali Khan etwas zu sehr Mainstream-Bollywood an, sodass das Ganze gut, aber eben nicht besonders wurde. Seine besten und persönlichen Filme sind JOHNNY GADDAAR (2007), BADLAPUR (2015) und eben ANDHADHUN. Seit zwei Filmen scheint er jetzt also ganz und gar seinen Weg gefunden zu haben. Und Bollywood hat sich ja in den letzten zehn Jahren so weit verändert, dass Stars sich an Projekte wie seine anpassen. Auch Ayushmann Khurrana hat wohl von sich aus Raghavan kontaktiert. Vermutlich hat er Varun Dhawan in BADLAPUR gesehen und war direkt ein bisschen neidisch. BADLAPUR war ein heftiger Rachefilm, der zwar seine absurden Momente hatte, die aber überhaupt nicht komisch waren. Die Hauptfigur in BADLAPUR war besessen von seiner persönlichen Tragödie und seiner Rache. Jetzt geht es um einen passiven Menschen, der allerdings besessen ist von seiner Musik, die wichtiger ist als alles andere.

Und während Retro-Musik in JOHNNY GADDAR ständig präsent war, so hat Raghavan jetzt einen Film direkt über Musik gedreht. Und ein Teil des Erfolges ist auch der Soundtrack mit neuen Liedern, komponiert von Amit Trivedi, darunter die heitere Tanznummer „Laila Laila“. Aber auch die Hintergrundmusik mit ihrem spannend-ironischen Krimisound ist gelungen. Und ich wiederhole gerne immer wieder, dass Amit Trivedi der beste zeitgenössische Bollywood-Komponist ist. Die Art, wie er Altes und Moderne, Indisches und Westliches verbindet, und das ganze mit schönen Melodien und glasklaren, einfallsreichen Arrangements präsentiert, sollte eigentlich auch bei uns sehr gemocht werden. Wiedererkennungswert haben sein Stil, seine Methode, aber nicht unbedingt die Musik direkt. Und es kommt immer wieder Neues von ihm, weil er so lernfähig ist und alles in sich aufsaugen kann und zu Eigenem verarbeitet. Beispielsweise hatte er vor der Komposition des brillanten Soundtracks zu Anurag Kashyaps brutal unterbewertetem Meisterwerk BOMBAY VELVET (2015) keine Ahnung von Jazz.

Inspiriert wurde ANDHADHUN übrigens von Olivier Treiners französischem Kurzfilm „L'Accordeur de Piano“, bekannt unter dem englischen Titel “The Piano Tuner“ (2010), der natürlich durch seine 13 Minuten alles sehr verdichtet und durch den Schnitt auf konzentrierte Spannung und Überraschung setzt, etwa wenn der Klavierstimmer beim Hereinkommen in eine Wohnung auf Blut auf dem Boden ausrutscht und rot verschmiert ist. Währenddessen sitzt die Leiche, gut zu sehen, auf dem Sofa. Das ist die Schlüselszene, die in ANDHADHUN übernommen wurde.  Aber Raghavan zeigt die Leiche nicht. Erst nach kurzer Zeit sieht der Pianist in ANDHADHUN Beine hinter einer Wand hervorragen. Und das, was man für Blut gehalten hat, durch das er danach läuft und Fußspuren hinterlässt, ist kein Blut, sondern tatsächlich Wein. Aber beide Männer spielen Klavier um ihr Leben, in der Hoffnung, die blinde Maskerade aufrechterhalten zu können. Überhaupt das Klavier. Ein Klavier in einem Bollywood-Film heutzutage ist auch ein Stück Retrokultur. Denn das Klavier war mal das meist repräsentierte Klavier der höheren Gesellschaft im Hindifilm. Während des Nachspanns von ANDHADHUN läuft ein schönes Video mit zusammengeschnittenen, kurzen Filmmomenten mit all den alten Stars am Klavier, während sie zu einem der großen Playbacksänger oder zu einer Playbacksängerin die Lippen bewegen. Auf dem Klavier in der Wohnung des Pianisten steht übrigens ein Bild von Kishore Kumar. Von wem auch sonst?