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Freitag, 18. September 2020

Von PAGE 3 zu CALENDAR GIRLS – Die Glamourfilme von Madhur Bhandarkar

 

Endlich habe ich also CALENDAR GIRLS (2015) von Hindi-Regisseur Madhur Bhandarkar gesehen. 2015, als der Film in Indien im Kino anlief, plante ich schon scheinbar weitsichtig einen Artikel, aber der Film war so wenig erfolgreich bei Presse und Publikum, dass gar keine DVD herauskam, was vor fünf Jahren noch ungewöhnlich war, in Zeiten des Streamings für indische Filme aber bekanntlich völlig normal geworden ist. Aber das wäre ein Thema für einen gesonderten Blogbeitrag. Vor einiger Zeit also entdeckte ich CALENDAR GIRLS auf YouTube, sogar mit Untertiteln, und da ist er tatsächlich schon seit 2018 und hat mächtig viele Aufrufe, was natürlich nichts darüber sagt, wie viele Zuschauer ihn denn wirklich bis zum Ende geguckt haben.

Zumindest vorerst, zum jetzigen Zeitpunkt, erscheint CALENDAR GIRLS als Bhandarkars Abschluss einer Reihe von vier Filmen, die sich mit Frauen und Frauenberufen in der neuen indischen Glamourwelt beschäftigen. Zuvor gab es PAGE 3 (2005), FASHION (2008) und HEROINE (2012) – die Titel weisen ja schon ausreichend auf den Inhalt hin. Eine Welt, die so erst durch die wirtschaftliche Öffnung des Landes, die Erhöhung von Kaufkraft, den Import von westlichen Gütern seit der Liberalisierung der Wirtschaft in den 1990ern möglich wurde. Man schaue sich einmal den genialen Trash-Klassiker DISCO DANCER (1982) an, um zu sehen, wie man sich Glamour im alten Indien zusammenbasteln musste. Internationalisierung war eine der Liberalisierungs-Folgen, natürlich kam auch ausländisches Geld durch Investitionen in die indische Wirtschaft, so wie auch Bollywood-Filme mit fremdem Geld finanziert wurden. Aber trotz aller Modernisierung ist es eine Männerwelt, in der die weiblichen Hauptfiguren sich durchschlagen müssen, ob als Journalistin, Model, Schauspielerin.

Bhandarkar betrachtet diese Welten, eigentlich ja eine einzige große Welt, aus den verschiedensten Perspektiven, erzählt immer von vielen Personen gleichzeitig. Ein Kollektiv steht meist im Mittelpunkt oder die Heldin hat enge Freundinnen. Das Bemerkenswerteste der vier Filme liegt aber, unabhängig von der jeweiligen Qualität, darin, dass Bhandarkar nie zynisch wird. Das läge bei manchen Figuren, Schicksalen, Bereichen so nahe, aber er meidet es. Er zeigt zwar düstere Abgründe, beispielsweise in PAGE 3 einen pädophilen Unternehmer, der sich an den Schützlingen seiner Frau, die sich um ein Waisenhaus kümmert, vergeht. Das Böse wird bei Bhandarkar nicht sensationalistisch ausgeschlachtet, sicher auch einer der Gründe, warum die Filme so angenehm zu gucken sind. Das Motto „The show must go on“ gilt ohne Ausnahme.

Der Verzicht auf echte Schärfe nimmt dem Ganzen natürlich manchmal auch den Biss, und dann besteht durchaus die Gefahr, dass es seifenopernartig dahinplätschert. Dazu kommt, dass Bhandarkar mit persönlich-moralischer Kritik, nicht mit Systemkritik arbeitet. Wobei man anmerken muss, dass seine Filme im Vergleich zu anderen zeitgenössischen Bollywood-Produkten durchaus scharf wirkten. Sein Stil schwankt zwischen dicht, intensiv und analytisch einerseits und dem erwähnten sanften Dahinplätschern andererseits. Die richtige Mischung, der passende Rhythmus, der perfekte Schnitt entscheiden über den künstlerischen Erfolg, der unstreitig ungleich ist. Aber so kann Bhandarkar Gegensätze vereinen. Seine Filme bewegen sich völlig ungeniert und unverklemmt zwischen Exploitation und Anspruch, Glamour und Realismus, Schauwerten und Innerlichem, Seifenoper und Melodrama. Er versucht gar nicht erst, diese scheinbaren Widersprüche aufzulösen. Und vor allem sind es keine Anti-Glamour-Filme. Bhandarkar benutzt die bunte Bollywood-Ästhetik, hat ausreichend Musik, Songs, elegante Kleider, reiche schöne Menschen, dünn bekleidete Damen in seinen Filmen. Ungewöhnlich ist natürlich der gewisse Schuss Perversion.

Bhandarkar begann sein Eintauchen in die Glamourwelt mit PAGE 3. Hauptfigur ist eine Außenstehende, eine von Konkona Sen Sharma gespielte Klatschjournalistin, die für die „Seite drei“ einer Tageszeitung arbeitet. Und jeder will mit einem Foto auf diese Seite und ist nett zu ihr, als gehörte sie dazu. So bekommt sie einen Einblick in die Mumbai-High-Society-Welt aus Kapital, Politik und Bollywood. Ein großes künstliches, oberflächliches, absurdes Theater ohne jeden Wert an sich, vor allem aufgeführt für diese Klatschseite, heutzutage für das Internet. Bhandarkar zeigt all die internen Verflechtungen. Am Ende wendet sich die Journalistin ab. Es ist einfach zu verlogen und zu pervers. Und eigentlich wissen es alle. PAGE 3 ist nebenbei auch ein politischer Film, aber der Blick einer Klatschjournalistin steht nun mal im Mittelpunkt.

Dann folgte FASHION (2008) mit Priyanka Chopra. Der Film spielt natürlich mit Chopras eigenem Werdegang, weg vom Akademischen hin zum Modeln, nachdem sie im Jahre 2000 Miss World geworden war. Sie spielt ein selbstsicheres Model aus der Provinz auf dem Weg zum Erfolg. Ganz oben erwischt die böse Hybris sie. Sie fühlt sich unangreifbar und unersetzlich. Ganz unten angekommen, wagt sie den schwierigen Neuanfang. Die Welt der Mode wird nicht an sich denunziert. Bhandarkar zeigt viele nette Leute, auch Models, die sich untereinander helfen. Winding Refns Bitch-Models aus NEON DEMON (2016) sind hier weit weg. Das Problem der Hauptfigur liegt in ihr selbst. Der Film ist aber ein bisschen zu lang und dehnt die Probleme unnötig.

In HEROINE (2012) mit Kareena Kapoor geht Bhandarkar noch ein Stück weiter. Diesmal zeigt er eine Frau, die tatsächlich gestört ist, weil sie einen Job macht, der eigentlich nichts für sie ist. Filmheldin sein hat einen Selbstzweck, mehr nicht. Sie ist unsicher, besitzergreifend und greift zu jeder Waffe, die ihr helfen kann. Aber eigentlich ist sie ein ferngesteuertes Starkid. Die Mutter war schon Schauspielerin. Sie beißt sich durch, fällt tief, steigt wieder auf, verliert fast ihre Seele. Wie die Hauptfigur von PAGE 3 wendet sie sich am Ende ab, ihr Heldinnen-Ich hinter sich lassend. Vielleicht ist es der beste der vier Filme, weil es die Welt ist, die Bhandarkar am besten kennt.

Mit den Vorgängerfilmen verglichen ist CALENDAR GIRLS enttäuschend, denn hier herrscht am meisten die dahinplätschernde Seifenoper vor. Die Elemente der Handlung wirken teilweise wie brav zusammengefügte Standards. Eine Gruppe von Frauen, die Models für einen populären Jahreskalender, werden über ein Jahr hinweg begleitet. Ein Jahr, in dem sie etwas aus sich machen können, bis der nächste Kalender kommt und sie vergessen sein werden. Die Storys schwanken zwischen Erfolg, Scheitern und Tod. Aber der Film ist am schönsten, wenn er ironisch und komisch wird. Wenn der ganze Film diesen Ton hätte, wäre er großartig. Da ist die Wettbetrügerin, die durch eine Reality Show berühmt wird. Oder die angehende Schauspielerin, eine faszinierend  perfekte Karrieristin, die Bhandarkar – ja, er spielt sich hier selbst – geschickt ihre Verehrung ausspricht, die immer weiß, was sie sagen soll, wie sie nett sein soll, die sich Freunde machen kann, sodass jeder über sie sagt: „Die wird groß herauskommen.“ Aber es gibt in der Story eben auch das banal Vorhersehbare. Das Tragische lässt einen hier leider kalt. Und immer gilt: Zwar ist der Mensch auch Spielball der unvorhersehbaren Umstände, aber im Endeffekt sind es die eigenen Entscheidungen, die seinen Weg ausmachen. Trotz aller nackter Haut und unanständiger Geschichten ist Bhandarkars Kino im Kern sehr konservativ. Es ist moralisch, ohne moralisierend zu sein.